Der zweite Glückskeks

»Die Welt ist voll von kleinen Freuden - die Kunst besteht nur darin, sie zu sehen.«

Der nächste Tag war ein guter Tag. Ich hatte fast keine Schmerzen und somit die Chance, ein bisschen spazieren zu gehen.
Außerdem konnten meine Eltern mich erst am Nachmittag besuchen, was mir ein wenig Zeit für mich selbst, einbrachte. 

Sam lächelte mir zu, als ich in den Eingangsbereich des Krankenhauses kam. Sie war eine Frau mittleren Alters mit dem Aussehen einer Latina-Schönheit. Mit ihrer karamellfarbene Haut, den dunkelbraunen Augen und der wilden Lockenmähne, die ihr zartes Gesicht umrahmte, verdrehte sie auch so manchem Patienten den Kopf. Sam kannte ich von den hier arbeitenden Schwestern am längsten, weshalb sie all meine Launen bis ins kleinste Detail durchblickte und voraussagen konnte. 

Der Blick, den sie mir jetzt zuwarf, sagte so viel wie: "Zeit für dich?" und "Dir geht es gut?" in einem.
Ich blieb vor ihr stehen und schenkte ihr ein Lächeln.
Ihr, gerade ihr, war bewusst, wie selten ich lächelte. Sam strahlte nun über das ganze Gesicht und zog mich in ihre Arme.
"Genieß das Wetter für mich mit.", flüsterte sie mir zu.         
Ich nickte nur.

Zum Abschied, hob ich die Hand und drehte mich dann um.
Als ich durch die große Flügeltür, raus ins Freie trat, war es überraschend warm. An dem strahlend blauen Himmel waren nur vereinzelt Wolken zu entdecken.
Ich ging die Treppe, die zum Eingang führte, hinunter und bog nach rechts ab. In dem kleinen Park, der hier angelegt war, hielt ich mich am liebsten auf. Es war Mitte April, weshalb alles wunderschön blühte.

Auf einer kleinen Bank ließ ich mich nieder, schloss die Augen und genoss es, wie die Sonnenstrahlen meine Nasenspitze kitzelten .
"Heute ist schönes Wetter, was?", hörte ich da plötzlich eine nicht allzu unbekannte Stimme, neben mir.                                         
Dass ich beinahe laut aufgeschrien hätte, ließ ich mir nicht anmerken.
Ich öffnete die Augen und blinzelte. William hatte sich neben mich auf die Bank gesetzt, mit einem Buch in der Hand.                 

"Ja, heute ist schönes Wetter.", sagte ich.
William nickte und lächelte.
Ich wollte nicht, erst recht nicht vor ihm, doch ich konnte es nicht zurückhalten. Sein Lächeln war so ansteckend, dass ich spürte, wie meine Mundwinkel nach oben wanderten.
Kurz wich sein Lächeln einem überraschten Blick. Sofort versuchte ich wieder einen neutralen Blick aufzusetzen und sah auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen.                       
Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie Will seine eine Hand in meine Richtung bewegte.
Vorsichtig strich er mit dem Daumen über meinen Handrücken.
Diese kleine Berührung durchzuckte meinen ganzen Körper, dass ich für einen Moment vergaß, wie man atmete.      

Ich sah ihn an. Seine Augen ruhten auf meinen Händen, über die er nun auch mit den anderen Fingern strich. Es fühlte sich an, wie kleine Stromschläge, die er meiner Haut an diesen Stellen verpasste.
Mein Blick wanderte nun auch wieder zu unseren Händen, jedoch hob ich ihn wieder, als er in der Bewegung innehielt. Sofort zog ich meine Hände zurück.
Was war das gewesen?

"Entschuldige", sagte William und räusperte sich.
Ich schüttelte nur mit dem Kopf.
Zwischen uns machte sich Stille breit, jedoch empfand ich sie nicht als unangenehm.
"Du solltest öfter lächeln.", sagte William plötzlich.                      
Seine Worte waren so leise, dass ich mir nicht mal sicher war, ob er wirklich gesprochen hatte.
"Weshalb?", wollte ich wissen.       
"Weil du ein schönes Lächeln hast."

Verwirrt blickte ich ihn an, dann schüttelte ich den Kopf.
Meinen Blick wandte ich von ihm ab und ließ mir meine Haare ins Gesicht fallen.
Ich spürte, wie William eine Haarsträhne zwischen seine Finger nahm und sie mir hinter mein Ohr strich.
Mit meinen Augen sah ich in seine Richtung, ihn aber nicht direkt an.          
"Ist das das Buch, was du gestern gelesen hast?", wollte ich wissen und zeigte mit dem Finger auf das Buch, was auf seinem Schoß lag.
Er nickte.
Ich sah es mir näher an. Es hatte ein sehr kleines Format und die Gebrauchsspuren wiesen auf ein älteres Exemplar hin. Als ich den Titel las, hob ich meine Augenbrauen.
"Für Jemanden, der Lessing liest, hätte ich dich nicht gehalten." 
William lachte. Sofort breitete sich eine unglaubliche Wärme in mir aus. Ein kleines Schmunzeln schlich sich auf meine Lippen. 
            
"Ach nein? Und was für ein Jemand bin ich dann, deiner Meinung nach?"                 
Ich zuckte mit den Schultern.      
"Jedenfalls keiner, der Werke, wie Emilia Galotti liest. Es sei denn natürlich...", erwiderte ich und setzte einen nachdenklichen Blick auf.
"Was?", fragte William lachend.
"Du liest es nur für die Schule.", schloss ich.                                                                          
"Schlau kombiniert, Sherlock. Ja, ich habe es für die Schule lesen müssen, allerdings bereits letztes Jahr."                                
"Und weshalb liest du es jetzt wieder?", wollte ich wissen.                        
"Vielleicht gefällt es mir ja."
                   
Ich sah ihm direkt in die Augen und suchte in ihnen nach irgendeiner Antwort. Ich fand natürlich keine, aber irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass es einen Grund gab, weshalb er genau dieses Buch las. Ebenso, wie es einen Grund gab, wieso er mir diesen Grund nicht nennen wollte.
"Nein, das denke ich nicht, aber wer weiß vielleicht erzählst du mir ja morgen, wieso du es liest.", sagte ich, stand auf und lief los in Richtung des Eingangs.                
"Hey! Lauren, warte!", hörte ich ihn rufen. Kurz danach war er neben mir.        
"Hey, bleib bitte stehen. Ich will nicht der Grund sein, weshalb du das schöne Wetter nicht weiter genießt. Und das bedeutet, wenn hier einer geht, dann gehe ich."
               
In seinen Augen konnte ich eine Spur von Trauer erkennen.                       
"Und das sage ich nicht gern, weil ich deine Anwesenheit sehr schätze."           
Ich riss die Augen auf.
Er ist gern mit mir zusammen.              
"Aber da du mir ja gerade versprochen hast, dass wir uns morgen wiedersehen, denke ich, dass ich das verkraften werde.", fügte er lächelnd hinzu.                    
Auch meine Lippen umspielte ein kleines Lächeln. Ich ging an ihm vorbei und setzte mich wieder auf die Bank.
William folgte mir nicht.

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