Der einundzwanzigste Glückskeks
»Wer mir schmeichelt, ist mein Feind. Wer mich tadelt, ist mein Lehrer.«
Ich wusste, dass William recht hatte, in gewisser Weise zumindest. Ja, das war auch ein Grund gewesen – ich wollte nicht weiter Schuld daran sein, dass meine Eltern ihr Leben nicht so leben konnten, wie sie es gerne getan hätten. Doch, das war nicht das Ausschlaggebende.
Ich hatte keinen anderen Weg, den ich gehen hätte können, wie Emilia! 18:38
18:40 Du bist ihn aber gegangen.
Hätte ich darüber selbst entschieden, wie Emilia, wäre ich ihn nicht gegangen. Ich hätte ebenso Emilias Weg gewählt. 18:41
18:41 Du wärst also auch davon gelaufen?
Ich dachte bei mir wäre das etwas anderes...? 18:42
18:43 Du hast doch damit angefangen, dass es eigentlich dasselbe ist.
Jaja, schon gut. Und nein. Es gab nämlich nichts, wovor ich hätte davonlaufen können. 18:43
18:44 Doch, Lauren. Das Leben. Du bist vor dem Leben davongelaufen.
Aber das ist Emilia doch auch! 18:45
18:45 Ach verdammt, Lauren! Wieso bist du nur so stur? Hier geht es doch nicht mehr um Emilia, sondern um dich!
Pah!
Empört schnappte ich nach Luft. Was dachte er sich bloß? Eigentlich kannte er mich doch gar nicht!
Er hatte absolut keine Ahnung von mir, oder was mein Leben anging.
Ich warf mein Handy auf die andere Seite meines Bettes, Kissen und meine Decke darüber, versuchte die Wahrheit unter dem Berg zu vergraben. Schmollend lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand.
Wieso um Himmels Willen musste William in mein Leben treten, es komplett umkrempeln und...argh!
Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Mein Handy klingelte, doch ich ging nicht ran. Ich wusste, dass er es war.
Nachdem das Klingeln verebbt war, begann es von neuem. Noch drei weitere Male startete der nervige Ton von vorn – mein Vater kam bereits genervt in mein Zimmer gestapft, als ich nur mit den Schultern zuckte, zog er eine Augenbraue nach oben und verließ kopfschüttelnd mein Zimmer – danach blieb es still.
Sollte er mich doch für zickig oder sonst was halten, war mir egal!
Ich biss mir auf die Unterlippe und rappelte mich dann nach oben, tappte in die Küche und befüllte mir ein Glas mit Wasser. In einem Regal fand ich noch einen Müsliriegel, von dem ich die Verpackung abriss und einen Bissen nahm. Ich zog mich auf die Arbeitsplatte und ließ die Beine baumeln.
Ich aß den Riegel auf und trank das Glas aus, dann hüpfte ich wieder auf den Boden, wollte gerade wieder in mein Zimmer zurück, als es an der Tür klingelte. Ich erstarrte. Bei uns klingelte nie jemand. Wir bekamen selten Post und erst recht nie Besuch und sonst wüsste ich davon. Schnell flüchtete ich mich in mein Zimmer und tat so als hätte ich es nicht mitbekommen.
Kurz danach klopfte es an der Tür und Mum steckte ihren Kopf zur Tür herein.
„Schätzen, es ist für dich."
Verwirrt blickte ich sie an, versuchte ihr zu verstehen zu geben, dass ich von nichts wusste.
„Es ist William, er möchte mit dir reden."
Panik stieg in mir auf.
„Ich aber nicht mit ihm, sag ihm doch, dass ich nicht da bin...oder schlafe oder so!"
„Lauren!", wütend funkelte sie mich an und stemmte die Hände in die Hüften.
„Das werde ich garantiert nicht! Dieser junge Mann ist extra hergekommen, um dich zu sehen. Ich weiß ja nicht, was vorgefallen ist, aber vermutlich übertreibst du bloß maßlos!"
„Muuum!"
„Ich will nichts mehr hören! Und jetzt geh. Er wird dich eh hier rumschreien gehört haben!"
Darauf konnte ich nichts mehr erwidern, also stand ich trotzig auf und schlurfte zur Haustür.
Mein Herz schlug so schnell, dass ich befürchtete es würde gleich abheben und durch meine Brust herausschießen.
Beide Hände in den Hosentaschen und den Blick starr auf den Boden gerichtet, stand William vor der Tür. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, stellte mich in den Türrahmen und sah ihn abwartend an.
„Hey."
Er hob den Kopf und seine Augen glitten über mein Gesicht, als hätten sie Angst ihnen könnte etwas entgehen, was sich seit unserem letzten Wiedersehen verändert hatte.
„Lauren, ich..."
Ich hob eine Augenbraue.
„Ich hätte das vielleicht nicht sagen sollen...ich hab es nicht so gemeint...ich..."
„Oh doch du hast es ganz genau so gemeint!", fauchte ich.
„Ich, Lauren, ich wollte...ich dachte nicht, dass...ich wollte auf keinen Fall, dass dich das verärgert oder so...tut mir leid, okay?"
„Komm mit.", zischte ich.
Verwunderung konnte ich in seinen Augen lesen, dann folgte ein Nicken.
Ich schloss hinter ihm die Tür und führte ihn in mein Zimmer. Ich wies William an sich auf meinen Schreibtischstuhl zu setzen, ich nahm auf meinem Bett Platz.
„Ich hab versucht dich anzurufen.", sagte er und ließ seinen Blick durch mein Zimmer wandern.
„Ich weiß.", sagte ich.
„Aber du bist nicht dran gegangen."
Achselzuckend deutete ich auf den Haufen auf meinem Bett. Ein kleines Schmunzeln umschlich Williams Mund.
„Lauren, wieso bist du so stur?"
„Ich schätze das habe ich von meiner Mutter...", gab ich zerknirscht von mir.
„Lauren?"
„William?"
„Ich wollte wirklich nicht, dass es...dich angreift."
„Ich verstehe einfach nicht...wo nimmst du dir das Recht her so über mich zu urteilen? Ohne mich zu kennen, wenn wir mal ehrlich sind."
„Das ist es ja, Lauren. Du gibst mir nicht mal die Möglichkeit dich wirklich kennenlernen zu können! Immer, wenn ich...dich kritisiere, schnappst du ein und rennst vor mir weg. Dabei will ich dir doch nur helfen. Ich mein das doch...nicht böse, okay?"
Schmollend schob ich meine Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich versuche doch nur dich zu begreifen. Ich...versuche dich zu verstehen, damit es einfacher ist dir zu helfen."
Ich legte mir meine Hände in den Schoß und blickte auf sie hinab.
„Ich bin nicht weggelaufen...ich dachte wirklich, dass nichts mehr funktioniert. Und ich hatte Schmerzen, die Medikamente halfen zwar...aber ich wollte kein Leben, indem ich davon abhängig war. Außerdem war es so niederschmetternd nach jeder Operation zu hören, dass es leider nicht den erwünschten Erfolg eingebracht hätte.", murmelte ich leise.
„Ich hatte das Gefühl zu viel verpasst zu haben, das Gefühl mein eigenes Leben nicht im Griff zu haben und keine eigenen Entscheidungen mehr treffen zu können. Ich wollte...der Tod schien mir das Beste, auch für meine Eltern. Außerdem schien alles aussichtslos, weshalb es als einziges infrage kam, was ich entscheiden konnte und mir dieses Leben nehmen würde, was ich hasste. Ich hatte meine Eltern sogar fast soweit. Ich hätte nur die Medikamente absetzen müssen und das Teil in mir, hätte mich aufgefressen. Aber es wäre schnell gegangen, meinten die Ärzte. Vielleicht...okay, ja, vielleicht kann man das als weglaufen bezeichnen, aber kannst du nicht...du weißt nicht, wie..."
Ich verstummte und bemerkte, dass ich drohte in Tränen auszubrechen.
Lauren, reiß dich zusammen! Das ist bescheuert. Du wirst jetzt nicht heulen, erst recht nicht vor William!
Ich schloss kurz die Augen, atmete tief durch und sah ihm fest in die Augen. Doch am liebsten hätte ich sofort wieder weggesehen, denn was ich in Williams Blick las, hasste ich. Mitleid.
„Sieh mich nicht so an, William, bitte."
„Was? Ich..."
„Diesen Blick kenne ich zu gut, ich habe ihn die letzten drei Jahre fast täglich zu Gesicht bekommen."
Er räusperte sich.
„Tut mir leid...ich...Lauren, ich...", aufgewühlt fuhr er sich durch die Haare.
„Ich...Lauren, hör mir zu. Ich weiß das, okay? Und ich...hasse mich dafür, dass ich darauf herumgeritten bin, wieder. Ich weiß ich kann nicht nachfühlen, wie es ist, in so einer Situation zu sein, aber...ich kann dir meine Situation näher bringen, das habe ich versprochen. Und daran werde ich mich halten. Aber bitte...glaub mir, dass ich nichts böse meine, was dich betrifft...niemals."
Er griff nach meiner Hand und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken, wie damals im Park.
Ich erschauderte.
Mein Blick fand den seinen und ich nickte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen, was mich ansteckte.
„Kann ich dich trotzdem was fragen?", wollte er wissen und sein Gesichtsausdruck wurde ernst.
Vorsichtig nickte ich.
„Was...was genau hattest du...?"
Ich erstarrte und in Williams Blick konnte ich sehen, dass er das bemerkte.
Sofort schob er nach: „Du musst mit mir auch nicht darüber reden, es hat mich nur mal interessiert."
Ich legte den Kopf schief.
„Sagen wir so, da war ein ekliges Bakterium in mir, was Knoten wachsen lassen hat. Das sollte dir...als erste Antwort reichen, okay?"
Sein Blick wurde düster, er nickte. Ich blickte auf seinen Hand, die meine noch immer hielt.
„William?"
„Lauren?"
„Kann ich dich auch was fragen?"
„Klar."
„Wieso bist du in der Selbsthilfegruppe. Also ich meine jetzt im Moment ist mir klar, weshalb.", sagte ich und grinste. „Aber ich meine weshalb bist du das erste Mal hingegangen?"
„Ach dir ist klar, weshalb ich jetzt zur Zeit dort bin?", fragte er neckend und lächelte.
Ich streckte ihm nur die Zunge raus.
„Okay, ähm... Spaß beiseite. Vor zwei Jahren ging ich das erste Mal zu Jacksons Gruppe. Damals waren es nur fünf Teilnehmer, Maggie war bereits dabei. Meine Mum war damals ins Krankenhaus gelangt, weil...sie versucht hatte sich das Leben zu nehmen."
Ich schlug mir die Hand vor den Mund.
„Ich konnte das nicht verarbeiten, weshalb mir zu einer Therapie geraten wurde. Ich weigerte mich aber. Als mir von der Selbsthilfegruppe erzählt wurde, ging es mir...sehr sehr schlecht. Ich war an einem Tiefpunkt angelangt und wusste nicht, wie ich da wieder rauskommen sollte, deshalb war es an der Zeit mir doch Hilfe zu suchen. Also ging ich hin."
Der Schmerz und die Trauer, die in seinem Blick lagen, konnte ich nicht ertragen, weshalb ich ihn schnell in eine feste Umarmung zog. Ich hoffte, dass sie ihm zeigte, dass ich bereit war, etwas von seiner Last auf mich zu nehmen, damit es ihm besser ging. Williams Griff wurde stärker, als müsste er sich an mich klammern um nicht zu ertrinken.
Ich spürte, wie seine Anspannung nachließ, er sich beruhigte. Auch wenn ich das vielleicht nicht tun sollte, genoss ich es in seinen Armen, jede Berührung und der Duft, der von ihm ausging und mir in die Nase stieg.
„Es tut mir leid.", flüsterte ich an sein Ohr und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
William räusperte sich, löste sich aus meinem Arm und schüttelte den Kopf.
„Du kannst nichts dafür, außerdem...geht es mir ja jetzt wieder gut."
Ich legte den Kopf schief und blickte ihn nachdenklich an. Ich fragte mich, ob das die Wahrheit war.
William lächelte.
„Ich sollte dann mal wieder los. Wir sehen uns Samstag."
„Ähm ja.", antwortet ich.
William machte Anstalten aufzustehen, doch ich hielt ihn am Handgelenk fest.
„William, ich...schätze ich habe überreagiert, das tut mir leid. Ich komme mit dem Ganzen noch nicht so klar, vermutlich, weil ich nicht glauben kann, wirklich noch zu leben und dass anscheinend alles wieder gut mit mir ist."
Er lächelte.
„Schon okay. Aber bitte...lauf das nächste Mal nicht wieder vor mir weg, sondern rede mit mir, ja?"
Ich nickte, dann stand ich auf und brachte ihn zur Tür. An der Tür hob ich zum Abschied die Hand und William stieg die Stufen nach unten, dann hielt er auf einmal inne und drehte sich nochmal um und kam die Stufen hochgerannt.
Ich hob eine Augenbraue und wollte wissen: „Hast du was vergessen?"
„Und wie, ich das habe.", erwiderte er und zog mich ganz fest in seine Arme.
„Unsere letzte Umarmung ist doch noch nicht so lange her.", flüsterte ich und lachte.
„Ich weiß, aber du riechst gut."
Jetzt lachte ich noch lauter.
Er wich ein Stück zurück, dass er mich ansehen konnte und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, mit dem anderen Arm hielt er mich weiterhin.
Hitze breitete sich in mir aus, ich bemerkte, dass ich schwerer atmete.
„Du bist süß, wenn du rot wirst.", flüsterte er.
„Und auch, wenn du versuchst wütend zu sein.", schob er grinsend nach.
Ich schnaubte, lachte dann aber und wendete den Blick von ihm ab.
„Hey."
Seine Hand glitt unter mein Kinn und hob es an, dass ich gezwungen war ihn wieder anzusehen.
„William?"
„Ja, Lauren?"
Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut.
„Wir sind uns ganz schön nah.", hauchte ich.
Gespielt ernst ließ er seinen Blick über mein Gesicht zu meinen Lippen wandern.
„Stimmt."
Ich konnte ihn tief einatmen hören, dann sah er mich wieder an und nahm Abstand. Der Moment war vorbei.
Er seufzte und setzte ein gequältes Lächeln auf.
„Bis dann.", sagte er und ging.
Ich sagte nichts, war wie versteinert. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass er weg war und ich immer noch in der Tür stand. Ich schloss sie.
Sofort wuselte Mum um mich herum.
„War das der Junge aus dem Krankenhaus? Ich wusste gar nicht, dass ihr noch Kontakt habt."
„Äh, ja. Er ist auch in der Selbsthilfegruppe. Hatte ich dir bestimmt erzählt.", versuchte ich eine schnelle Antwort.
„Nein, hast du nicht.", sagte Mum empört.
„Naja, dann weißt du es jetzt."
Ich hatte keine Lust auf eine längere Unterhaltung mit ihr über William, sodass ich Anstalten machte wieder in mein Zimmer zu gehen.
„Und ihr seid befreundet, ja?"
„Ja, Mum. Wir sind Freunde.", antworte ich genervt, spürte dennoch, wie ich rot anlief.
„Achso, okay.", meinte Mum. Das Grinsen, was sie dabei im Gesicht trug, verriet, was sie dachte.
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Uf, ein etwas längeres Kapitel. Ich finde dafür wurde es aber auch mal Zeit. Ich hoffe ihr freut euch darüber & dass Lauren eine kleinen Anfang geleistet hat über ihre Krankheit zu sprechen.
Was sagt ihr zu Williams Geschichte?
Uuund ja es gab wieder keinen Kuss haha, entschuldigt. Obwohl nö, eigentlich tut es mir nicht leid, haha.
Julia
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