Der einunddreißigste Glückskeks
»Achte auf Deine Gedanken, sie sind der Anfang Deiner Taten.«
Lieber William,
ich bin mir der Ironie dieser Situation durchaus bewusst – und doch habe ich mich dafür entschieden. Es ist ziemlich bescheuert dir das alles in einem Brief zu schreiben, da dies ein Punkt auf der Liste ist, ich weiß das. Aber ich bin zu feige es dir persönlich zu sagen, mal davon abgesehen, dass du es nicht zulassen würdest. Anrufen oder SMS kommt auch nicht infrage, da du antworten würdest und das würde alles nur komplizierter machen.
William, ich kann das nicht mehr. Ich kann nicht mehr leben, wie ich es tue. Ich kann dir das nicht mehr antun, Maggie das nicht mehr zumuten. Ich will den Schmerz nicht mehr in deinen Augen sehen müssen, denn das hat mir jedes Mal das Herz gebrochen. Ich kann diese Liste nicht mehr mit dir gemeinsam abarbeiten.
Ich weiß, dass es alles gut gemeint war – nein, mehr als das, aber es geht nicht mehr. William, ich hatte das Gefühl, dass mein Leben zu Deinem wurde und das war das Letzte, was ich wollte. Es tut mir so leid, dass du dich aus welchem Grund auch immer dazu verpflichtet gefühlt hast. Aber das hättest du nicht, wirklich nicht. Ich habe mit dem hier, mit allem, abgeschlossen.
Ich bin dir dankbar, so unheimlich dankbar für alles, was du getan hast, was du für mich getan hast. Du hast mir ein bisschen Farbe zurück gebracht. Doch ich muss der Wahrheit ins Gesicht blicken: Ich werde nie gesund werden und es ist nur eine Frage der Zeit bis dieses Ding in mir drinnen mich auffrisst. Ich möchte unter keinen Umständen, dass es für dich noch schwerer wird. Dein Leben war bisher nicht gerade rosig und dann komme ich daher und mache alles noch schlimmer. Ich kann von dir nicht verlangen, dass du das alles vergisst, dass du mich vergisst – das werde ich nämlich auch nicht.
Ich werde es dir nie vergessen, doch ich kann dir nichts geben, was nur annähernd ausdrückt, wie dankbar ich dir bin. Nichts und niemand kann uns nehmen, was in den letzten zwei Monaten passiert ist. Und doch muss es zu Ende gehen. Es tut mir leid, William. Es tut mir so so so unendlich leid, doch wir müssen einen Strich unter die Sache ziehen. Du sollst die Chance auf ein glückliches Leben haben. Und das hast du leider nur ohne mich. Das weiß ich sogar ohne Mathe.
Ich habe zwar keine Ahnung, wieso du so daran festgehalten hast, aber ich möchte dir danken dafür, dass du nicht aufgegeben hast und dich einfach in mein Leben gedrängt hast. Ich möchte dir danken für jedes Lachen, William. Ich habe in den letzten Jahren so selten gelacht, ich dachte zwischenzeitlich ich hätte es verlernt. Ich danke dir für deine Einfälle, dein Verständnis oder auch kein Verständnis, was du mir entgegengebracht hast.
Ich möchte dir deshalb auch für jeden Streit danken. Du hast versucht mich von so manchen Dingen zu überzeugen, deshalb danke für dein Durchhaltevermögen und deine Zielstrebigkeit, auch, wenn es nichts brachte.
Aber am meisten möchte ich dir dafür danken, dass du mir gezeigt hast, wie es ist einen besten Freund zu haben.
Danke für alles. Bleib wie du bist. Mach's gut.
In Liebe,
Lauren
Bevor es die anbahnenden Tränen den Weg nach draußen schafften, faltete ich den Brief und steckte ihn in einen Umschlag. Ich schloss ihn und schrieb noch Williams Namen auf die Vorderseite. Ich legte den Brief auf meinen Nachttisch und zog dann meine Beine an meinen Körper. Meine Arme schlang ich um sie, formte mit meinem Körper ein kleines Päckchen.
Ein Schauer ging durch meinen Körper, ich fröstelte. Auf einmal wurde ich mir dieser Leere bewusst. Ich fühlte mich so allein, wie schon lange nicht mehr. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, dass William jetzt hier war, doch ich verbot mir an ihn zu denken, irgendwas zu fühlen. Und da geschah es – die erste Träne rollte meine Wange hinunter. Mit einer schnellen Handbewegung wischte ich sie weg.
Ein Zucken ging durch meinen Körper, ich spürte, dass ich kurz davor war zusammenzubrechen, doch ich durfte das nicht. Ich hatte kein Recht dazu.
Es war meine Entscheidung, oder halt auch nicht.
In wenigen Tagen würden sie mir nur wieder mitteilen, dass doch noch ein kleiner Rest übrig war, welchen sie aber das nächste Mal mit großer Sicherheit entfernen würden können. Doch ich hatte einen Plan. Wenn Mum und Dad heute Nachmittag kommen würden, würde ich ihnen mein Angebot darbieten. Sicher, sie waren meine Eltern, doch ich war kein Kind mehr und konnte selbst über mein Leben und meinen Körper entscheiden.
„Du willst was?", fragte Mum mit aufgerissenen Augen.
Sie war aufgebracht, sehr. Ihre Stimmlage war um einiges nach oben gerutscht und die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Unruhig lief sie im Zimmer auf und ab und sah meinen Vater auffordernd an.
„Ich will, wenn die nächste Operation schiefläuft, meine Medikamente absetzen."
„Harry, jetzt sag doch auch mal was! Sag ihr, dass das nicht geht, dass wir das auf keinen Fall gutheißen werden."
„Mum! Weißt du wie scheißegal mir das ist, ob ihr das gutheißt? Es geht hier nicht um euch, sondern um mich! Ich will das nicht mehr. Euch mache ich das Leben doch damit auch nur schwer!"
„Bitte...hört auf!", rief Dad da auf einmal.
„Schatz...Lauren, lass das mal unsere Sorge sein, ob du unser Leben damit schwer machst. Wir sind dankbar für jede Minute mit dir. Ich kann dich natürlich verstehen, aber vielleicht sollten wir die nächste Operation erst einmal abwarten und dann weitersehen. Vielleicht finden wir ja eine Lösung, mhm?"
„Ihr seid dankbar für jede Minute? Was bringen die euch, wenn ich nicht ansprechbar bin, oder vor Schmerzen schreie oder keine Ahnung was! Gebt doch zu, dass ihr es genauso leid seid.", entgegnete ich und presste die Lippen aufeinander.
„Lauren, das stimmt nicht. Dad hat recht, wir sind dankbar für jeden Augenblick mit dir, weil du am Leben bist, okay? Wir lieben dich über alles und es würde uns das Herz brechen, wenn du nicht mehr bei uns wärst. Bitte lass und erstmal bis Freitag warten. Ich bin sehr optimistisch, dass es die letzte Operation sein wird. Es ging dir in letzter Zeit so gut...dieser Junge war daran sicher nicht ganz unschuldig, aber bitte Lauren, gib nicht genau jetzt die Hoffnung auf."
Ich starrte auf meine Fingernägel. Was Mum da sagte, hörte ich, doch ich glaubte es nicht. Ich hätte wissen müssen, dass sie mir nicht wirklich zuhören würden. Das haben sie noch nie. Es ging nie darum, was ich wollte. Es ging immer darum, was angeblich mein Leben retten würde. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich nicht mit meinen Eltern darüber reden sollte, es sondern, wenn es soweit war, einfach durchziehen sollte.
„So, wollen wir jetzt eine Runde Scrabble spielen, bevor wir wieder gehen?", wollte Mum da wissen.
Und damit war für sie das Thema gegessen.
Als wir zuende gespielt hatten, brachen Mum und Dad auf und ließen mich wieder mit mir allein zurück.
Ich spähte durch das Rollo, vor dem Fenster, hinaus auf den Flur, ob ich William dort irgendwo ausmachen konnte, doch keine Spur.
Also griff ich nach dem Brief, schlüpfte in meine Schuhe und durch die Tür hinaus.
Ich suchte die Gänge nach Sam ab, bis ich im Eingangsbereich landete und sie beim Empfang entdeckte.
„Lauren! Du gehörst ins Bett. Du bist viel zu schwach!", sagte sie besorgt.
Ich tat es mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und reichte ihr den Umschlag. Fragend blickte sie mich an.
„Kannst du ihm den bitte geben?"
„Wieso sollte ich das tun, Lauren?"
„Bitte.", flehte ich.
„Lauren, du kannst vor deinen Problemen nicht davon laufen."
„Sam, noch eine Standpauke kann ich heute wirklich nicht gebrauchen...Kannst du mir bitte den Gefallen tun, bitte? Es geht nicht anders..."
„Ja, okay...", gab sie seufzend nach.
„Ich werde deinem Schokoladenkuchenjungen den Brief geben."
„Saaam!", sagte ich genervt, musste aber gleichzeitig auch lächeln.
Sie nahm mir den Brief ab und ich bedankte mich.
Dann drehte ich mich um, lief, immer schneller werdend zu meinem Zimmer, schloss die Tür hinter mir und ließ mich an dieser hinuntergleiten. Mein Lächeln war verschwunden und die Tränen, die ich vorhin geschafft hatte, aufzuhalten, flossen nun unaufhörlich.
Er war nicht mein Schokoladenkuchenjunge. Aber es gab nichts, was ich mir mehr wünschte.
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