Der dreiunddreißigste Glückskeks
»Die Übung der Achtsamkeit ist nichts anderes als die Übung liebevoller Zuneigung.«
Er wusste natürlich, dass dies mein erster Kuss war. Okay, manche zählen ihre Kindergarten- oder Grundschullieben auch dazu, aber sowas gab es bei mir nicht.
In Büchern hatte ich selbstverständlich viel darüber gelesen oder in Filmen gesehen, doch ich hatte keine Ahnung, wie es wirklich wäre, wie es sich anfühlte. Ich hätte es mir nicht mal annähernd so vorstellen können.
Als William mich küsste, begann irgendwas in mir zu explodieren, wie ein entzündetes Sternchenfeuer breitet sich dieses Gefühl in alle Richtungen meines Bauches aus. Meine Haut kribbelte, mein Gehirn setzte komplett aus. Da war nichts, wirklich nichts. Das Einzige, was ich realisierte, war William, wie er mich küsste. Mich verkorkstes Etwas. William hatte Angst, das spürte ich, denn seine Lippen berührten meine geradezu federleicht.
Um ihm zu zeigen, dass er nichts zu befürchten hätte, rutschte ich ein Stück näher an ihn heran, legte meine Hände in seinen Nacken. Auch William hob nun seine Hände an, legte sie mir an die Wangen und hielt mich. Ich fühlte mich sicher, geborgen und mein Herz schien Purzelbäume zu schlagen.
Als wir uns voneinander lösten, atmeten wir beide schwer.
„Weißt du wie oft ich schon kurz davor war dich zu küssen?", fragte William und ein Lächeln zierte seine Lippen.
„Ich habe da so eine Ahnung.", antwortete ich schmunzelnd.
William fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, sah überfordert aus.
„Okay, ich weiß ich bin dir so manche Antwort schuldig, aber ich muss mich jetzt erst mal kurz sammeln."
Ich lachte. Niemals hätte ich gedacht ihn aus dem Konzept bringen zu können.
„Hey, lachst du mich aus? Na warte!", sagte er empört und begann mich zu kitzeln.
Schreiend wehrte ich mich und schaffte es mich aus seinem Griff zu befreien.
Ich ließ mich auf sein Bett plumpsen und versuchte einen ernsten Blick aufzusetzen. Sofort wich auch William das Lächeln aus dem Gesicht.
„Okay, ähm, eigentlich gibt es zu diesem Portrait von dir eine ganz einfache Erklärung, aber irgendwie...ist sie doch kompliziert, weil ich mir vorstellen kann, dass sie vielleicht auch beängstigend wirkt. Aber ich hätte nicht damit gerechnet dich irgendwie wirklich mal kennenzulernen."
„Aber du bist doch in mein...", fing ich an, doch William hob seine Hand.
„Bitte hör mir einfach zu, ja?", bat er mich und ich nickte.
„Okay, ähm...du erinnerst dich daran, dass meine Mum ins Krankenhaus kam?", begann er und atmete einmal tief durch.
Um auf seine Frage zu antworten, nickte ich wieder.
„An diesem Tag musste sie viele Untersuchungen über sich ergehen lassen. Und ich saß die ganze Zeit wie auf heißen Kohlen im Wartebereich. Du weißt, dass die Stühle vor deinem Zimmer stehen. Auch an diesem Tag war dein Rollo oben. Und du erinnerst dich sicherlich noch, dass ich meinte, dass diese Zeit keine einfache für mich war...jedenfalls habe ich dich gesehen, Lauren. Ich habe dich das erste Mal gesehen und war...überrascht.
Zu diesem Zeitpunkt hattest du kein einziges Haar auf dem Kopf, man hat dir angesehen, dass es dir körperlich nicht gut ging, aber du...du hast gelächelt, gelacht. Bei deinem Anblick habe ich nach einer gefühlten Ewigkeit selbst mal wieder gelächelt und das war ein unglaubliches Gefühl. Du hast so viel Hoffnung ausgestrahlt und...du warst so so schön, ich meine...du bist schön, aber...auch in diesem Moment.
Ich war so fasziniert, dass ich eine schnelle Skizze von dir in meinem Skizzenbuch anfertigte, um...es festzuhalten. Und...naja vermutlich erinnerst du dich an diesen Tag nicht mehr, aber du hast gelesen – Emilia Galotti. Das Lieblingsbuch meiner Mutter.
Ich habe es irgendwie als Zeichen gesehen und da ich nicht wusste, wie du heißt, habe ich dich einfach Emilia getauft.
Als ich wieder zuhause war, war das mit der Hoffnung schon wieder vorbei. Ich fiel in das tiefe schwarze Loch und ich riss das Bild aus meinem Block, schmiss es weg. Ich...wusste nicht mehr weiter. Irgendwann schaffte ich es jedoch wieder da raus, ich bin zur Selbsthilfegruppe gegangen, habe von dir erzählt...wie jemand, dem es so schlecht geht, so glücklich aussehen kann.
Maggie war es damals, die mich davon überzeugte, dass man eben das Beste aus allem machen müsste. Dass man, wenn man seine Situation als schlecht betrachtete, sie noch schlimmer würde. Als ich an diesem Abend wieder nach Hause kam, habe ich dein Bild aus dem Müll gekramt und mich vor die Leinwand gesetzt. Ich wollte wieder glücklich werden, wieder an Hoffnung glauben – für meine Mum.
Ich habe dich aus meiner Erinnerung gemalt und jeden Tag, an dem mich die Hoffnung verließ, habe ich das Bild von dir angesehen und es ging mir besser. Verstehst du, Lauren?
Du hast mir die Hoffnung zurückgebracht, deshalb...wollte ich dasselbe für dich tun. Du wusstest nichts davon und deshalb fühlte ich mich schuldig...ich hatte das Gefühl, dass ich es musste.
Ich fühlte mich schrecklich, als ich sah, dass du sie verloren hattest und ich sie aber dank dir zurück. Es fühlte sich an, als hätte ich sie dir gestohlen..."
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, das jedenfalls nicht. Ich wünschte mir, dass sich William niemals schuldig wegen mir gefühlt hätte. Die ganze Geschichte war schon ein wenig seltsam, aber es machte mich schon stolz, dass ich ihm helfen konnte, auch wenn mir selbst nicht.
Ich freute mich sehr darüber, denn William hatte es verdient. Doch bei mir hatte das doch gar keinen Sinn, oder?
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum, versuchte das Chaos in meinem Kopf irgendwie zu ordnen.
Und ich war die ganze Zeit eifersüchtig auf Emilia gewesen.
Ich wusste, dass William an Schicksal glaubte, vermutlich versuchte er sich damit auch unsere Begegnung zu erklären, auf mehr oder weniger logische Weise.
Das Schicksal wollte, dass er mich sah. Es wollte, dass ich überlebte. Es wollte, dass es ihm besser und mir schlechter ging. Es wollte, dass wir uns gegenseitig veränderten, uns gut taten. Aber es wollte auch, dass seine Mum versuchte sich das Leben zu nehmen.
In meinem Kopf wirbelte so viel umher, dass es mir schwer fiel auch nur annähernd irgendwie klar zu denken.
„William?"
„Ja, Lauren?", fragte er erleichtert und verunsichert zugleich.
„Ich...also könntest du mich zurück bringen? Ich...muss darüber mal ganz in Ruhe nachdenken, okay?", antwortete ich mit zittriger Stimme.
Er nickte und wir erhoben uns beide. Ich verließ sein Zimmer, hörte ihn hinter mir. Wir traten aus der Haustür und ich wartete nervös neben seinem Wagen, bis William die Haustür ab- und das Auto aufgeschlossen hatte. Ich öffnete die Beifahrertür und ließ mich auf den Sitz fallen.
William rutschte auf seinen Sitz und startete den Wagen. Während des Rückwegs sagte keiner von uns etwas. Ich konnte seinen Blick auf mir ruhen spüren und könnte schwören, dass er kurz davor war etwas zu sagen, doch er tat es nicht. Wir bogen auf den Parkplatz und ich stieg aus. Zum Abschied hob ich die Hand, dann drehte ich mich schnell um und lief zum Eingang des Krankenhauses.
Kaum zu glauben, aber es gab weder einen Arzt, noch eine Schwester, die mein Verschwinden registriert hatten. Jedoch beschäftigte mich der Ausriss. Ich konnte es immer noch nicht glauben. William dachte ernsthaft, dass er es mir schuldig gewesen war, wieder glücklich zu werden. Das war absoluter Schwachsinn. Und ich nahm mir fest vor, ihm das zu sagen.
Ich war geschmeichelt von dem, was er mir erzählt hatte, berührt. Er hatte mich nicht gekannt und doch hatte ich eine solche Wirkung auf ihn gehabt, okay, ein Bild von mir, aber das reichte. Und dann war da ja noch...der Kuss. Meine Gefühle fuhren Achterbahn, das war definitiv zu viel für einen Tag. Die Tatsache, dass ich mich anscheinend unbewusst in sein Leben gedrängt hatte, war für mich unbegreiflich, da ich es so seltsam gefunden hatte, warum er dieses starke Bedürfnis gehabt hatte mich kennenzulernen.
Und jetzt wusste ich weshalb. Das Ganze war nicht von ihm ausgegangen, sondern von mir, obwohl ich davon nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte. Das Traurige an der Sache war, dass Williams Versuch von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war.
Es war mir einfach nicht vorbestimmt glücklich zu werden, wieder voller Hoffnung, wie noch am Anfang meiner Krankheit – wie das Mädchen, was ich damals gewesen war.
Doch es gab eine Sache, die ich jetzt wusste. Ich konnte William nicht verbieten ein Teil meines restlichen Lebens zu bleiben, da ich schon viel länger in seinem Leben eine Rolle gespielt hatte. Ich war zwar immer noch keiner guten Dinge, was die Operation übermorgen anging, doch William wollte ich nicht mehr von mir stoßen. Das machte mich sowieso nur noch unglücklicher und es brachte eh nichts. Ich griff nach meinem Handy und schrieb ihm eine Nachricht.
Hey. Ich wollte dir dafür danken, dass du so ehrlich zu mir warst. Ich weiß jetzt, dass es keinen Sinn hat dich dazu bringen zu wollen aus meinem Leben zu treten. Mal davon abgesehen, dass ich es gar nicht will. Aber du solltest dich nicht mehr schuldig fühlen. Es geht mir schlecht, weil du es je wegen mir getan hast. 11:13
11:16 Oh, Lauren, weißt du wie erleichtert ich gerade bin? Ich hätte es verstanden, wenn du nach dieser Geschichte wirklich nichts mehr mit mir zu tun wollen hättest, bin aber froh, dass dem nicht so ist. Ich konnte unter keinen Umständen zulassen, dass du mein Leben verlässt, ohne, dass du das weißt. Denn Lauren, durch das farbenfrohe Bild von dir, hast du mir Farbe in mein Leben zurückgebracht. Deshalb sollte ich eher dir danken. Ich weiß, dass du jetzt sicher erstmal Zeit für dich brauchst. Wie wäre es wenn du dich meldest, sobald deine Operation vorbei ist?
Wenn ich dann überhaupt noch lebe. Das dachte ich, schrieb ich ihm aber natürlich nicht.
Klar. Danke für dein Verständnis. 11:17
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Puh, ich bin gerade so hibbelig, weil es raus ist!
Ich bin so gespannt auf euer Feedback. Was sagt ihr dazu? Was denkt ihr?
Fandet ihr es absehbar?
Freue mich über jeden eurer Kommentare! <3
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