LANNIGANS BANN
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Naesat, 450 nach der Eroberung
„Tiborazo Nastura." Keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Wer möchte das wissen?"
„Ich."
Tiborazo wandte sich zu dem Mann um, der ihn angesprochen hatte. Er war so gewöhnlich, wie ein Gryff gewöhnlich in einer Taverne in Naesat sein konnte, mit schartigem Schnabel, dunklem Fell, durchsetzt mit weißen Sprenkeln, und gepflegten, dunkelbraun glänzenden Flügeln. Seine Kleidung war unauffällig, seine Waffen hatten den Anschein, als kämen sie aus einer großen Schmiede. Gute Arbeit, jedoch nichts Ungewöhnliches, keine Verzierungen. Seine Augen jedoch schimmerten in einem verwirrenden Blau. Er sieht nicht so aus, als würde er Ärger wollen. Doch das tun die, die tatsächlich für Streit sorgen, immer. Ruhig nahm Tiborazo einen Schluck aus seinem Bierkrug. „Und du bist?", fragte er milde gelangweilt.
Der Gryff lächelte dünn. „Namen, immer diese Namen. Sie interessieren keinen. Du solltest nur wissen, dass ich einen Auftrag für dich habe, Rattenfänger."
„Ich lasse mich nur von jenen beauftragen, deren Namen ich auch weiß", gab Tiborazo zurück. „Sollte dir dein Name so viel wert sein, dass du ihn mir nicht sagen willst, musst du dir einen schlechteren Jäger suchen."
Der Gryff seufzte. „Mein Name ist Enzo. Reicht dir das? Sonst werde ich mich mit meinem überaus lukrativen Angebot tatsächlich an jemanden anders wenden müssen, und das ist weder in meinem noch deinem Interesse."
Hätte mich auch gewundert, wenn er seinen wahren Namen genannt hätte. Diese verfluchten gespielten Geheimnisse. Aber was auch immer er vorhat, klingt mehr als nur interessant. „Was willst du, Enzo?"
„Weißt du etwas über die Krone von Stalfeyr?" Enzo beobachtete ihn wachsam.
Langsam setzte Tiborazo den Krug ab. „Die Krone der gefallenen subatischen Könige." Er zuckte mit den Schultern, während seine Gedanken tobten wie das Meer in den Herbststürmen. Er weiß es. Er weiß von ihrem Auftrag. Bei allen Göttern. Sorgfältig wählte er seine Worte. „Eine Krone eben. Subat hat keinen König mehr, also ist sie kaum mehr zu etwas nutze."
Enzos Augen funkelten, als könnte er seine Gedanken lesen. „Sie ist noch eine ganze Menge wert. Ein Symbol der Macht, dass die Stärke des Hauses Stalfeyr nicht gebrochen ist. Der Letzte Stalfeyr zumindest hängt sehr an diesem Artefakt, dem letzten Beweis dafür, dass seine Familie einst allein regierte, und deswegen kannst du dir sicher auch vorstellen, dass er reichlich erzürnt ist, dass sie vor nicht allzu wenigen Tagen gestohlen wurde. Einfach so, aus seiner Schatzkammer. Aus dem am besten bewachten Verlies von ganz Subat."
Tiborazo trank erneut einen Schluck. „Der Dieb muss wohl erstaunlich gut sein", stellte er fest, und verfluchte sich noch im gleichen Moment für seine Worte. Ich hätte nicht mit dem Dieb anfangen sollen. Besser, ich hätte von ihr abgelenkt.
„Für eine Gryff mit nur einem Flügel und ehemals gebrochenen Fingern, sicherlich. Es ist beeindruckend, um nicht zu sagen gänzlich unerhört. Vorbei an all diesen Wachen, den Horden der Höllen von Altarris entfliehen, und dann auch noch untertauchen, als wäre sie aus nichts anderem gemacht als aus Nebel und Schatten." Enzo blickte ihn listig an.
Tiborazo spürte, wie die Sorge um Whisper mit jedem Herzschlag durch seine Adern pochte. „Du glaubst, der Nebelschatten sei dafür verantwortlich."
„Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Meine Auftraggeber wissen es."
Tiborazo wandte sich ab. „Der Nebelschatten ist nicht mehr im Geschäft. Nachdem ihre Finger gebrochen wurden, hat sie keine Aufträge angenommen." Sie war so stolz, als sie mir vom Staubkönig erzählte. So glücklich, dass sie geleuchtet hat wie die Sonne vor Freude. Und als sie mir die ersten gestohlenen Münzen in die Hände legte, war es fast so, als hätte sie nie vorher etwas gestohlen, so aufgeregt war sie. Und jetzt, zwei Jahre später, wagt sie sich an den nächsten großen Auftrag. Er versuchte, seine Angst zu verbergen, doch er wusste, dass er scheiterte. Niemand weiß jemals, ob ich Angst um mich selbst habe, aber sobald es um Whisper geht, weiß jeder, wie sehr ich um sie fürchte.
„Du weiß selbst, dass das nicht stimmt. Niemand wollte es glauben, doch sie stiehlt wieder, und nicht nur kleine Dinge. Nein, Stalfeyrs Krone ist durch ihre Hand verschwunden, und meine Herren wollen nun, dass du den Nebelschatten findest und zur Strecke bringst. Vorzugsweise auch den Mann, der sie beauftragte." Enzo verschränkte die langen, krallenbewehrten Finger ineinander. „Es heißt, du seist gut bekannt mit dem Nebelschatten, oder Whisper de Guille, wie sie sich allgemein nennt."
Tiborazo verengte die Augen. „Wer behauptet so etwas?"
„Die, in deren Sold ich stehe."
„Hör auf mit den Rätseln, Mann." Tiborazo legte beiläufig seine Hand auf den Schwertgriff. „Wer sind deine verfluchten Auftraggeber?"
Enzo schien nicht im Geringsten eingeschüchtert. „John und Avory Rhymer."
Tiborazo spuckte aus. „Das war zu erwarten. Du gehört auch diesem Pack an? Bei den Göttern. Und jetzt wenden sich diese elenden Bastarde an mich, an den Rattenfänger, um ihre Aufträge auszuführen? Haben die niemanden unter dem Abschaum, den sie bezahlen, der einen gewöhnlichen Dieb jagen kann?", fauchte er. Diese verfluchten Rhymers. Glauben wohl, sie könnten sich alles erlauben. Aber sie müssen schon verdammt dumm sein, um zu glauben, dass ich mich gegen Whisper wenden würde, so gut, wie sich mich kennen müssen.
„Whisper de Guille ist eine der besten Diebinnen zu diesen Zeiten. Sie zu stellen, verlangt nach dem besten Jäger zu diesen Zeiten. Lass dir gesagt sein, die Rhymers würden es mit großen Freuden sehen, dich, einen Mann mit deinen beachtlichen Fähigkeiten in den Reihen des von ihnen bezahlten Abschaums zu sehen", sagte Enzo etwas pikiert. „Du hättest ihren Schutz, ihre Dankbarkeit und natürlich ihr Gold. Das sind genug Vorteile, um jeden halbwegs intelligenten Mann auf ihre Seite zu ziehen."
„Richte deinen verfluchten Rhymers aus, dass ich Whisper... den Nebelschatten nicht verfolgen werde. Nicht für sie." Tiborazo erwiderte eisig Enzos Blick. „Sollen sie einen schlechteren Jäger finden, der sie entkommen lässt."
Enzos Lächeln war beeindruckend falsch. „Ich werde mich jetzt weit aus dem Fenster lehnen, aber ich glaube, dir liegt etwas an ihr."
„Das musst du doch wissen. Die Rhymers wissen wahrscheinlich auch, welche Farbe die Unterröcke der Hure dort drüben vor zwei Tagen hatten, warum auch nicht, wie es um mich und Whisper de Guille steht?" Mürrisch trank Tiborazo einen Schluck, um sein Unbehagen zu verbergen. Sie wissen viel zu viel. Noch ein Grund, warum ich ihnen niemals helfen werde.
Enzo blickte die Hure an, die sich lachend in den Armen eines weiteren Gryffs wand. „Sie waren gelb, danke der Nachfrage." Er grinste unverschämt. „Ich bin nur ein unwichtiges Detail in den Plänen der Rhymers. Sie befehlen, ich rede für sie. Ein einfaches Spiel. Und ich weiß nicht, wie sehr du De Guille magst. Ich rate nur, und ich rate gut."
Tiborazo knurrte unwillig. „Verschwinde einfach, bevor ich deine Eingeweide über die Trinker verteile. Ich werde Whisper nicht verfolgen, schon gar nicht für die Rhymers. Vergiss es."
Enzo musterte ihn belustigt. „Du musst nicht gleich beleidigt werden, selbst, wenn es eine verdammte Schande ist, dass du mein Angebot ausschlägst."
„Das der Rhymers, meinst du wohl."
Der Gryff verdrehte die Augen. „Haarspalterei, das eine ist so gut wie das andere. Ich habe nicht einmal erwähnt, wie viel Gold sie dir bieten."
Jäh wirbelte Tiborazo herum, packte Enzo am Kragen, und zerrte sein Gesicht dicht vor sein eigenes. „Du kannst mir den gesamten Schatz der Drachen bieten, und ich werde Whisper trotzdem nicht verraten. Ich werde sie weder ausfindig machen noch dem Drachenkönig vor die Krallen werfen. Dein Angebot kannst du deiner Hure in den Schoß flüstern, sie wird dir eher folgen als ich", knurrte er.
Enzos amüsierter Ausdruck war verrutscht, er löste milde eingeschüchtert sein Hemd aus Tiborazos Fingern und strich sich die Kleidung glatt. Der Sirea erkannte mit Genugtuung einen Funken der Angst in seinen blauen Augen. „Wie schade. Die Herren Rhymer hätten dich nur zu gern bei sich gewusst. Vielleicht, wenn du einen Weg gefunden hättest, die Krone zu beschaffen, hätten sie auch Miss de Guille verschont, anstatt sie auszuliefern. Aber so, nun, wird sie hängen. Mindestens. Schließlich reden wir hier von den Dracones, und die waren schon immer anfällig für unschöne Ideen."
Tiborazo bleckte die Zähne. „Ohne mich werdet ihr sie kaum finden."
Enzo zuckte verächtlich mit einem Ohr. „Jeder kann jeden finden. Nur wäre es bei dir der einfachste, und, machen wir uns nichts vor, interessanteste Weg gewesen. Der Rattenfänger gegen den Nebelschatten... Man erzählt sich, sie hätte dich schon einmal in die Irre geführt. Und nun, da ihr euch vertraut, wäre diese Jagd ein herrliches Schauspiel gewesen."
Tiborazo ballte die Hände zu Fäusten. Ihm juckte es in den Fingern, dem Gryff sein verfluchtes, selbstgefälliges Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, doch er beherrschte sich. „Verschwinde einfach", zischte er.
Enzo fuhr sich mit den Fingern durch die fedrigen Haare und legte einen Cer auf den Tisch, die Münze schimmerte bronzefarben im Licht der Kerzen. „Nun, da du mein großzügiges Angebot so unklug ausgeschlagen hast, solltest du eins wissen. Der Mann, den wir schicken, wird kaum so freundlich zu Miss de Guille sein. Nirgends in den Anweisungen Stalfeyrs wurde erwähnt, dass sie lebendig in Altarris eintreffen sollte, und wenn sie sich wehrt, wird mehr als nur ihre hübschen Finger zu Bruch gehen."
„Hör mir zu, Enzo, oder wie auch immer du heißt." Tiborazo trat einen Schritt vor. Er überragte den Gryff um beinahe zwei Köpfe. „Wenn irgendjemand Whisper etwas antun sollte, werde ich den Verantwortlichen finden und ihn töten. Dann wirst du sehen, wer sich zurecht den Rattenfänger nennen kann. Denn ich finde jede, einzelne, verfluchte Ratte, die mir oder ihr etwas antun will, und reiße sie in Stücke."
Enzo trat einen Schritt zurück und nickte ihm zu. „Viel Glück dabei, Nastura." Mit raschelnden Flügeln wandte er sich um und stolzierte aus der Taverne.
Tiborazo wartete nicht lange ab. Ich muss sie finden. Sie warnen, dass man ihr auf den Fersen ist. Hastig leerte er den Krug, legte ein paar Münzen auf den Tresen und stürmte aus der Taverne, die Glöckchen in seiner Mähne klirrten laut. Mit heftigen Flügelschlägen schwang er sich in den dämmrigen Himmel. Naesat schrumpfte unter ihm zusammen, doch er beachtete die Hafenstadt nicht, und wandte sich nach Westen. Wen sie wohl schicken, statt mir? Seine Erinnerungen an einen Ipotame, der ihm erstmals in einem dunklen Gemach in Subat begegnet war, beantworteten seine Frage, und er fluchte in den heulenden Wind. Nicht ihn. Bei den Göttern, nicht ihn.
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