II. Die Allwissenden

Als sie landete, kroch die Sonne bereits über die Wipfel des Waldes von Hiron. Schiffe schaukelten sanft auf dem Wasser des Meeres, die Docks erwachten zum Leben, Zentaurenhufe klapperten laut über die Erde. Vauraza fühlte sich wund und erschöpft von ihrem Ritt, und auch ihr Drache machte keinerlei Anstalten, den misstrauischen Zentauren nachzujagen. Ihre Beine gaben beinahe unter ihr nach, als sie vom Rücken des Drachen rutschte. Bei allen Schatten, ich bin viel zu lange nicht mehr geritten. Die Geschäfte liefen stets gut genug, als dass ich einen Abstecher machen musste. Sie fesselte seine Flügel und kettete seine Kiefer so fest aneinander, dass er ihn nicht mehr bewegen konnte, und führte ihn zu einer mit Ringen versehenen Wand. Weitere Drachen und Greife, sogar ein paar Halbeinhörner, standen bereits davor, dösend in den ersten Strahlen der Sonne. Die Luft war frisch und roch nach Meersalz, totem Fisch und nach den Tieren.

Trotzdem sehnte Vauraza sich nach der Dunkelheit der Nacht zurück. Selbst die Morgensonne schmerzte in ihren Augen, und sie zog sich die Kapuze ihres Mantels tief in die Stirn.

Sie warf dem Zentauren, der die Tiere bewachte, eine Münze zu und machte sich auf den Weg. Sie wusste, dass die Rhymers im Villenviertel leben mussten. Wo auch sonst. Sie sind reich, sie haben Einfluss, und sie sind entsetzlich arrogant. Doch Mr Rhymer war damals zu dem großen Platz gekommen, auf dem ihr Luftschiff entladen worden war, und sie hatte nie den genauen Ort seines Hauses bekommen.

Sie ließ sich von einem Soldaten den Weg erklären und schlug sich in das Gewirr der Gassen von Alpha Centauri, vorbei an dem aus Holz gebauten Viertel auf dem Meer, durchzogen von Kanälen. Krieger aller Arten lungerten in den Straßen herum, Zentauren schleppten sich mit schweren Schritten über die polternden Stege. Niemand sprach sie an, selbst die abgerissenen Gestalten vor einem Bordell hatten anscheinend Respekt vor ihren Waffen. Niemand greift eine gut bewaffnete Shacani an, gehüllt in einen dunklen Mantel. Selbst, wenn helllichter Tag ist. Nur jene, die zu mutig oder zu dumm sind, um den Tod zu fürchten.

Bald wichen Hütten und eng beieinander stehende Kaufmannshäuser Anwesen und Herrenhäusern. Die Straßen wurden breiter und sauberer, und schließlich erreichte sie das Haus der Rhymers, ein mehrstöckiger, strahlend weißer Marmorbau mit kannelierten Säulen, die einen gewaltigen Balkon stützten. Hohe Fenster ließen die Umrisse von wuchtigem Mobiliar erahnen. Etwas bewegte sich dahinter. Ein Garten umgab das Haus, Vögel sangen. Erste Lichtstrahlen zauberten orangefarbenes Licht und bläuliche Schatten auf die Fassade. Irgendwo schrie ein Pfau. Eine hohe Mauer schloss das Anwesen ein, durchbrochen nur von einem hohen Tor aus ziseliertem Eisen. Ein Schild neben dem Tor verkündete in goldenen Lettern den Namen der Besitzer.

Vauraza straffte die Schultern. Auf in den Kampf. Sie streifte sich die Kapuze vom Kopf, obwohl ihr sofort schlecht von dem Licht wurde, öffnete das Tor und durchquerte den Garten. Ohne zu zögern, erreichte sie die Tür und klopfte.

Kurz herrschte Stille, dann waren erste Hufschritte zu hören, und eine fuchsfarbene Zentaurin öffnete. Ihre roten Haare hatte sie zu einem strengen Knoten zusammengebunden. „Guten Tag, Miss. Wie kann ich Euch helfen?"

„Ich muss die Herren Rhymer in einer... persönlichen Angelegenheit konsultieren", sagte Vauraza förmlich.

„Persönlich und äußerst dringend. So sind alle Angelegenheiten, die die Kunden der Rhymers zu ihnen führen. Wen darf ich melden?"

„Captain Vauraza Bekanash", stellte sie sich vor.

Die Zentaurin machte einen eleganten Schritt zur Seite und ließ Vauraza eintreten. „Folgt mir."

Sie führte sie in einen Salon. Bücherregale und Vitrinen mit Antiquitäten, Schränke mit Glastüren, in denen Flaschen, gefüllt mit zweifellos kostbarem Alkohol, Spalier standen, bedeckten die Wände, unterbrochen von den hohen Fenstern, die sie schon von außen gesehen hatte. Eine beinahe unbenutzt erscheinende Gruppe von Polstermöbeln stand vor dem Kamin.

„Wartet hier. Ich werde sehen, ob ich den Herren auftreiben kann", sagte die Zentaurin reserviert, wandte sich um und verschwand im dunklen Flur des Herrenhauses. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, ein Donnern, das Vauraza zusammenzucken ließ.

Stille kehrte ein, unterbrochen nur von dem gedämpften Rufen des Pfaus im Garten. Vauraza trat langsam zum Fenster. Regungslos lag der Garten vor ihr, durch das Tor konnte sie weitere Mauern und Herrenhäuser erkennen. Ein paar Zentauren in den Uniformen des Königs trabte vorbei, gefolgt von flanierenden Zentaurinnen in prächtigen, bunten Gewändern, eine weitere Gruppe Soldaten bewachte sie in gebührendem Abstand. Eine von Greifen gezogene Kutsche mit einem Wappen, das sie einst in Subat gesehen hatte, passierte sie ebenfalls, Bruchstücke von jenen, die die Villenviertel bewohnten.

Das Knirschen der Türklinke ließ sie herumfahren. Erneut trat die Zentaurin ein. Ihr hinterher stolperte ein brauner Zentaur mit zerzausten Haaren, gekleidet in ein zerknittertes Hemd und einen Morgenmantel aus rosafarbener Seide, bestickt mit Blumenranken und bunten Vögeln. Bartstoppeln bedeckten seine untere Gesichtshälfte, um sein linkes Auge schimmerte es bläulich. Er murmelte etwas, und die Zentaurin antwortete so leise, dass Vauraza es nicht hören konnte. Mit einem biestigen Lächeln stellte sie eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit und ein kristallenes Glas auf einen Beistelltisch, dann wandte sie sich um, trat aus dem Salon und schloss die Tür hinter sich.

Der Zentaur setzte ein schiefes Lächeln auf. „Verzeiht meine Manieren, Miss, nein, Captain Bekanash. Ihr habt einen weiten Weg hinter Euch, nicht wahr?"

Sie nickte. „Ihr seid Mr Rhymer?" Soweit ich mich erinnern konnte, war der Mr Rhymer, den ich bei meinen Handelsreisen hier traf, wesentlich... disziplinierter. Und strenger.

Der Zentaur verzog das Gesicht. „Aye, das bin ich. Avory Rhymer", er vollführte eine miserable Verbeugung, „zu Euren Diensten."

„Ich war schon einmal hier. Auch dort erwartete mich ein Mr Rhymer, und er hatte keine große Ähnlichkeiten mit Euch." Und er stank nicht so sehr nach Huren und Alkohol, wie Ihr es tut. Sie versuchte ein freundliches Lächeln. „Verzeiht mir für meine Offenheit."

„Oh, es gibt nichts, was ich verzeihen müsste. Ihr seid lange geflogen, und der Tag bekommt Euch nicht. Nein, den Mann, den Ihr damals traft, war mein Bruder. John Rhymer. Der wahre Mr Rhymer. Ich bin nur Avory."

„Wo ist Euer Bruder nun?"

Avory überlegte. „Ich weiß es nicht. Er verließ das Haus so früh, dass die Sonne noch nicht einmal schien, und seitdem ist er nicht zurückgekehrt. Aber obwohl Ihr der Kapitän eines Handelsschiffs seid, wollt ihr kein normales Geschäft abwickeln, nicht wahr?"

Vauraza nickte. „Farr Varaqna, der zweite Captain meines Schiffes, wurde von einem gegnerischen Captain angegriffen und schwer verletzt."

„Und nun wollt Ihr für Gerechtigkeit sorgen. Durch, wie nennt mein Bruder es immer... Selbstjustiz." Entgegen seiner Worte wirkte Avory nicht im Geringsten angewidert. Eher vergnügt.

Vauraza starrte ihn an. So viel Offenheit hätte ich nicht erwartet. Aber nun, er ist nicht sein Bruder. Sie betrachtete die Schwellung um sein Auge, die langsam violett anlief. Nicht ein Stück weit. Schließlich nickte sie.

„Also nun." Avory goss sich etwas der klaren Flüssigkeit in den Kelch und stürzte es in einem Zug herunter. Der stechende Geruch von Hochprozentigem breitete sich im Salon aus. „Was sucht Ihr?"

Sie sah den Zentauren fest an, während er sich unbekümmert ein weiteres Glas einschenkte. „Ich suche jemanden, der Rostam al-Massarah tötet. Er soll sterben, gedemütigt und voller Schmerzen, und ich möchte keinen Stümper für diesen Auftrag. Er soll dafür bezahlen, dass er Farr beinahe umgebracht hat." Ihr Zorn und ihre Angst um Farr waren ein eiskalter Klumpen in ihren Eingeweiden.

Unbeeindruckt wandte Avory sich um. „Ihr wisst, dass ich für derlei Auskünfte eine Bezahlung erwarte." Er kicherte. „Offen gestanden, ich hätte es beinahe vergessen, doch ich dachte gerade an John, und er verlangt immer Geld."

Das war zu erwarten. Händler tun nichts umsonst. Schon gar nicht, wenn sie ein solches Herrenhaus besitzen wie die Rhymers. „Wie viel?"

Avory hob überrascht eine Braue. „Ihr seid eine der wenigen, die bereit sind, einen Preis zu zahlen, ohne zu zucken. Aber es geht schließlich um denjenigen, der Euch am wichtigsten ist. Nein, nicht am wichtigsten. Er steht wohl eher an fünfter Stelle." Er grinste schelmisch. „Und dennoch ist er der, den Ihr als Euren besten Freund bezeichnen würdet."

An fünfter Stelle. Nach Ash, Kabir, Ravi und Muria. Sie liebte ihre Familie als eine Einheit, doch wenn man sie einzeln zählte, hatte er recht. Ich habe nicht ein Wort über meine Familie verloren, seit ich hier bin. Sowohl Dammerstal als auch ich haben die Rhymers gehörig unterschätzt.

„Ist Arish, oder Ash, wie Ihr ihn nennt, niemals eifersüchtig?", erkundigte Avory sich beiläufig.

Sie beschloss, ihr Unwohlsein nicht zu zeigen, selbst, wenn es ihr unheimlich war. Sie müssen alles über Spione wissen, und die müssen überall sein. Überall. „Früher war er es manchmal. Aber schon lange nicht mehr." Sie hielt einen goldenen Kreuzer hoch. „Reicht das?"

Avory kniff die Augen zusammen. „Ihr sagtet, Ihr wollt keinen Stümper. Also wollt Ihr jemanden, der weder Fragen stellt und über den Gedanken des Verrats ganz und gar erhaben ist, dessen Loyalität in jenem Moment nur Euch gehört." Er schlürfte affektiert an seinem Getränk. „Und uns natürlich. Da müsst Ihr ein wenig mehr springen lassen."

Sie hob eine Augenbraue. „Diese Münze ist der Wochenlohn eines niederen Arbeiters."

„Deswegen suchen auch nur Reiche uns auf, denn auch wir sind Geschäftsleute, und alles hat seinen Preis", parierte Avory.

Sie griff in ihren Geldbeutel und förderte zwei weitere Kreuzer zutage. „Das ist mehr, als die meisten verdienen. Seid Ihr nun zufrieden?"

Er schob die Münzen auf dem Tisch umher. „Fürs erste akzeptabel", befand er, ließ das Gold in seiner Tasche verschwinden und wandte ihr seinen listigen Blick zu, das eine Auge grün, das andere von einem stechenden Blau. „Aus lauter Übermut werden wir Euch unseren Besten schicken. Aber", er hob einen Zeigefinger und leerte sein Glas erneut, „es wird Euch eine Menge Gold kosten."

„Wie viel?"

„Vierhundert Kreuzer, und einen Gefallen."

Misstrauisch umklammerte Vauraza den Geldbeutel. Ich habe noch etwas Geld. Dammer wird ebenfalls etwas beisteuern, und wenn ich Faridjah die Angelegenheit so verkaufen kann, dass es nicht wie ein Auftragsmord aussieht, sind die Kosten ein Kinderspiel. „Worin besteht der Gefallen?"

„Eines Tages wird die Rhymer Corporation Euch um etwas bitten. Wie diese Bitte aussehen wird, ist unklar. Es kann etwas ganz Gewöhnliches sein, etwas Unerhörtes oder auch etwas, das so gefährlich ist, dass nur La Corsaire es schaffen kann." Avory lächelte hinterhältig.

Vauraza lief ein Schauder über den Rücken. La Corsaire. So nennen mich jene, die die Kanonen meines Schiffes zu spüren bekommen haben. So flüstert man meinen Namen in Tavernen und Gasthäusern in den Gesetzlosen Landen. „Diese Zeiten sind längst vorbei."

„Sechs Jahre, um genau zu sein. Ihr gingt auf einen Raubzug, traft Euch in Felipe da Cunha mit Arish, und einige Monate später habt Ihr die finsteren Geschäfte an den Nagel gehängt, weil ein Kind unter Eurem Fell heranwuchs. Euer Gönner starb, und seine Tochter trat an seine Stelle, die seine Handelsbeziehungen kappte." Avory leerte sein Glas. „Vermisst Ihr die Zeiten manchmal?"

Sie seufzte. „Nur zu oft." Ash war nie begeistert über das, was ich getan habe. Doch um damit aufzuhören, brauchte es endlose Nächte voll des Streits, einen toten Lord al-Nivozar und Kabir unter meinem Herzen. Und trotzdem wünsche ich mir, wieder einmal mit dem Tod im Nacken durch den Himmel über den Racheinseln zu preschen.

Er lächelte, als hätte er ihre Antwort genau erahnt. „Akzeptiert Ihr den Preis?"

Oh, wenn ich es Ash erzähle, wird er nicht begeistert sein. Aber nun. „Aye,das tue ich." Entschlossen legte sie den Beutel auf den Tisch.

Avory nahm ihn und schüttelte ihn prüfend, das Gold klimperte laut. „Eine Anzahlung also. Den Rest werdet Ihr dem Mann geben, den ich Euch schicke. Er wird bald bei Euch eintreffen, und Ihr werdet es erfahren, wann es so weit ist. Erklärt ihm die Lage, und wie Ihr Massarahs Tod wünscht. Eine entsetzliche Tat dieses Captains, wahrlich." Er schauderte übertrieben.

„Wie werde ich wissen, dass es der ist, den Ihr mir geschickt habt?", wollte sie wissen.

„Ihr werdet ihn erkennen, Captain Bekanash. Er ist ein Ipotame, das Fell so schwarz wie das Eure, seine Kleidung und seine Seele ebenso. Jedes seiner Ziele hat den Tod gefunden, und jeder, der ihn beauftragte, weiß nur Gutes über seine Fähigkeiten zu berichten. Er trägt eine Maske, die Euch wohl an das Gesicht Eures verletzten Freundes erinnern wird. Und er hat einen Hang zum Dramatischen, den weder ich noch mein geschätzter Bruder", Avory schenkte sich theatralisch erneut ein, nahm einen Schluck und stellte das Glas mit ausladender Geste auf einem Tisch ab, „im Geringsten nachvollziehen können."

„Und sein Name?", wollte Vauraza wissen. Langsam wurde sie ungeduldig.

„Sein Name", sagte Avory mit geheimnisvoller Stimme, „ist Solofar Darke."

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