CASSIUS

Murrim, im Westen Ilrons, 452 nach der Eroberung


Reaphalu schlief, tief und ruhig, die golden schimmernde Mähne über die Kissen ausgebreitet, die schlanken Gliedmaßen verschlungen in seidenen Laken. Sie duftete nach dem Tabak der Wasserpfeifen, die sie so sehr liebte, nach ihrem Parfum aus Wüstenblumen, das sie aus den Steppen im Süden in die Festung über die Marschen einführen ließ, und nach ihr selbst, einem Hauch von Sand unter ihrem Fell, der selbst jetzt, nach all den Zeiten fern der Wüste, nicht verflog. Ihre ruhigen Atemzüge waren das einzige Geräusch in der Stille des Gemaches, nur manchmal heulte der Wind leise um die uralten Steine der Burg. Die Vorhänge vor den geöffneten Fenstern blähten sich lautlos und brachten ein wenig Frische in die drückende, feuchte Hitze des Sommers von Murrim.

Cassius jedoch fand keine Ruhe, wie so oft. Das Volk mag mich als privilegiert ansehen, doch bringt all die Macht auch die Sorgen mit sich. Gerade, wenn man ein guter und gerechter Herrscher sein will, und sich diesen Status auch erhalten möchte. Vorsichtig, um Rea nicht zu wecken, rutschte er in eine bequemere Position. Sie regte sich schläfrig und umklammerte ihn fester. Der vierte Sohn eines Lords, und dennoch sein Nachfolger. Und das nur, weil ich zu schnell gesprochen habe, in der Anwesenheit eines Mannes, dem mein unvorsichtig ausgesprochener Wunsch ein Befehl war.

Das Gesicht seines Bruders erschien vor seinem inneren Auge, und die letzte, träge Müdigkeit, die Rea ihm mit ihren unermesslichen Künsten im Bett gebracht hatte, löste sich in Staub auf. Langsam löste er sich aus ihrem Griff und setzte sich auf. Sein Gemach lag still und dunkel vor ihm, der Mond schien durch die dünnen Vorhänge und warf scharfe Schatten und helles Licht auf Möbel und am Boden verstreute Kleidungsstücke.

Schlanke Finger strichen über seinen Rücken. „Was ist?", fragte Rea, der leichte Akzent in ihrer verschlafenen Stimme ließ ihn wohlig schaudern.

„Ich kann nicht schlafen", raunte Cassius.

Beinahe konnte er ihr Lächeln spüren, so gut kannte er es bereits. So sehr liebte er es. „Soll ich dir helfen?", fragte sie verführerisch.

Er lachte leise. „Wenn ich zurückkomme, dann. Erst muss ich meine Gedanken ordnen."

„Dann geh. Aber beeile dich. Ich vermisse dich, und du hast mein Bett noch nicht einmal verlassen", flüsterte sie amüsiert.

Er wandte sich zu ihr um, ihre Augen waren schwarz glänzende Seen in ihrem silbern schimmernden Fell. Sie kennt mich viel zu gut. Aber wie auch sonst, schließlich teilen wir seit fünf Jahren ein Bett, ein Zuhause, ein Leben. Liebevoll lächelte er ihr zu. „Ich bin gleich wieder da. Versprochen."

Sie erwiderte sein Lächeln, und er erhob sich und schlüpfte in eine Hose und den seidenen Mantel, der zusammen mit seiner restlichen Kleidung achtlos hingeworfen auf dem Boden lag. An der Tür warf er einen Blick zurück. Rea lag ausgestreckt auf der Matratze, eines der Laken hatte sich um ihr Bein gewickelt, doch es störte sie nicht. Sie blinzelte, ein Blick voller Liebe, und Cassius lächelte ihr zu. Dann wandte er sich um und trat in die hohen Flure der Burg hinaus.

Verschlafene Soldaten grüßten ihn respektvoll, er nickte ihnen zu. Seine Schritte führten ihn auf den Wehrgang auf den äußeren Mauern hinaus, hunderte Meter über den feuchten Ebenen der Murrim-Marschen und der silbern schimmernden Fläche des Sees. Cassius konnte kaum das andere Ufer erkennen, selbst wenn es sternenklar war. Der warme Wind kräuselte das Wasser, ließ das hohe Sumpfgras wie ein wogendes Meer erscheinen und blies Cassius seine schwarzen Haarsträhnen ins Gesicht. Sein Mantel bauschte sich hinter ihm. Kein Nebel, fiel ihm auf. Der Wind hatte ihn mit sich genommen. Dunkle Gestalten schlichen durch das Gras, Drachen, Einhörner, die Rinderherden der Hirten um Murrim, bewacht von Reitern. In der Ferne ragten die Gipfel der Arat-Berge auf.

Dort, wo mein Reich endet und das von Healstead beginnt. Und dahinter liegt das der Chaineys, aus dem Rea stammt. Am Ufer des Sees leuchteten die Feuer von Murrim, Flaggen tanzten aufden Zinnen. Das rote Einhorn auf blau und silbern. Meine Farben, meine Stadt, mein Reich. Und es gehört nur mir, weil ich einen unvorsichtigen Wunsch ausgesprochen habe, den mein geschätzter Bruder beim Wort nahm. Mein Bruder, der sieben Jahre lang nahezu spurlos verschwand, bis auf drei kurze, nichtssagende Briefe, und zurückkehrte mit vagen Geschichten über die Universität von Hastator, die Faroun, den fernen Süden und den gesetzlosen Osten. Mit Giften im Gepäck. Wir alle fürchteten ihn, auch Vater, selbst, wenn er es sich nie etwas anmerken ließ.

Cassius blickte auf die Straße unter dem Haupttor der Festung. Das Bild, wie sein ältester Bruder dort hinaufritt, voller Staub und Schmutz, die Kleidung ärmlich und zerrissen, die Augen gegen die Abendsonne zusammengekniffen, hatte sich in seinem Kopf festgebrannt. Niemand hatte ihn auf den ersten Blick erkannt, weder seine Eltern noch seine Brüder. Doch er hatte ihnen allen Angst eingejagt. Auch Riles, der ihn sogar beleidigt hat, so, wie Brüder es manchmal eben tun. Solofar hatte sich zu ihm umgewandt, und seine Erwiderung hatte einen Funken zu schneidend geklungen, um nur scherzhaft gemeint zu sein. Auch, als Riles und Gorrem ihn herausforderten, gegen sie zu fechten, hatte er mit einem milde amüsierten Lächeln angenommen. Riles hat sich damals für einen König gehalten. Gerade an den Hof von Aidestrad gerufen worden, um in der Garde der Hohen Lords zu dienen, furchtlos, ein meisterhafter Drachenreiter und ein tadelloser Fechter. Gorrem... er hatte Schultern wie ein Stier und war beinahe einen Kopf größer als sein ältester Bruder. Und Solofar kämpfte sie in Grund und Boden. Nie danach hatten es die Brüder gewagt, den Ältesten herauszufordern, weder mit Waffen noch mit Worten. Cassius erinnerte sich an seine Schadenfreude, als Riles und Gorrem besiegt wurden. All die Jahre haben sie mich beleidigt, dass ich niemals so gut fechten konnte wie sie, sie haben mich erniedrigt und mein Vater tat nie etwas dagegen. Endlich hatten sie auch mal das Nachsehen.

Solofar hatte ihn eingeschüchtert. Nicht etwa, weil er ihn bedroht hätte, sondern, weil Cassius der Einzige war, zu dem er freundlich war. Er hörte ihm zu, selbst, wenn er nur die langweiligen Dinge berichtete, die Lord Ironsword ihm beibrachte, wenn er für einige wenige Tage von dessen Burg nach Hause kam. Er brachte ihm das Fechten bei, mit harten Worten und brennender Ungeduld, die Cassius entsetzlich nervös machte, doch es half. So gut man es bei mir sagen kann. Schwerter liegen mir nicht besonders.

Zwei Jahre lang hatte Solofar wieder in der Festung der Darkes gelebt. Gerüchte hatten sich wie Buschfeuer ausgebreitet. Er beschwöre Dämonen in seinen Gemächern, hieß es, er plane den Tod des Königs und mische Gifte, die stark genug waren, um ein ganzes Land auszulöschen. Solofar kümmerte sich nicht um das Geflüster. Lord Calhorm Darke dagegen schon. Jeden, den er bei Gerede über seinen Lieblingssohn ertappte, wurde aus den Diensten des Hauses entlassen und auf die Straße gesetzt. Wenn er gewusst hätte, dass selbst ich bisweilen mit den Knappen über ihn lästerte. Wenn Solofar nicht seine zweifelhaften Experimente ausführte, ritt er durch das Land und kämpfte jedes Turnier mit, dessen er habhaft werden konnte. Oder aber er ließ sich von Vater in der Kunst des Regierens unterweisen. Er hat es gehasst. Mein Wunsch war ihm wohl mehr als nur ein wenig willkommen.

Seine Mutter hatte stets gesagt, dass Wünsche in Erfüllung gingen, wenn man jeden Mid den Göttern ein kleines Opfer, ein wenig Geld, etwas zu essen, in den Tempel brachte. Solofar hatte ihm einst erzählt, dass man einen Wunsch von der Grausamen Mistress verlangen konnte, wenn man sich ihr ganz überließ, mit nichts zu verlieren, außer der Seele, und diese gegen einen Gefallen eintauschte. Sein Vater hingegen hielt beides für kindischen Unsinn und glaubte nicht daran, dass Wünsche in Erfüllung gehen konnten. Wie sehr er sich irrte. Manchmal fragte er sich, ob er seinen Wunsch bereute. Ich hätte nichts von dem, was ich jetzt habe. Weder mein Reich, noch meine Macht, noch Rea. Bei dem Gedanken, sie nicht bei sich zu haben, schien sein Herz einen Schlag auszusetzen. Und doch... die Verantwortung ist nicht zu verachten. All die Pflichten... als jüngster Sohn eines Hauses wäre ich nie so weit gekommen.

Der Tag, an dem er seinen Wunsch ausgesprochen hatte, schien nunmehr tausende von Jahren entfernt. Das Fest. All die versammelten Darkes, seine Onkel und Tanten und ihre Kinder. Die gehässigen Worte seines Vaters und das spöttische Gelächter seiner Brüder. Solofars kaltes, schwarzes Schweigen und seine unbewegte Miene. Cassius hatte sich entschuldigt und war gegangen, hinaus aus dem stickigen Saal und in die dunklen, verwinkelten Gärten. Der Duft von Rosen erinnerte ihn bis heute an diesen Tag. Solofar, wie er wie ein Schatten zu ihm trat.

Ausdruckslos blickte er auf ihn hinab, die Hand an der Waffe. Angst wallte in Cassius auf, doch der Zorn auf seinen Vater erstickte sie im Keim. „Es ist nicht fair", zischte er.

„In der Tat."

Cassius sprang von der steinernen Bank auf. „Es mag sein, dass ich kein guter Kämpfer bin. Weder so gut wie du, noch so gut wie Riles oder Gorrem. Es mag auch sein, dass Ironsword sich darüber beklagt, dass ich nicht gut darin bin, seine verfluchten Aufgaben zu lösen, dabei ist er zu dumm, um anzuerkennen, dass es mehr als nur einen Weg zur Lösung gibt. Aber ich werde natürlich nie etwas besseres sein als ein nichtsnutziger, kleiner Scheißer, der nicht weiß, an welchem Ende man ein Schwert hält", knurrte er bitter. „Ein Rumtreiber, mehr werde ich niemals sein!" Wütend spuckte er in die Beete.

„Du kannst ihm beweisen, dass du mehr sein kannst." Solofars Stimme klang unbewegt.

Seine Regungslosigkeit reizte Cassius nur noch mehr. „Egal, was ich tue, und wenn ich dich im Schwertkampf besiege, ich werde nie auch nur genauso gut sein wie du!", schrie er. Für einen Moment hasste er seinen Bruder ebenso wie den Rest seiner Familie.

Solofar lächelte dünn, und dennoch stand Verständnis in seinem Blick.

Cassius beachtete ihn nicht. „Ich kann es zu nichts bringen. Das behaupten sie doch alle. Wie auch, wenn das Geburtsrecht mir alles verwehrt, was ich brauche. Du wirst regieren, und du willst es nicht einmal, habe ich recht? Du willst nur kämpfen und mit deinen Substanzen spielen und noch mehr von der Welt sehen. Riles ist dumm wie ein Schwein, wenn du verzichtest, wird das Haus Darke nicht lange regieren. Selbst Redsmythe würde die Gelegenheit nutzen und ihn stürzen. Gorrem kann froh sein, wenn er bei seinen Launen überhaupt zum Ritter geschlagen wird." Wütend und schwer atmend starrte Cassius hinaus in die Büsche. Irgendwo sangen die Vögel in den Volieren. „Bei allen Höllen, ich wünschte, sie würden alle sterben. Sie alle. Vater. Mutter. Riles, Gorrem. Meinetwegen auch all ihr verdammtes Pack, das bei ihnen am Tisch sitzt und über mich lacht."

„Bist du dir sicher?", fragte Solofar, einen milde interessierten Unterton in der Stimme.

„Hätte ich noch Probleme, wenn sie tot wären?", fauchte er, wandte sich um und schritt wütend tiefer in die Gärten hinein. Solofars Blick brannte in seinem Rücken.

Die Tode hatten nur wenige Wochen später begonnen. Erst einer der Onkel. Dann ein weiterer. Schließlich Gorrem, der bei der Jagd vom Drachen fiel, kurz nachdem er sich an seinem eigenen Dolch geschnitten hatte. Ein Gift, so hieß es von den Ärzten. Dann Riles, der nach einer durchzechten Nacht einschlief und nicht mehr erwachte. Ihre Mutter war in heller Aufregung, verdoppelte alle Wachen, doch nichts auffälliges wurde je entdeckt, bis auf einen Mann mit einer weißen Vogelmaske, der zuvor ebenfalls in der Kneipe, in der Riles getrunken hatte, gesehen worden war. Als Lady Darke schließlich ebenfalls starb, durch ein Gift, wie alle zuvor, war Lord Calhorm von einem Verfolgungswahn ergriffen. Er ließ niemanden zu sich vor, aß nur noch, was vorher jemand vorgekostet hatte, und ließ jene hinrichten, die er als den Mörder erahnte.

Cassius ahnte, dass Solofar dahinter steckte. Sein eigener Wunsch, nein, seine Macht jagte ihm Angst ein. Warum hatte sein ältester Bruder ihm gehorcht? Warum hatte er sie alle getötet? Es war wütendes Gerede gewesen, nichts weiter. Und doch spürte er bei jedem Toten neben dem Entsetzen eine eigenartige Genugtuung.

Als Lord Calhorm Darke schließlich ebenfalls an einem Gift starb, waren die Heiler ratlos. Es war ein Gift, das im Norden niemand besaß, ein Gift der Stummen von Meracon. Niemals würde ein Stummer seine Geheimnisse an einen Außenstehenden verraten. Ein Farounhändler, der in Murrim weilte, wurde insgeheim verdächtigt, doch der neue Lord Darke befahl, ihn nicht zu verfolgen. Er sei bereits überprüft worden.

Eines Nachts erwachte Cassius von dem Geräusch von Hufen auf dem Steinboden seines Gemachs, und als er die Augen öffnete, sah er den Mann mit der Vogelmaske in seinem Zimmer stehen. Mit langsamen Bewegungen löste Lord Solofar Darke die Schnüre der Maske und verneigte sich leicht. „Dein Wunsch war mir ein Befehl."

Es war keine Neuigkeit, doch Cassius war sprachlos. „Warum?", fragte er schließlich.

„Es war dein Wunsch, und es hilft jedem von uns, seine Ziele zu erreichen. Ich will nicht regieren. Du willst es. Niemand ist besser geeignet als du, um das Erbe fortzuführen." Solofars Waffen schimmerten im Mondlicht, das durch die dünnen Vorhänge fiel.

Cassius starrte ihn an. „Warum nicht du?", fragte er, ohne nachzudenken.

Solofar gab ein missbilligendes Geräusch von sich, kaum hörbar, doch laut genug, um Cassius nervös zurückzucken zu lassen. „Wie ich sagte. Ich will nicht regieren. Ich werde meine Forschungen weiter verfolgen, über das lernen, was mich interessiert, und kämpfen, um mein Leben und für andere." Ein rätselhaftes Lächeln zuckte über seine Mundwinkel. „Du dagegen willst zeigen, dass du mehr kannst als nur der vierte Sohn eines Lords zu sein. Du wolltest die Privilegien und Pflichten eines Erstgeborenen, und du bekommst sie auch." Er zog ein Pergament aus seinem Umhang und reichte es ihm. Das Wachs des Siegels war schwarz, das Einhorn des Familienwappens schimmerte im Mondschein. „Cassius Darke von Murrim, hiermit ernenne ich dich zum Lord über Murrim und die Murrim-Marschen, zum Herrn über den Großen See, zum Wächter der Ebenen und zum Hüter der drei Ströme."

Langsam brach Cassius das Siegel, als könnte das Papier ihn angreifen, und überflog die Zeilen. Solofar trat seine Ansprüche ab und gab alles, was er besaß, an Cassius weiter. Kein einziges Recht des Erstgeborenen blieb ihm. Er war nur noch ein einfacher Ritter mit dem Namen Darke. Cassius sah auf. „Ich weiß nicht, ob ich das kann."

Solofar nickte. „Ich werde dir helfen. Doch danach werde ich gehen."

Cassius starrte ihn an und wandte schließlich überwältigt den Blick ab. Solofar verließ den Raum, seine Schritte verklangen auf den Gängen, und Cassius lag bis zum Morgengrauen wach und versuchte, seine peitschenden Gedanken zu ordnen, ohne, dass er einen von ihnen zu fassen bekam.

Die Vorbereitungen hatten am nächsten Tag begonnen. Vor den Augen aller trat Solofar seine Rechte an Cassius ab. Er schrieb Briefe und schlug Duelle, er trug die Nachricht des jungen Lords in alle Winkel des Landes, er wies seine Gegner in ihre Schranken und statuierte an jenen, die sich ihm widersetzten, blutige Exempel.

Kaum eine Woche, nachdem er Cassius zu Lord Cassius Darke gemacht hatte, ritt er nach einer kurzen Reise in die Festung von Murrim ein, mit einem hochgewachsenen, grauen Ipotame in edler Kleidung an seiner Seite. Ein langhaariger, weißer Kopf, gesäumt von roten Blutspritzern prangte auf dem grünen Feld seiner Flagge. Sein Drache, ein großes, schweres Tier, war bepackt mit unzähligen Taschen. Papiere lugten aus einer von ihnen. Er trug nur einen Dolch bei sich, sein Schwert hing an seinem Sattel.

Solofar schwang sich von seinem Reittier. „Dies ist Sir Slivrael Elvengrave von Shiven", stellte er ihn Cassius vor. „Er wird dich in allem unterweisen, in dem ein Lord sich beweisen muss. Außerdem", er warf Elvengrave einen nahezu freundlichen Blick zu, „wird er als dein Berater fungieren."

Elvengrave sah Solofar reserviert an, dann verneigte er sich vor Cassius. „Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen, Mylord. Ich werde meine Arbeiten stets zu Eurer Zufriedenheit erledigen."

Cassius widerstand dem Impuls, ihm die Hand zu reichen. Elvengrave war sein Untertan, nicht ebenbürtig. „Die Freude ist ganz meinerseits, Sir Slivrael."

Ein mürrischer Ausdruck huschte über sein Gesicht, doch wandelte sich beinahe sofort wieder zu dem höflichen Lächeln, das er zuvor zur Schau getragen hatte. Solofar lächelte kurz, doch es verschwand beinahe sofort wieder, als wüsste er nicht, ob er lachen dürfte. „Nennt mich Elvengrave", bat er.

Cassius' Blick flackerte zu seinem Bruder, um sich zu vergewissern, ob seine Unsicherheit tatsächlich dort gewesen war, doch Solofar sah ebenso unbewegt aus wie eh und je. „Wie kommt es, dass Ihr nun bei uns seid, Master Elvengrave?", wollte er wissen.

„Ich traf Euren Bruder am Hofe Daven Hyatts, wo wir beide zu Rittern erzogen wurden. Er hatte mein Wissen wohl derart in Erinnerung, dass ich als Euer Berater als geeignet erschien", erklärte Elvengrave amüsiert.

Seit jenem Tag weilte Elvengrave am Hof der Darkes. Er war Cassius' bester Freund und sein fähigster Berater, nach Rea derjenige, der ihm am nächsten stand. Er hatte ihm gelehrt, in Etikette, Rittertum und dem harten und finsteren Geschäft der Politik, in der Welt der Intrigen und lächelnden Lügen, in der selbst ein blank gezogenes Messer weniger gefährlich war als ein einfacher zweifelnder Blick. Elvengrave lenkte ihn sicher durch die Drachenhöhle, die Ilrons Hochadel war, half ihm, seine Feinde dort zu treffen, wo es wahrlich schmerzte, und parierte die Hiebe, die seine Gegner austeilten. Zusammen mit Solofars schattenhaften Taten, bei denen Cassius nie erfuhr, was genau geschah, schien der junge Lord über Murrim unangreifbar. Jedes Mal, wenn etwas passierte, was am Tag zuvor noch unerreichbar schien, wie eine Gruppe Söldner davon zu überzeugen, ihre Aufgaben gegen die Bezahlung zu verrichten, die Cassius vorgab, statt der, die sie selbst unverrückbar verlangten, wusste er, dass Solofar etwas getan hatte. Er wusste nie, was genau, und er fragte nie danach. Zu sehr fürchtete er die Macht seines Bruders.

Ebenso waren es Solofar und Elvengrave, die ihn auf einem langen Ritt in den Süden begleiteten, durch die Arat-Berge hindurch, in die Steppen, über die die Chaineys herrschten. Tagsüber schien die Sonne sie verbrennen zu wollen, nachts wurde es so kalt, dass sie sich in jedes noch so stinkendes Kleidungsstück hüllten. Die Soldaten, die sie begleiteten, Elvengrave und Cassius vergingen beinahe, während Solofar unbeirrt voran ritt. Schließlich erschien das Meer als blaues Band nach all dem vertrockneten gelben Gras am Horizont, durchsetzt von weißen Segeln. Davor erhoben sich die Türme und Dächer von Teylene, umringt von verküppelten Bäumen, gekrönt von einer strahlend hellen Festung aus nahezu weißem Gestein. Blaue Flaggen tanzten auf den Zinnen, goldene Fische wanden sich auf ihnen, als lebten sie tatsächlich in den saphirfarbenen Weiten der See.

Lord Sharharaq von Teylene war knochig und wettergegerbt, sein helles Fell durchsetzt mit silbernen Flecken, und er schien allem und jedem zu misstrauen, selbst wenn er lachte. Seine Tochter dagegen war wunderschön, schlank und anmutig, und sie tanzte so flink, dass Cassius Mühe hatte, ihren Schritten zu folgen, obwohl Elvengrave ihm das Tanzen beigebracht hatte.

Und ihr Mund war zu einer schmalen Linie aus purem Hass zusammengepresst, ihre Hand in seiner griff ein wenig zu fest zu, und sie wünschte sich von den Musikern stets jene Lieder, die zu schnell waren, als dass er sich angemessen dazu bewegen konnte. Jedes Mal, wenn es wieder an der Zeit war, mit ihm zu tanzen, verfinsterte sich ihr Blick, und Cassius spürte ihre ebenso biestig blickenden Freundinnen hinter sich. Sie war Rheaphalu Sharharaq, und sie war die Frau, die er heiraten sollte. Um Lord Sharharaqs Schiffe hinter sich zu haben.

Reaphalu hasste ihn mit einer Inbrunst, die sie in all ihre Gefühle legte, wie er später erfahren sollte, als sie ihm vergeben hatte. Sie hatte ihn gehasst, für das, was ihr Vater und sein Bruder ausgehandelt hatten, und als sie bemerkte, wer er war, unter der Maske des Lord Darke, dass er nichts anderes war als ein Junge, der noch keine zwei Jahrzehnte lebte, vergab sie ihm. Sie lernten, einander zu lieben, und nun, kaum sechs Jahre später, würde Cassius die ganze Welt mit bloßen Fäusten zu Staub schlagen, nur um sie zu schützen. Selbst wenn er wusste, dass sie ebenso, wenn nicht noch mehr kämpfen konnte als jeder Mann, den er kannte.

Schließlich, wenige Tage nach ihrer Hochzeit, war Solofar verschwunden. Keine letzte Nachricht, keine Worte des Abschieds. Es war, als hätte der Boden ihn verschlungen. Er blieb fort, und zwei Jahre lang hörte Cassius kein Wort von ihm, bis er schließlich mit gebrochenen Rippen und einem spröden Lächeln in den Hof geritten kam, ebenso abgerissen, wie er es bei seiner Rückkehr von den Reisen gewesen war. Cassius hatte Fragen gestellt, er hatte sie nicht beantwortet. Einen Monat lang blieb er in der Festung, verließ nur selten sein Gemach, doch Cassius konnte ihn sehen, wie er am Fenster stand und über die Marschen blickte, wenn er über seine Ländereien ritt. Rea fürchtete sich ein wenig vor ihm, vor seinen ausdruckslosen Blicken und seinem unbeeindruckten Verhalten, und Cassius konnte ihr nur beipflichten.

Seitdem hatte er Solofar nur drei weitere Male gesehen, einmal, als er erneut mit schweren Verletzungen zu ihm kam, ein weiteres, als er mitten in der Nacht die Festung erreichte, am nächsten Morgen am Tisch saß und seelenruhig mit Marmelade bestrichene Brote aß, und ein drittes, als er bei Rheaphalus Geburtstagsfest auftauchte. Elvengrave schien ihm stets skeptisch gegenüber, und Cassius folgte seinem Beispiel. Doch es war nie etwas geschehen. Solofar blieb einige wenige Tage, danach verschwand er wieder, mal mit einer Verabschiedung, mal war er ungesehen in die Nacht davon geritten.

Cassius folgte der Straße mit den Augen, bis zu dem Punkt, an dem sich das Stadttor von Murrim erhob. Manchmal vergesse ich, dass es ihn gab. Vielleicht ist es besser so. Bei den Höllen, er hat meine und seine gesamte Familie umgebracht, und das nur, weil ich zu laut dachte. Es gibt wohl keine bessere Lektion, um zu lernen, dass man auf seine Worte achten sollte.

Hufe klapperten leise auf dem unebenen Steinboden, und er wandte sich um. Sein Herz setzte einen holprigen Schlag aus. Solofar stand vor ihm, die Nacht hüllte ihn in tiefes Schwarz. Eine sich im Wind sträubende Fackel ließ die Verzierungen der Maske in seiner Hand golden schimmern. Als hätten meine Gedanken ihn herbei gerufen.

„Cassius", grüßte sein Bruder ihn.

Cassius nickte schweigend. „Solofar. Wie kommt es, dass du hier bist?", fragte er überrascht.

Solofar trat neben ihm und folgte seinem Blick auf die Ebenen hinaus. „Ich bin auf der Durchreise. Mein Schiff hielt in Taroc, und ich entschied, einen Abstecher zu machen."

„Wo warst du?" Beinahe fühlte sich das Gespräch normal an. Doch etwas stand zwischen ihnen, etwas Großes, Dunkles, das Cassius nicht benennen wollte.

„Ich war in Burall, auf dem Turnier von Clavys."

Cassius lächelte schwach. „Hast du etwas gewonnen?"

Solofar nickte. „Ein wenig Gold."

„Wohin geht es jetzt?"

„Alpha Centauri. Später weiter nach Skygate." Solofar sah ihn an. „Wie geht es dir zu diesen Zeiten?", wechselte er das Thema.

Er redet nie gern über das, was er tut. Er verzog das Gesicht. „Baird will nicht wahrhaben, dass er unser geliehenes Geld zurückzahlen muss, aber das habe ich in ein paar Tagen erledigt. Es gab ein paar Vorfälle mit Räubern, Wilderern und einen Drachen, der Ipotame angreift. Ich habe Jäger für sie alle ausgeschickt." Er nestelte am Ärmel seines Mantel und kratzte seinen Mut zusammen. „Was wirst du tun in Alpha Centauri?"

„Alte Freunde besuchen", antwortete Solofar kurz angebunden.

Ehe er zu einer neuerlichen Frage anheben konnte, fiel Cassius ihm ins Wort. „Ist das die Wahrheit?"

Solofar hielt inne. „Es gibt Fragen, auf die möchte man keine Antwort. Gerade jene, die die Angelegenheiten der ungekrönten Könige betreffen. Und wenn du nicht ebenfalls in ihre Reiche geraten willst, dann willst du auf deine Frage keine Antwort", sagte er, seine Stimme war kalt und ruhig wie das Wasser des Sees. „Denn ihre Spiele vermag nicht einmal Sliv zu spielen."

Cassius wandte sich ab und schwieg. „Tut mir leid", murmelte er schließlich. Will ich wirklich wissen, was er tut, all die Zeit, in der er fort ist? Einerseits war er entsetzlich neugierig, doch sein Verstand sagte ihm, dass er es nicht erfahren wollte. Zu belastend wäre es wohl.

„Nicht der Rede wert. Ich kann dir nur raten, dass du dich niemals auf meine Pfade begibst. Sie sind gefährlicher, als du es ahnen kannst." Solofars Ton wurde weicher. „Wie geht es Reaphalu?"

„Sie hält mich davon ab, den Verstand zu verlieren", schnaubte Cassius, der schwache Versuch, einen Scherz zu machen, doch allein ihr Name verlieh ihm ein warmes Gefühl der Sicherheit.

„Und Sliv?"

Es war jedes Mal aufs Neue merkwürdig, den ernsthaften, höflichen Elvengrave bei seinem Spitznamen benannt zu hören. Sliv. Es klingt nach einem lebensfrohen, stets gut aufgelegten jungen Mann statt nach dem überlegten und gelassenen Berater, den ich kenne. „Er schlägt sich mit mir gegen Baird. Wir werden siegen." Cassius lächelte milde amüsiert, und sah, wie Solofar es ihm gleichtat, wenn auch eher als eine kurze Grimasse als ein tatsächliches Lächeln. „Er lässt mir mehr Freiheiten, seit einigen Jahren schon, und ich schlage mich wohl recht gut. Zumindest habe ich noch keinen Bürgerkrieg ausgelöst."

„Setzt Baird dir sehr zu?", fragte Solofar beiläufig.

Cassius starrte ihn an. „Ja. Aber das werde ich selbst regeln, du wirst nichts dagegen tun", sagte er heftig. Er sah die Frage in den Augen seines Bruders und fuhr ruhiger fort. „Es gab einige, die behaupteten, ich würde nur nach deinen und Elvengraves Anweisungen tanzen. Dass ich nur euer Mittel zum Zweck bin, dass ihr die wahren Herrscher seid. Das habe ich geändert, gerade, da Elvengrave vor einigen Monaten längere Zeit fort war, und ich allein regierte, ohne Berater. Anscheinend hat sich nichts zum Schlechteren gewendet, und es soll auch so bleiben. Natürlich berücksichtige ich seine Vorschläge noch, aber ich kann mich nicht für immer hinter dir und deinen", er gestikulierte vage, „Geheimnissen verstecken. Gerade weil ich dir schon so viel verdanke." Ich konnte meinem Vater kaum besser beweisen, dass er sich in mir irrte, selbst wenn er es nie sehen konnte. Ich habe es zu etwas gebracht. Wenn auch mit mehr Hilfe, als ich es eingestehen wollte.

Solofar blickte ihn rätselhaft an. „Du hast recht", sagte er schlicht. „Doch du schuldest mir nichts, falls dir dies Sorgen bereiten sollte. Ich habe es nicht nur für dich getan."

„Solofar, ich verdanke dir mein gesamtes Leben. Mein Amt. Meine Pflichten, mein Reich, sogar Rea. Natürlich schulde ich dir etwas."

„Sliv hat es dir eingeredet, nicht wahr? Er und sein Edelmut." Solofar lächelte milde amüsiert.

„Das hat damit nichts zu tun", widersprach Cassius fest. „Wenn ich dir..."

Solofar blickte ihn an. „Es ist gut, so wie es ist. Wenn du mir wahrlich etwas zurückgeben willst, dann öffne mir stets das Tor, wenn ich eine Zuflucht brauche, so, wie es die letzten sieben Jahre lang war. Wenn es dir gelingt, das Haus Darke mit der Ehre weiterzuführen, die Sliv dir beibringt, dann wisse, dass es genau das ist, was ich immer gehofft habe, und dass es mir es niemals gelungen wäre." Er nickte ihm zu, wandte sich um und verschwand in dem Turm, in dem die Treppen in den Hof führten.

Cassius starrte ihn sprachlos nach. Ich werde das Gefühl nie loswerden, dass ich ihm etwas zurückgeben muss. Nun, wenn er mich um etwas bitten wird, werde ich es ihm geben müssen. Egal, wie unfassbar es klingt. Kurz versuchte er, sich auszumalen, was sein Bruder verlangen könnte, und vertrieb die Gedanken wieder aus seinem Kopf. Bei den Höllen, es ist mitten in der Nacht. Es gibt Wichtigeres als etwas, das vielleicht niemals eintritt. Er straffte die Schultern und ging in die entgegengesetzte Richtung davon, den Weg zurück, den er gekommen war. Rea wartete auf ihn, und er wusste, sie war alles, was er wirklich brauchte.


~ ~ ~

Jetzt wisst ihr fast alles über Solofars finstere Vergangenheit. Von der Angelegenheit mit den Skorpionen und dem Falken im Osten und ein paar kleinen, unbedeutenden Abenteuern, die nach und nach erzählt werden, einmal abgesehen. Unter anderem das etwas längere Abentuer über Lannigans Bann.

Nächste Woche.


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