Uhri!

Das muss das "Niemandsland" sein. Die Deutschen sind weg, die Russen noch nicht da. Die Zeit steht still. Keiner sagt etwas. Er trinkt einen Schluck gegen den Hunger. Nun kann es ja nicht mehr lange dauern.

Da! Schritte vor dem Fenster, Stimmen! Rufe!

Zwei Soldaten kommen in den Keller. Russen! Dreckig sehen sie aus. Außer Atem schauen sie sich um, sehen die Frauen, sehen ihn. Suchen nach Verstecken. Schauen hinter den Kohlenhaufen am Fenster, gehen wieder raus, nach oben. Aufatmen. Erleichterung. Während die Russen noch das Haus nach deutschen Soldaten durchsuchen, fangen die Frauen schon wieder an zu flüstern. Sollte es das gewesen sein? Mutter tätschelt ihn, küsst ihn, drückt ihn. Er spürt ihren Atem, hört ihr Herz schlagen, so nah ist er an ihrer Brust. Und es ist ihm gar nicht peinlich, nein, es tut sogar gut. Die Anspannung, die auch er gespürt hat, verschwindet allmählich.

Er muss wieder an die Pistole denken. Hätte er jetzt wirklich geschossen? Erst auf den einen, dann auf den anderen? Sie haben ihnen doch gar nichts getan. Und hätte er getroffen? Und was wäre dann geschehen? Wenn nochmal Russen kommen und die beiden Toten finden? Mutter hatte doch gut daran getan, ihm die Waffe wegzunehmen. Eng kuschelte er sich an sie.

Die Zeit vergeht. Nichts passiert. Der Gefechtslärm zieht weiter fort. Sie verharren still, trauen sich nicht heraus. Hier ist es sicher.

Da kommen wieder Russen! Sie gehen die Treppe herauf. Man hört sie in die Wohnungen gehen, sprechen, rufen, schießen. Scheiben klirren, Hausrat scheppert. Dann gehen sie wieder runter, kommen in den Keller. Sehen die Frauen, sehen ihn. Sprechen miteinander. Schauen auf die Frauen.

"Uhri!" sagt einer. Die  Frauen schauen nur auf den Boden. Mutter zittert. "Uhri!" ruft jetzt der zweite. Er zieht seinen Ärmel hoch und zeigt auf seine Armbanduhr. Die Frauen verstehen, machen schnell ihre Uhren ab und geben sie ihm. Frau Niemeyer hat keine, sie rührt sich nicht. Die Russen reden miteinander. Wieder: "Uhri!" und ein böser Blick zu Frau Niemeyer. "Vier Frau, vier Uhri!" 

Wo hat die Niemeyer denn ihre Uhr gelassen? Sie war doch so stolz auf sie! "Echt Gold" hatte sie  gesagt und sie ihm gezeigt, und er hat sie bewundert. Sie wird sie doch nicht verloren haben?

"Nix Uhri" sagt Frau Niemeyer und schaut den Russen an. "Vier Frau, vier Uhri!" ruft der zweite Russe wütend. "Nix vier Uhri - bumbumbum!" und er ziehlt mit seiner Maschinenpistole auf die Frauen.

Er hat Angst. Um sich, aber vor allem um Mutter. Wo hat die Niemeyer denn bloß ihre Uhr gelassen?!

Dann geschieht alles wie in Zeitlupe. Er sieht die Maschinenpistole, die auf seine Mutter zeigt. Spürt ihr Zittern. Sieht die Blicke der anderen Frauen ängstlich, auf den Boden gerichtet. Sieht Frau Niemeyers Blick, trotzig, ganz wach, auf den Russen gerichtet. Wie kann sie ihn nur so angucken! Sieht noch einmal den ersten Russen, wir er auf den Kohlenhaufen kletterte, fast ausrutschte. Sieht das Stück Zeitungspapier, das er mit seinem Stiefel tief in die Kohlen grub, und sieht Frau Niemeyers ängstlichen Blick dabei. Erinnert sich an ihr wütendes "Kommst du da runter! " 

Dann löst er sich von seiner Mutter, geht langsam an dem Russen vorbei zum Kohlenhaufen. Geht zu der Stelle, wo er zuletzt das Zeitungspapier gesehen hatte und sucht mit seinen Händen danach. Sein Herz pocht. Da ist es! Und... tatsächlich! Es ist etwas drin eingewickelt! Er holt es hervor, wickelt es aus und gibt dem Russen die goldene Uhr von Frau Niemeyer. Stille. Die Russen unterhalten sich kurz. Der eine tätschelt ihm die Wange, lächelt. Der andere geht zu Frau Niemeyer, schaut ihr lange ins Gesicht und sagt etwas auf Russisch. Dann gehen sie. 

Er geht zur Mutter, sie drückt ihn, schluchzt, weint. Die anderen Frauen sind leise, sagen nichts. Irgendwann gehen sie nach oben.
  

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