96| Angenehm - Dimmu

»Willkommen, Frau Wiehland. Sagen Sie, wie geht es Ihnen heute?«

»Gut. Sehr gut, um ehrlich zu sein. So gut wie lange nicht mehr. Sagte ich bereits, dass es mir gut geht?«

Antworte ich der blonden Frau, die sich vor mir auf den Boden gesetzt hat. Es scheint so viel Licht durch die Gitterstäbe, die mich von der Außenwelt trennen. Und trotzdem komm ich auf irgendeine Art und Weise einfach nicht umhin, mich 'n bisschen wie Doktor Hannibal Lecter zu fühlen. Man hat mich zwar zum Glück nicht auf 'ner Sackkarre und mit einem Mundschutz hier rein geschleppt, allerdings schaut man mich auf den Fluren so an. Ich will ganz ehrlich sein, irgendwie gefällt es mir. Sie haben Respekt und ich sitz auf dem Boden. Die Wände sind kahl, doch man sagte mir, ich darf sie irgendwann ganz bestimmt dekorieren. Für einen kurzen Moment hatte ich mit dem Gedanken gespielt, die Frage zu stellen, ob ich mir die Testikel von Andreas über mein neues Bett hängen darf, allerdings fand ich dann doch, dass es im Nachhinein keine besonders gute Idee war. Die Frau im weißen Kittel lächelt mich an und setzt sich auf. Wie schön, ich muss keine scheiß Zwangsjacke tragen. Ich könnte sie einfach erwürgen, aber das werd ich nicht tun, denn sie wirkt nett.

»Das ist schön. Freut mich sehr, mein Name ist Julia. Ich hab in den Medien von Ihnen gehört. Sie sind eine kluge Frau, deshalb werde ich Sie auch nicht behandeln, als wären Sie verrückt, denn das sind Sie nicht.«

»Angenehm. Und ironisch zugleich, dass ich ausgerechnet in 'ner Anstalt jemanden findet, der mir nicht den Verstand eines Kindes zuschiebt, das auf den Kopf gefallen is. Sie können mich Dimmu nennen, wenn Sie möchten.«

Schlage ich der freundlichen Blondine vor und halte ihr die Hand hin. Die Zelle, in der ich wahrscheinlich mein restliches Dasein fristen muss, is irgendwie mehr wie so 'n zu steriles Hotelzimmer, in dem ich vielleicht 'n bisschen entspannten Urlaub mach. Nur mit allzu weißen Wänden und 'nem Boden aus Kork, der allerdings lediglich so tut, als wär er aus scheiß Kunststoff oder was auch immer. Julia schüttelt meine Hand steht wieder auf. Ihr Blick ruht dabei allerdings nicht auf mir, denn sie scheint offenbar zu wissen, dass ich sie gut leiden kann. Ihre Anwesenheit stört mich nicht. Von mir aus könnt sie auch gern hier bleiben und mir weiterhin Gesellschaft leisten. Sie wirkt nicht wie die anderen Ärzte und Psychiater, die mir in letzter Zeit so begegnet sind. Ich glaube, sie is okay. Oder auch nicht und ich hab mich einfach nur geirrt. Wer weiß? Vielleicht muss ich ja einfach 'n bisschen warten und sie weiterhin analysieren. Jetzt steht sie an der Tür, in der Hand hält sie 'n Schlüsselbund so dick wie die Krampfadern von manchen Rentnern. Und sie lächelt noch immer. Es sieht so echt aus, nich so bescheuert aufgesetzt wie immer dann, wenn die anderen generischen Arschlöcher in weiß zu grinsen versuchen und sich wie die Heuchler, die sie sind, in Sympathie üben.

»Ich muss jetzt leider gehen und zu Ihrer Sicherheit werde ich die Tür verriegeln. Natürlich glaube ich nicht, dass Sie irgendwem sonst etwas antun würden, aber es gibt sehr anstrengende Menschen auf dieser Station. Menschen, die wirklich krank sind. Nicht wie Sie. Sie sind einfach nur missverstanden.«

Erwidert sie noch, kaum ein paar Augenblicke später is sie auch schon verschwunden und ich hab die schöne Stille wieder ganz für mich allein. Muss sie mit niemandem teilen. Es is wundervoll, so befreiend und ich zieh mich selbst langsam aber sicher auf die Beine, um ans Fenster zu stolpern. Dort draußen, auf dem Hof der Anstalt, herrscht einzig und allein reges Treiben. Zwei Kerle in weißen Hemden, die einen anderen Typen einzufangen versuchen. Er hängt sich in diesem Moment an den Zaun und scheint zu schreien. Das ganze Schauspiel sieht von hier oben auf eine groteske Art und Weise aus wie 'n verdammter Stummfilm. Vielleicht bin ich auch nur für kurze Zeit ein wenig taub. Aber das kann wiederum fast nich sein, denk ich mal, denn ich kann meinen eigenen Atem immer noch hören. Hier is es so viel besser als es in jedem Knast dieser Welt jemals sein könnte. In diesem Raum bin ich nämlich mehr als 'ne verschissene Banalität. Mich kennt hier zu allem Überfluss auch noch jemand.

Mein Gott, wär Andreas in diesem Moment hier, so würd er es sich ganz bestimmt nicht nehmen lassen, mich danach zu fragen, ob ich nicht vielleicht doch Kinder will. Ach, was red ich denn da? Er würde niemals fragen, das hat er schließlich noch nie getan. Andreas war dieser Typ Mann, der sich schlicht und einfach nahm, was er wollte, besonders dann, wenn er's sich nicht leisten konnte. Es gab nichts, das er nicht haben konnte und als ich ihn kennenlernte, so verwirrt und um ehrlich zu sein auch frei von jeglichen Hirnzellen, wie ich damals eben war, bewunderte ich ihn sogar noch dafür. Hätte ich nur gewusst, was das eines Tages mal für mich bedeuten würde, hätte ich ihn wahrscheinlich links liegen lassen, doch ich war dumm und es fehlte mir an der Hirnkapazität, um darüber nachzudenken. Allerdings is das jetzt nicht mehr von Relevanz und Andreas is auch nicht hier. Er ist tot und das ist auch gut so. Diese Welt is immerhin nich dafür bestimmt, von Arschlöchern wie ihm überrannt zu werden. Vielleicht ist es das, wozu sie die über die Zeit hinweg entwickelte, doch zugleich könnte sie so viel mehr sein.

Ich muss an die vielen Bullen denken und daran, was sie alle so schön infantil sagten. Was für 'ne scheiß Ironie, früher haben die Anderen und ich Nasen auf den Motorhauben ihrer Karren gezogen und heute muss ich mir so einiges von ihnen anhören. Dass mir die Todesstrafe gehört für dieses ach so schreckliche Verbrechen, das ich begangen hab. Bis zu 'nem gewissen Grad war es unter Umständen sogar noch irgendwie Notwehr. Ein bisschen. Vielleicht. Na gut, wahrscheinlich eher nicht aus der Sicht eines Menschen, der seit seiner Kindheit schon immer dem Gesetz folgte und es auf seinem Pfad in die scheiß Unendlichkeit nich ein einziges Mal wagte, vom scheinbar rechten Weg abzukehren. Was ist denn schon der rechte Weg? Ich weiß es nicht. Øyriøn könnte es mir bestimmt sagen. Ob ich wohl jemanden anrufen dürfte? Ich könnte vielleicht Julia fragen, wenn sie später irgendwann zurückkehrt. Bestimmt dürfte ich Øyriøn und die anderen Chaoten anrufen. Sie würden sich darüber freuen, mal wieder was von mir zu hören und ganz besonders Øyriøn oder auch Pin Pin würd ich sogar zutrauen, dass sie mich besuchen kommen. Gibt's hier eigentlich Besuchszeiten? Schon wieder so 'ne Sache, von der ich keine Ahnung hab. Wie von so verdammt vielen Dingen. Aber das ist schon in Ordnung, denk ich. Man muss nicht alles wissen, denn das macht irgendwann paranoid, ich hab's ja an Øyriøn gesehen. Er hatte manchmal schreckliche Schmerzen, einzig und allein vom Denken. Das is so 'n Zustand, den ich niemals erreichen will, wenn's denn möglich is.

»The only thing that works for me, help me get away from myself.«

Sing ich wie aus dem Nichts ganz leise vor mich hin. Ach, ich mochte die Nine Inch Nails schon immer irgendwie. Sie haben mir durch 'ne schlechte Zeit geholfen und mich auf irgendeine seltsame Art und Weise therapiert. Es hat mich allerdings nie zu irgendetwas inspiriert, Musik zu hören, es unterstützte mich einzig und allein dabei. Vielleicht. Irgendwie. Wenn ich mal ganz ehrlich bin, hab ich mal wieder keine Ahnung, was hier eigentlich abgeht. Die Sonne liebkost mein Gesicht und jagt meine gesunde Kellerbräune hinfort. Es fühlt sich gut an, hier zu sein und nicht im Knast. Und in dieser Hinsicht würd mir wahrscheinlich jeder zustimmen, wer würd denn auch schon freiwillig in den Bau wandern wollen? Mal davon abgesehen, dass die Gefängnisse in skandinavischen Ländern eher 'n bisschen wie kleine Hotels sind. Fast wie diese Anstalt, die sich um ehrlich zu sein auch nicht so anfühlt, als wär sie eine. Denn sie liegt wohl behütet im blickdichten Deckmantel einer eigenen kleinen Wohnung, von der manch einer nicht viel mehr als lediglich zu träumen vermag. Wer hätte gedacht, dass es mich rein gar nicht stören würd, in 'nem Raum zu sitzen, in dem ich völlig allein bin? Denn früher, als ich noch sehr viel jünger war, konnte ich mich selbst kaum ertragen und brauchte konstant irgendwen um mich herum. Vielleicht bin ich ja an mir selbst gewachsen. Unter Umständen auch durch Andreas. Ganz subtil.

Jetzt würde mich eure Einschätzung interessieren; könnte es sein, dass Dimmu wirklich an Andreas und dessen Art gewachsen ist?

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