94| Niemandsland - Øyriøn
Und als die Sonne Suizid beging, machten wir uns auf'n Weg. Jetzt sitzen wir in Shelbys Wagen und sie lächelt. Nein, sie grinst. Von einem Ohr bis zum anderen und ich frag mich um ehrlich zu sein, was sie so verdammt glücklich macht. Vielleicht das Wissen, dass nichts ewig währt und das so gesehen völlig in Ordnung is. Ich muss auch lächeln. Eines Tages werd ich draufgehen und wer weiß, unter Umständen dauert's ja gar nich mehr allzu lang. An mir zieht scheiß Neukölln in halsbrecherischer Geschwindigkeit vorbei und ich hoff, dass sich deshalb wer die Gliedmaßen bricht. Dieses Leben hat mich so krank gemacht, weshalb sollt ich ihm denn noch dankbar sein? Ich könnt mich selbst beschuldigen und in Selbstmitleid versinken und das tu ich auch. Doktor Maynard hatte schon auf irgendeine Art und Weise Recht. Ich bin erbärmlich.
Natürlich hat er's nich so gesagt, doch seine Augen sprachen Bände. Was für 'ne Kunst, einzig und allein mit Blicken zu kommunizieren. Wir leben schließlich in einer Welt, eben verdammt nochmal genau das nich gelernt zu haben. So auch ich. Mein Gedankenschlecht kann ich einfach nich für mich behalten und muss 'se sogleich mit der Welt um mich herum teilen. Und von der Ruhe mal ganz zu schweigen. Was is das schon in 'ner Gesellschaft, die unter dem Druck bricht, die ganze Zeit über irgendwann irgendwo irgendwer für irgendwen zu sein? So verdammt viel Hektik und die Menschheit zieht sich an sich selbst runter, statt miteinander zu wachsen. Sie folieren sich weg und ich schau ihnen schlicht und ergreifend zu. Es is morbide Kunst von hier oben und ich komm einfach nich umhin, es zu genießen. Ich bin 'n schlechter Mensch und ich liebe es. Shelby legt die Hand auf meinen Oberschenkel. Das Haar hat 'se schon längst wieder aufgestellt und wir brauchen in diesem Moment eigentlich keine Worte, denn wir verstehen uns im Stillen. Eigentlich. Aber ich muss jetzt sprechen, sonst verschluck ich mich an meiner eigenen Zunge und erstick dran. Vielleicht hab ich mir schon wieder in die Mundhöhle gekotzt.
»Sag mal, was hälst du eigentlich davon, wenn wir ins Niemandsland fahren? Ich hab das Gefühl, ich sollt mich dort mal wieder sehen lassen, ich war so lang nich dort und ich vermiss es so sehr.«
»Das Niemandsland? Meinst du zufällig 'ne Bar, die so heißt? Wenn ja, dann fahr ich da sofort hin, denn nach deiner Familie könnte echt 'n Absacker gebrauchen.«
Erwidert Shelby auf meine Frage hin mit 'nem lebenden Lächeln auf den rissigen Lippen. Es steckt so verdammt viel pure Schönheit in ihrer Mimik. Ich hab mein ganzes Leben lang nur Leute gesehen, die grinsen, weil 'se grinsen müssen und genau so hat's dann auch ausgesehen. Falsch. Wie das Plastik, das die Gesichter der Menschen schmückt. Verhängt. Verunstaltet. Vergewaltigt. Kommt doch alles aufs selbe raus. Mir geht's gut. Denk ich. Mein Vater hat sich von mir verabschiedet und mir zu allem Überfluss auch noch alles gute gewünscht, als ich ging. Das hat er ja noch nie getan. Wie das Leben so spielt. Shelby summt 'n schönes Lied vor sich hin, das in mir den Wunsch nach außen drängt, unsterblich zu sein. Würd ich Perfektion im Lexikon nachschlagen, hätt ich 'n Foto von ihr. Konjugieren Sie perfekt. Ich bin nicht perfekt. Du bist nicht perfekt. Er ist nicht perfekt. Sie ist nicht perfekt. Und so weiter. Aber Shelby. Sie is perfekt. Und wie. So viel besser als ich's bin und dennoch musst 'se leiden. Das is nich fair, hörst du, Gott? Du bist 'n Vollidiot, denn du hast mich zu einem gemacht, doch vergib ihnen, denn sie wissen nich, was sie tun.
»Glaub ich dir, aber das Niemandsland is das Dach von 'ner alten Fabrik. Früher war ich oft mit Pin Pin dort, weil's uns beruhigt und mit Inspiration zum Weitermachen versorgt hat.«
»Das wär mir jetzt ehrlich gesagt auch recht. Auf zum Niemandsland, du leitest mich. Den Weg kenn ich nämlich nicht, als Kind hab ich die alten Fabriken auch immer nur angezündet und bin nicht auf die Dächer geklettert.«
Meint sie daraufhin mit einem dreckigen Lachen, für das ich töten würd und tritt aufs Gaspedal. Hinter uns fährt 'n Bonzenschlitten. Die hab ich früher immer mit kleinen Kratzern versehen. Es glich am Schluss jedes verdammte Mal 'nem Picasso Gemälde. Alles is Kunst von hier oben, wie gesagt. Und die Apokalypse is, was du draus machst. Shelby lässt sich von mir navigieren, ich hab 'n wie von selbst integriertes Kartensystem, das mich auch komplett zugeschossen und kaputtgefixt noch nach Hause bringt. Ich weiß es, denn es is schon so verdammt oft passiert, dass ich voller Heroin zurück in meine scheiß Wohnung gefunden hab. Auf der anderen Seite will ich allerdings auch nich unbedingt behaupten, es sei 'n verdammter Segen, diese ranzige Bude wieder zu finden. Ich wohn dort, aber von leben kann ich nich sprechen. Klar, ich überlebe, doch wie viel hat das noch mit Genuss zu tun? Mit der Lust am Leben? Das hier is einzig und allein durch Shelby so richtig lebenswert geworden. Ich könnt heulen, bin ich doch völlig dehydriert vom Trinken. Immerhin haben wir vorhin kurz angehalten, es hat sich wie 'n kurzer Moment angefühlt, war's doch sicher so viel mehr Zeit, vor allem für mich, den Mann ohne Zeitgefühl.
»Pin Pin ist sein Name also? Erzähl mir mal was von ihm, du scheinst ihn ja schon eine ganze Weile zu kennen. Seid ihr zusammen zur Schule gegangen?«
»Ja, wir haben beide Abitur. Was für 'ne Überraschung, nich wahr? In diesem scheiß Gymnasium war er so ziemlich mein einziger Freund und wir haben wirklich oft zusammen rumgehangen. Mann, was wir alles angestellt haben. Man könnt sagen, wir sind Seite an Seite abgestürzt. Wir haben rebelliert, weil wir sonst nichts besseres zu tun hatten. Es war die Hölle und wir haben's genossen.«
Sag ich in aller Ruhe und mein Kopf dröhnt mal wieder, als hätt ich 'n Tumor. Manchmal denk ich in der Tat, es is einer. Das wär schon irgendwie ironisch. Da rauch und fix ich fast mein ganzes Leben lang und der Dank dafür sind heile Eingeweide. Manchmal, aber nur manchmal is es eben 'n bisschen schmerzhaft, 'n Mensch zu sein und für mich braucht's auf der anderen Seite auch 'n wenig mehr als 'ne bloße Erkenntnis, um zu verstehen, dass es schön is, am Leben zu sein. Ich vermiss es irgendwie schon wieder, taub zu sein. Vor gar nich allzu langer Zeit hab ich rein gar nichts gefühlt und deshalb wusst ich auch nich, ob ich glücklich bin oder nich. Ob ich's wohl bereu, zu spüren? Um mal ganz ehrlich zu sein, ich hab nich mal den Hauch einer verfickten Ahnung und das is auch irgendwie okay, schätz ich mal. Shelby singt The Girl Who Wants To Die Everyday und ich würd sie in Momenten wie diesen so verdammt gern heiraten, doch 'ne Hochzeit is unglaublich teuer, hab ich mal von irgendwem gehört. Und ich hab kein Geld. Ich brauch es doch schließlich, um mir meinen Todesunterhalt zu bezahlen. Das Heroin, das mir in die verpesteten Organe rotzt, würd ich vor ihm sterben. So läuft's eben in scheiß Neukölln. Sei reich oder stirb. Sei 'n Glückspilz oder werd von irgendeiner Scheiße abhängig. Sei 'n guter Mensch und stirb. Wer braucht schon die Höflichkeit in der Gesellschaft, in der in zwei Klassen gedacht wird? Einst bricht das System und ich säg solange am Stuhl, wie gesagt. Mit einem Mal dreht Shelby den Kopf zu mir und die Fürsorge in ihren tödlich schönen Augen erstickt mich um ein Haar. Gut so, denn Romantik mag ich bloß dann, wenn's am Ende Verletzte gibt.
»Weißt du, manchmal hab ich das Gefühl, du hättest das Zeug, um dieses scheiß Land zu regieren. Du kannst gut reden, aber dann fällt mir immer wieder ein, dass Politik 'ne Lüge ist und das liegt dir nicht.«
»Da vergisst du allerdings was. Ich bin 'n Junkie und die können lügen, ohne rot zu werden.«
Erwider ich und schau für 'n kurzen Moment nur zum Fenster raus. Die Welt zieht an mir vorbei wie 'n Haufen Farbe auf grauem Hintergrund. Und manch einer nennt diesen mit Pestiziden verseuchten Tumor hier zu allem Überfluss auch noch 'ne Stadt. Wie war das noch gleich? Blind sind die, die Augen haben und doch nich sehen können. Ich muss irgendwie an die Pestkönigin denken. Sie is 'ne Anti-Heldin. Vielleicht. Shelby schüttelt zu meiner Seite den Kopf.
»Du bist kein Junkie, Oliver. Du warst einfach nur gelangweilt von der Realität.«
Wenn ihr an dieses Buch denkt, welchen Song oder welche Band verbindet ihr damit? Bei mir ist es Alice In Chains.
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