87| Heimatlüge - Charlie
»Was is denn eigentlich los mit dir? Du wirkst so bedrückt.«
»Es ist dieses Weib, das wir da vorhin getroffen haben. Diese Oksana. Sie war mal meine Freundin, vor ein paar Jahren.«
Antwortet Tonic wider Erwarten auf meine Frage und würgt den Mustang ab. Wir sind inzwischen aus'm Park verschwunden, weil irgendwann die Bullen aufgetaucht sind und wir uns beide nich so sehr drauf einstellen können, im Knast zu sitzen wie Dimmu es jetzt wahrscheinlich tun wird. Was für'n scheiß Jammer. Auf der anderen Seite kann ich's mir um ehrlich zu sein nur sehr schwer vorstellen, dass Tonic mal 'ne Freundin hatte. Also 'ne echte Beziehung. Nicht das, was er da immer mit wechselnden Damen abgezogen hat, sondern 'ne wirkliche Beziehung. Manifestierend auf ehrlicher Liebe und Vertrauen. Tonic is 'n Kampfficker, wie Øyriøn uns eigentlich schon immer gepredigt hat.
»Die hast du doch bestimmt nur gefickt. Das Wort Freundin kannst du nicht mal ausschreiben, Alter.«
»Kann ich wohl und ich hab Oksana geliebt. Sie war so schön und ganz ehrlich, vielleicht hätte ich es eine ganze Weile mit ihr ausgehalten, aber es hat wohl nicht sein sollen. Lass uns endlich rein gehen und was essen, es ist kalt und meine Klöten frieren mir an die Oberschenkel.«
»Was für 'n lustiger Zufall, ich hab warme Hände.«
Neck ich ihn und Tonic kneift mir in die Wange, dann steigt er aus'm Auto und schweigt sogar beim Essen. Was seltsam is, denn normalerweise hat er immer was zu erzählen. Und wenn's nur irgendeine Affäre aus'm Büro is. Gestern war er übrigens tatsächlich arbeiten. Er hat mir erzählt, wie sein Chef ihm in den Arsch kriechen wollte, als er gekündigt hat und ich kann's mir noch immer nicht so richtig vorstellen, dass er jetzt keinen Job mehr hat. Er wolle ja schließlich mit mir in den Westen fahren oder ans Meer, hat er gesagt. Doch jetzt wirkt er irgendwie tödlich deprimiert und stochert nur in seiner wahrscheinlich abgelaufenen Tiefkühlkost herum. Ein verdammtes Bild des Jammers und selbst Muschi scheint zu merken, dass mit ihm etwas so gar nich in Ordnung is. Ich hab das Gefühl, Tonic helfen zu müssen, also greif ich einfach nach seiner Hand und halt sie fest. Er hat sogar auf'm Handrücken Einstiche.
»Was hast du denn? Sprich mit mir. Bitte.«
»Ich liebe dich, Charlie. Wenn ich an Oksana denke, weiß ich wieder, was ich an dir hab. Du bist ein wundervoller Mensch und sie porträtiert nur meine Unsicherheit. Ich will sie gar nicht wieder zurück, aber irgendwas an ihr macht mich fertig. Diese toten Augen, sie ist vollkommen abgestürzt und ich will nicht so enden wie sie.«
Stammelt er und seine Stimme wird immer leiser. In meiner Brust hör ich mein scheiß Herz heulen, es hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, weil's das Drama nicht mehr ertragen kann. Und bevor ich aus Empathie auch noch zu heulen anfangen kann, nimmt Tonic mein Gesicht in seine Hände und sieht mich an. Es liegt so verdammt viel Schmerz in seinen trüben Augen und ich kann einfach nich glauben, dass ich all die Jahre über nie gesehen hab, wie gebrochen er eigentlich is. Um ehrlich zu sein hab ich Tonic immer für 'n selbstsüchtigen, starken Menschen gehalten, der 'n Fick auf die Gefühle Anderer gibt und ich wusste nicht, dass er überhaupt Tränendrüsen hat, aber ich hab mich wohl geirrt. Auch er hat Träume und Ängste, was ihn nur noch menschlicher macht. Ich weiß nich so recht, wie er funktioniert, doch mir is klar, dass er wie jeder verdammte Mensch hier in scheiß Neukölln 'n Trauma mit sich herum schleppt und plötzlich lächelt er mich an. Mit Tränen in den Augen.
»Und wenn du an einer Überdosis sterben würdest, Gott, ich könnte es mir niemals verzeihen. Es ekelt mich an, mich selbst zu sehen und ich will das alles nicht mehr. Lass uns clean werden, Charlie. Lass uns aufhören mit dem Scheiß und später reisen. Egal, wohin du willst. Ans Meer oder in die Berge, in die Karibik oder hoch nach Skandinavien, es ist mir scheißegal, ich will nur weg von hier. Mit dir.«
»Das wär 'n Traum. Aber denkst du, wir könnten das? Clean sein? Sind wir nich irgendwie dazu prädestiniert, zu versagen und am Heroin zu sterben?«
Und mit einem Mal bin ich's schon wieder, der hoffnungslos klingt. Nein, ich bin nur realistisch. Ich kenn keinen Junkie, der's jemals raus geschafft hat und sich 'n vollkommen normales Leben aufbauen konnte, obwohl das doch insgeheim alles is, was ich will. Ein kleines bisschen Normalität. Regeln und irgendwen, der mich nich wieder verlässt. Am liebsten Tonic, doch das hier is nun mal scheiß Neukölln und es hält dich fest. Es hat noch jeden zurück in seine garstigen Fänge geholt und wir sind machtlos. Ich fühl mich schuldig und so schrecklich klein. In dieser Welt kann ich doch rein gar nichts bewegen. Aber, oh verdammte Scheiße, ich will unbedingt reisen. Ich will. Ich will. Ich will. Raus aus scheiß Neukölln und mir einfach alles ansehen, das mir verwährt wurde, doch auf der anderen Seite hab ich unvorstellbare Angst vor dem, was mich erwartet, wenn ich eines Tages clean sein sollte. Ich hab doch angefangen zu drücken, um der schrecklichen Realität zu entkommen und die möchte ich auf keinen Fall zurück. Tonic küsst mich auf die Stirn und wirft seinen Teller im Anschluss gegen die Wand. Er springt auf und wendet all seine verbliebene Kraft auf, um den Tisch umzuwerfen.
»Scheiß drauf. Fick das Heroin, ich will das nicht mehr und da bin ich nicht allein, das kannst du mir nicht erzählen. Schreiben wir uns zum kalten Entzug ein. Die Schmerzen sind es wert, ich könnte keine Reise je genießen, wenn ich noch diesen verfickten Stoff brauche, um zu leben. Ich will die Welt ungefiltert sehen, mit all der Scheiße, vor der wir davon laufen. Bist du dabei?«
Fragt er mich mit irrem, aber dennoch nicht minder scharfem Grinsen und hält mir fast schon feierlich die Hand hin, als gäb's 'n Vertrag zu unterschreiben, ich schlag ein.
»Scheiße, ja! Lass uns 'n neues Leben beginnen. Gleich morgen früh.«
Ruf ich ihm entgegen und er fängt wieder an zu lachen. So is er irgendwie kaum noch mit dem gefühlskalten Ficker zu vergleichen, der er mal war. Seine Fassade is gebröckelt und trifft mich zum Teil am Kopf, aber ich stör mich um ehrlich zu sein nich groß dran. Es is zwar eigentlich noch gar nicht so schrecklich spät, allerdings gehen wir trotzdem ins Bett. Irgendwie hat's ja auch was, sich in ein Bett zu legen, dass nicht grad nach Frittenfett und nassem Hund riecht. Ach was, meine Wohnung hat nich gerochen, sie hat gemieft und in den Wänden waren sicher Tote eingemauert. Ganz so kam es mir all die Jahre vor. Ich würd meinen Vermieter, diesen schmierigen, ekelhaften Scheißkerl, am liebsten noch heute anrufen und ihm sagen, dass ich die den Mietvertrag, unterschrieben mit meinem Blut, fristlos kündigen will, doch auf der anderen Seite bin ich schon wieder so müde, denn das Heroin droht mir damit, nachzulassen. Ich bin mir sicher, ganz allein werd ich diesen scheiß Entzug niemals durchstehen. Dazu bin ich überhaupt nicht stabil genug. Ich bin mehr so labil und irgendwie auch so passiv in letzter Zeit.
Tonic sitzt auf der Bettkante und schält sich aus seiner Jeans, warum auch immer trägt er stets saubere Kleidung. Meine is ganz klischeehaft voller widerlicher Flecken, völlig egal, wie oft ich das Zeug waschen würde. Manchmal bin ich unfassbar angeekelt von mir selbst, dann kann's ich's schier nicht mehr aushalten. Mich nicht. Diese Welt nicht. Und auch keinen sonst. Auch Tonic is offenbar müde, denn er gähnt und wirft sich seitlich ins Bett, unter dem grauen Shirt zeichnen sich die Schulterknochen ab, es is beruhigend und beängstigend zugleich, dass das Heroin langsam aber sicher ebenso an ihm nagt. Und so leg ich mich zu ihm, den Kopf auf seine Brust und er hält mich einfach fest. Wir sprechen kein Wort miteinander, denn scheinbar verstehen wir uns blind. Wie kitschig, find ich, aber es is gut so, denn Tonic liebt mich, also geht meine kleine Welt in diesem Moment nich unter. Vielleicht bin ich längst im Himmel, denn viel zu oft fällt es mir schwer, zu glauben, dass ich all das hier wirklich verdient hab. Tonic sieht auf mich hinunter, sein Blick so fürsorglich, sein Atem so ruhig. Er lächelt und es erscheint mir ein bisschen wie Kunst von einem dieser Menschen, die als Künstler verkannt sind.
Ich bin am Überlegen, ob ich vielleicht irgendwann eine Art Reisetagebuch von Tonic und Charlie verfassen sollte. Was haltet ihr von der Idee?
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