79| Schlachthaus-Blues - Øyriøn

Verdammt, in dieser scheiß Praxis riecht's schon förmlich nach Hoffnungslosigkeit und auch 'n bisschen nach Desinfektionsmittel, aber die Trauer liegt im Vordergrund. Ähnlich, wie wenn ich 'n Blick in die Fußgängerzone werf. Bloß schwerfällige Leute mit unzufriedenen Fratzen aus Plastik und Pest. Sie sind nich glücklich, weil 'se ihre Zeit verplempern für'n scheiß Job, der 'se grad so über die Runden bringt und ihnen nich die kleinste verfickte Freiheit bleibt, um auch nur für 'n kurzen Moment 'n Mensch zu sein, statt 'ner seelenlosen Maschine. Und ich dazwischen. Ebenfalls unglücklich und todessüchtig. Das System verachtend und die Leute bemitleidend. Scheiß drauf. Bin Warter und Aktionist. Mein Dogma is das Heroin und Shelby lächelt mich aufmunternd an. Sie hat mich zum Arzt geschleppt. Sei ja nich normal, dass ich so viel kotz und sie wolle nich, dass ich draufgeh.

Das Wartezimmer stimmt mich fröhlich. So viel Leid hier drin, das es zu analysieren gilt. Ich mag scheiß Neukölln in der Hinsicht, 'n Paradies für Psychologen und alle, die's werden wollen. Nirgendwo sonst findet man so viele kopfgeschädigte Arschlöcher und traumatisierte Wichtigtuer. Schöne Stadt von außen, aber lass die verfickte Tür bloß zu. Sonst siehst'e nämlich, dass hier drin gestorben wird wie am Fließband. Wir werden in scheiß Neukölln ins Grab geboren. Meine Zunge brennt. Hab ja schließlich die Sonne gefressen, damit ich nich mehr fühlen muss. Hat nur leider nich funktioniert. Es soll wieder dunkel sein, ich ertrag den Tag nich und es macht mich mürbe, auf'n Beinen zu sein. Ich will nich mehr. Komm schon, ich geb auf, könnt ich denken und der Sensenmann winkt mir. Zur Antwort kriegt er den dicken Finger. Fick dich. Geh nach Hause und keul dir einen auf 'ne hübsche Leiche. Das hier dauert noch. Irgendwer singt ganz leise was von Nine Inch Nails. Closer, schätz ich mal. Geiler Song. Hab mir schon 'n Schuss dazu gesetzt und mir dabei immer vorgestellt, ich sei 'ne Platte. Die Nadel kratzte nur so schön über meine Haut. Ich hab's genossen, für'n Moment einfach nich dran denken zu müssen, dass ich eigentlich nich mehr bin.

»The only thing that works for me, help me get away from myself. I wanna fuck you like an animal. I wanna feel you from the inside.«

Sing ich deutlich lauter und der Jugendliche mit dem Gips hebt perplex die Augenbrauen. Er hätt wohl nich gedacht, dass ich lebe. Find ich auch überraschend, an manchen Tagen fühl ich mich, als wär ich 'n Zombie, den man nur der Not wegen aus'm Grab zurück geholt hat. Dann setz ich mir für gewöhnlich 'n Schuss und für 'ne gewisse Zeit kann ich das Leben auf meiner trockenen Zunge schmecken und mich zugleich 'n bisschen betäuben, um nich zu viel spüren zu müssen. Es gab mir Macht, zu entscheiden, wie ich mich fühl und ich war der Gott meines eigenen kleinen Planeten. Wer dort auf Stütze war, konnte tatsächlich davon leben und musste sich nich für 'n paar müde Scheine prostituieren. Is die Hölle, musst ich mir schon oft genug anschauen. Für 'ne Prostituierte hab ich immer Feuer statt Verachtung und die Augen des Jungen sind starr. Auf mich gerichtet. Er öffnet den Mund, klingt wie zwölf, sieht aus wie siebzehn. Arme Seele.

»Sie sind 'n Junkie, oder?«

»Scheiße, ja, ich bin der König der Junkies und die da hat mir die Krone genommen. Seh ich so schlimm aus?«

Will ich grinsend wissen. Is natürlich 'ne rhetorische Frage, das is sogar mir bewusst, obwohl mein Hirn in diesem Moment gegen meine Schädeldecke pocht und nach außen drängt. Mir läuft die Nase recht heftig und braunes Blut tropft stetig vor mir auf den Boden. Der Junge verfolgt jeden der Tropfen mit den Augen, während Shelby noch immer mit dem Arzt spricht. Die zwei bemühen sich so sehr um Diskretion, was gar nich nötig wär. Immerhin weiß ich doch, was ich bin und auf der anderen Seite hab ich rechts 'n mächtigen Hörschaden. War auf 'nem Konzert, vor Jahren schon. Stand direkt neben den Boxen. Erste Reihe, Motörhead, war verboten geil. Hab nur anschließend auf die Fresse bekommen und als ich aufwachte, hab ich auf'm rechten Ohr nur noch bedingt gehört. Is seitdem nich grad besser geworden. Ich bin wohl durch und durch kaputt. Schön. Passt zu mir. Der Junge mit dem Gips schenkt mir 'n Lächeln.

»Ich hab's an den Augen gesehen. Die sind gelb und Ihre Arme voller Einstiche. Meine Mutter wäre bestimmt nicht freundlich zu Ihnen.«

»Und ihre Augen sind sicher leer. Man könnt 'se auch genauso gut mit 'nem Löffel rauskratzen, weil deine Mutter blind is. Sie hat Augen und kann dennoch nich sehen. Lass mich raten, sie arbeitet viel, nich wahr?«

Geb ich zurück, der Junge nickt betreten und schaut fast schon beschämt zu Boden. Ich seh zu Shelby rüber, sie spricht immer noch mit dem Arzt, der 'n formal, aber höflich wirkender Typ mittleren Alters in weißem Kittel is. Gott, wie hübsch Shelby auch aus der Ferne aussieht. Manchmal würd ich mir gern das Gesicht abreißen und es ihr schenken, damit sie's als schützende Maske tragen kann und sich nich die Blöße geben muss, mit mir gesehen zu werden. Sie is nobel und ich bin schäbig wie Hölle. So oft schäm ich mich für das, was aus mir geworden is, über all die Jahre. Vielleicht hätt ich mich längst mit 'ner Überdosis aus'm Leben kicken sollen, denn manchmal is der Schmerz lästig. Pein is Leben. Und das Leben is 'ne ungnädige Fotze, in der jeder schon mehrfach den Schwanz drin hatte. Bullshit, ich hab genug, ich muss hier raus. Mir platzt der Kopf und mein gelbliches Hirn fließt die weißen Kacheln entlang. Groteske Ästhetik und die Künstler schütteln sich darauf einen von der Palme. Die Poeten schreiben ganze Bände drüber und schneiden sich im Anschluss die Kehle auf, zu betroffen sind 'se von mir und zu sehr haben 'se drüber nachgedacht, wer ich war und was aus mir wurde. Die Kinder spielen mit meinem Hirn und meine nicht ausgelebten Gedanken ziehen wie Rauch durch Raum und Zeit. Extremsterben meinerseits. Es is wunderschön. Ich will gar nich mehr unsterblich sein. Stattdessen schaut mich der Jungen wieder an.

»Sie sieht nicht mehr, was sie früher so glücklich gemacht hat, da haben Sie schon Recht. Wie heißen Sie eigentlich?«

»Kannst mich Øyriøn nennen.«

»Øyriøn?«

Echot er und ich nick bloß zustimmend. Ich glaub, ich kann mich in diesem anscheinend gar nich mehr endenden Moment wieder dran zu erinnern, wie der Name überhaupt zustande kam. Rauschgift. Zufriedenheit für die Sekunde. Aufgeputschte Müdigkeit und Steroide. Ich war mit Pin Pin saufen und hatte zu viel. Nur 'n bisschen, aber grad so genug, um mich zu übergeben. Ich hab das Gefühl, durch meinen Magen fließt das Universum und manchmal muss ich's einfach rauslassen, hab ich damals gesagt und Pin Pin hat bloß gelacht, dann hab ich gesehen, dass ich auf meinen damals nich laminierten Ausweis gekübelt hab. Der Ausweis, den ich zuvor dafür verwendet hab, mir 'ne Line zu bauen, auf 'nem absolut schiefen Tisch in 'ner schmierigen Bar mit hochgestochenen, zugekoksten Geschäftsläuten, die sich mal eben 'n Absacker und 'n Fick holen wollten. Die Buchstaben auf meiner Papieridentität waren zu Vokalkotze mit Whiskeygalle verlaufen und Pin Pin meinte, es sähe irgendwie 'n bisschen aus, als stünde dort Øyriøn und so ward mein neuer Rufname geboren.

»Is 'ne Ableitung von Oliver. So nennen mich die anderen Arschlöcher hier in der Gegend immer. Wie heißt du?«

»Sven.«

»Okay, cool. Ich hab die Welt beim Abstauben vom Regal geschmissen und mich an den Scherben geschnitten. Is in deinem Kopf auch was nich ganz richtig?«

»Keine Ahnung, aber ich glaub, ich wär ganz gern wie Øyriøn.«

»Warum nich wie Oliver? Den versuch ich nämlich grad wieder zu finden.«

»Oliver scheint jemand, der Sie nicht sein wollen. Deshalb sind Sie lieber Øyriøn, weil Sie das Gefühl haben, dass Sie als Oliver niemand liebt.«

»Könntest Recht haben, ich mag Oliver nich so sehr, er is schwach und braucht Heroin, um glücklich zu werden. Øyriøn is alles, was er sein will.«

»Aber Ihre Freundin hat Oliver lieber, sonst wär sie längst weg, schätze ich.«

»Bist 'n guter Kerl, Sven.«

Sag ich zum Abschied und steh langsam auf, weil Shelby nach mir gerufen hat. Unter mir sinkt der Stuhl durch den Boden ins Untergeschoss und Sven lächelt. Cooles Kind, echt. Der Arzt schüttelt mir die Hand, doch ich versteh ihn nich, weil in meinem Kopf Breed von Nirvana läuft. Jetzt wird's ernst. I don't care, I don't care, I don't care, I don't care, I don't care, I don't care if it's old. I don't mind, I don't mind, I don't mind, I don't mind, I don't mind, if I don't have a mind.

Sven ist irgendwie ein netter Nebencharakter. Was haltet ihr eigentlich davon, wenn ich irgendwann am Ende des Buches ein paar Sitzungen von Øyriøn und einem Therapeuten anhänge?

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