75| Kindheitsbewältigung - Charlie

Es is schön, mal gar nichts sein zu müssen. Tonic flennt. Ich flenne. Wir sind beide scheiß Heulsusen und ich will diese verdammte Asche nicht mehr in meiner ranzigen Bude stehen haben. Ich weiß noch, wie sehr ich innerlich geflucht hab, als mein Alter zwei Tage nach seiner Beerdigung nochmals ausgegraben wurde, weil man sein Testament erst im Nachhinein richtig gelesen hat, um festzustellen, dass er eigentlich verbrannt werden wollte. Es hätt alles so einfach sein können, doch der Arsch wollte, dass ich die Urne bekomm, weil ich ja immer sein hübsches Mädchen war. Gott, mir kommt gleich die Kotze wieder hoch. Nur Tonic, der mir über den Rücken streicht, beruhigt mich irgendwie. Mein Blick klebt trotzdem an der kack Urne. Sie muss weg und zwar gleich.

»Tonic, ich will meinen Vater nich mehr in diesem Raum haben. Lass uns seine Asche durch die Nase ziehen.«

»Hä? Bist du irgendwie verrückt geworden? Du kannst nicht einfach Asche schniefen. Ich verstehe dich wirklich, aber das würde zu weit gehen, findest du nicht auch?«

Tonic versteht nicht so ganz, was ich von ihm will und ich kann ihn ehrlich gesagt gut nachvollziehen. Man wird ja auch nich jeden Tag gebeten, sich 'n bisschen menschliche Asche durch die Nase zu ziehen wie Koks. Is immerhin 'n wenig billiger, wenn wir vom Geld reden würden, doch die Tatsache, dass diese verfickte Urne dort voll mit meinem Vater is, hat mich meinen scheiß Verstand gekostet. Und so viele Dinge. Manchmal, wenn ich wieder mal nich schlafen kann, stell ich mir ganz gern vor, was aus mir geworden wär, hätt ich 'n liebenden Vater und nicht so 'ne altmodische Mutter gehabt. Und dann fang ich jedes Mal aufs neue wieder an zu heulen, weil ich bemerke, wie viel mir in meinem Leben eigentlich verwährt wurde. Ich bin kaputt. Verkorkst und völlig am Arsch, doch ich lebe immerhin noch und das is schließlich alles, was am Ende zählt, nicht wahr? Ich will nicht mehr ich sein. Schon wieder. Tonic hilft mir allein durch seine Anwesenheit. Er küsst mich auf die Wange und lächelt mich schief an. Ich wusste gar nicht, wie gut er aussieht, wenn er das tut.

»Mann, wir sind Junkies, also scheiß mal auf Moral und lass uns meinem Alten beseitigen.«

»Scheiße, na gut, wenn du so mit all dem Dreck abschließen kannst, würde ich auch eine Leiche ficken.«

Erwidert er so ungewöhnlich höflich, dass ich für 'n kurzen Moment nur das trügerische Gefühl hab, im falschen Film zu sein. Tonic schiebt mich 'n Stück von sich weg und steht auf. Vor dem Regal, auf das ich meinen Vater verbannt hab, bleibt er kurz stehen und seufzt kaum hörbar, doch in diesem ranzigen Raum bestehend aus Schimmel und Geruchsfetzen aus dem Asbest Imbiss unter meiner Wohnung is es totenstill, also bemerkt man einfach jedes noch so leise Geräusch und Tonic fängt an zu schwitzen. Ich kann's ihm deutlich ansehen, ganz schön zögerlich für 'n Kerl, der früher immer die Toten auf der Straße bestohlen hat, mit der Ausrede, die Leichen würden weder Geld noch Drogen brauchen. Eigentlich hat er ja Recht, es sieht trotzdem komisch aus, wenn einer an 'nem Toten rumfuhrwerkt und ihm die Taschen leert, um sich selbst damit zu bereichern. Symphatischer Arsch. Ich grab in meinen Taschen nach 'nem Scheinchen, das uns helfen könnt, doch ich bin blank und so muss ich wieder aufs Papier zurückgreifen. Scheiße aber auch. Papier is nämlich leider nicht immer ganz zuverlässig und ich sollt mir wirklich stabile Papes kaufen, doch leider hab ich dafür kein Geld. Das is wahrscheinlich immer noch das größte Übel am Junkiedasein. Wenn man sich nichts mehr leisten kann, das einen glücklich macht. Verdammt.

»Also gut, dann lass uns einen Toten schniefen. Scheiße, das hab ich noch nie getan, das kannst du mir glauben.«

»Nur allzu gern, andererseits könnt ich dich fast mit Dimmu vergleichen, was die Verrücktheit angeht. Komm schon, schütt den alten Wichser auf'm Tisch aus.«

Fordere ich, als Tonic schließlich ungewöhnlich zitternd mit dieser verkackten Urne unter dem Arm zu mir zurück kommt und den Deckel aufschraubt. Dabei fällt mir irgendwie erst jetzt so richtig auf, dass seine Fingerkuppen ganz gelb sind. Scheiße, Tonic raucht so viel, sonst hätt ich mich vielleicht drauf festlegen können, ob's am Tabak liegt, oder ob er nicht doch langsam die Gelbsucht kriegt. Bei mir fängt sie nämlich schon mächtig an und bei Øyriøn is sie schon seit 'ner Ewigkeit in vollem Gange. Wir sind allesamt dabei zu sterben, aber wir interessieren uns einfach nich dafür. Das is schon in Ordnung, schätze ich mal. Tonic atmet tief durch, ehe er sich auf den Boden kniet und den gesamten scheiß Inhalt dieser verfickten Urne auf die Tischplatte kippt. Ich muss mir schon wieder vorstellen, wie er mich aus seinen glasigen Augen anstarrt und sich fast nicht mehr halten kann. Und keiner stirbt als Jungfrau, das Leben fickt uns alle, wie Kurt Cobain zu sagen pflegte.

»Also gut, lass uns 'ne scheiß Kindheit bewältigen.«

Bestimm ich und reiß 'n Blatt Papier in zwei Hälften, um Tonic auch eine davon zu reichen. Er schüttelt bloß den Kopf und grinst mich ahnungslos an, als hätt er sich in seinem ganzen Leben noch nie irgendwas durch 'n kleines Rohr gezogen. Zugegeben, Asche und weißes Pulver unterscheiden sich in gewisser Weise voneinander, aber wenn sich hier einer anstellen sollte, dann ich, denn es is mein Vater, der sich hier vor uns über den ganzen Tisch verteilt hat und mich noch immer gierig ansieht. Jedenfalls wirkt es irgendwie auch nach all den Jahren noch so auf mich. Scheiße, ich merk schon wieder, wie ich Panik bekomm und bevor mein verdammtes Herz mir wieder durch den Rachen tropft, roll ich das Papier auf und setz es an. Es zirkuliert noch immer das Heroin in meinem Blutkreislauf und es hilft mir dabei, meinen Vater durch die Nase zu ziehen. Es reibt irgendwie 'n bisschen an den Schleimhäuten, die Asche is verboten klumpig und wahrscheinlich auch nicht dafür gemacht, als Koks Ersatz verwendet zu werden, doch was soll's? Scheiß drauf.

»Du bist echt verrückt, Charlie. Ich liebe dich, weißt du das eigentlich?«

Lacht mir Tonic dreckig entgegen und rollt seine Hälfte des Papiers ebenfalls auf, es liegt so verdammt viel Asche auf diesem Tisch, die werden wir ja nie los. Vielleicht müssen wir's auch auf zweimal davon schaffen, das wär die Hölle, denn ich will meinen Vater nicht mehr in meiner verdammten Bude haben. Es is wirklich an der Zeit, loszulassen und mit meiner Kindheit abzuschließen, aber das wird nich funktionieren, wenn seine scheiß Urne immer noch hier rumsteht und mich jedes Mal aufs neue deprimiert, wenn ich am Morgen aus dem Bett kriech, um meine traurige Existenz fortzuführen. Scheiße, die Asche muss endlich weg. Ich genehmige mir noch 'ne Line vom hausgemachten Trauma und ich spür fast schon im selben Moment, wie es mir irgendwie hilft. Tonic fixiert mich mit seinen aufmerksamen Augen, während mein Vater durch seine Nebenhöhlen wandert und sich in ihm verewigt, wie er's auch in mir getan hat. Nur auf 'ne andere Art und Weise. Ich werd ihm nie vergessen, was er grad für mich tut. Patrick Krupp, du bist mein Therapeut und ich liebe dich, verdammt nochmal.

»Klar, du hast es vor allen Anderen gesagt, offizieller wird's nich.«

'Ne dritte Line. Gleich wird's mir wirklich schlecht. Bloß nicht aufhören. Nicht jetzt. Einatmen. Vater, ich hasse dich. Ausatmen. Verschwinde endlich aus meinem Leben. Einatmen. Noch 'ne Line. Ausatmen. Ich atme nicht, ich kotze und ich hab irgendwie das Gefühl, dass es staubt, wenn ich schnaufe. Tonic lacht leise und zieht seine vierte Line. Verdammt, er is so viel schneller als ich. Kein Problem, es zählt nur, dass mein Alter mich endlich nich mehr belästigen kann. Die bloße Anwesenheit seiner Überreste macht mich nervös und erinnert mich an alles, was ich schon immer so sehr verachtet hab. Irgendwann fing ich an, das ganze Leben an und für sich irgendwie zu hassen, weil ich nichts mehr hatte, für das es sich aufzustehen lohnte. Ich war in einem tiefen Loch gefangen, man könnte allerdings sagen, Tonic hätte mir 'ne Leiter gereicht, um mich zurück ins Stadium der angehenden Freude zu ziehen. Jedenfalls, wenn man 'n scheiß Romantiker is und das bin ich nicht. Wahrscheinlich passen wir uns in der Hinsicht regelrecht aneinander an, Tonic und ich. Wir glauben beide irgendwie nicht so wirklich an die richtige Liebe. So 'ne Sache, die irgendwann ohnehin zwangsläufig passieren muss, wenn man die ganze Zeit über enttäuscht wird.

____________________

Auf diese Szene habe ich mich schon so lange gefreut. Zwei Junkies ziehen menschliche Asche durch die Nase und ich grinse. Empfindet ihr es auch als gute Metapher oder ist es zu heftig?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top