69| Ehrlichkeit frisst Missgunst - Charlie
»Hab ich's mir doch gedacht, ihr zwei passt aber auch verdammt gut zusammen.«
Øyriøns Freundin is die Erste, die nach diesen überraschenden Worten ihre Sprache wieder findet. Ich glaub, ihr Name is Shelby und gleichzeitig is sie die Mechanikerin, die Tonics sündhaft teuren Wagen vorm Verrecken gerettet hat, indem sie 'ne Konservendose aus der Tür zog. Apropos Tonic, hat er das grad wirklich gesagt? Dass er mich liebt? Oh Gott, ich dreh durch. Er liebt mich also tatsächlich, sonst hätt er's ja wohl nich vor den Anderen gesagt. Ich, die hässliche Transe werde verfickt nochmal geliebt. Ich kann's nicht fassen. Siehst du das, Vater? Ich bin nicht hoffnungslos und tot noch lange nicht, je nachdem, wie lange ich das Heroin noch aushalte, natürlich. Und Mutter, kannst du mich sehen? Deine böse, verlogene Tochter hat ja doch 'n Mann gefunden, nur is sie jetzt selbst einer. Wer hätte auch damit rechnen können? Is es das? Fühlt es sich so an, glücklich zu sein? Ich weiß es nicht mehr, es is schon so lange her.
Ich lass den Blick über den Tisch und die wandelnden Leichen, die dran sitzen, wandern. Vergeblich such ich dabei nach Verurteilung, Hass, Missgunst und Ekel, denn das alles empfinden wir in diesem Moment einzig und allein für uns selbst. Selbst Øyriøn lächelt und freut sich offenbar für mich. Das is was Besonderes, denn ihn hab ich schon lange nicht mehr grinsen sehen. Jedenfalls nich so, dass es echt wirkte. Es is ja auch kein Geheimnis mehr, dass es ihm nich gut geht und damit is er ganz bestimmt nich allein. Wir alle haben Schmerzen und das wissen wir, doch wir fixen sie weg. An den Rand unseres rissigen Verstandes und tun einfach so, als wär alles in Ordnung. Genau jetzt, just in diesem Moment würd das vielleicht sogar stimmen. Jedenfalls, wenn wir von mir reden. Wie's den Anderen geht, weiß ich nich und um ehrlich zu sein muss ich das auch gar nich, denn es würd mich deprimieren. Die Pestkönigin klopft mir freundschaftlich auf die Schulter, doch ich hab das Gefühl, dass sie mir dabei was gebrochen hat. Auch sie grinst wieder, obwohl sie offensichtlich müde vom Leiden is, die Ärmste.
»Und ich hab's mir so sehr für dich gewünscht. Dass auf dich vielleicht mal jemand aufpasst, Kleiner.«
»Geht mir ganz ehrlich, aber ich hätt da ganz bestimmt nich an Tonic gedacht.«
Scherzt Pin Pin und trommelt mit den zweigdürren Fingern auf dem ausgebeulten Deckel seines schwarzen Zylinders herum. Das Teil trägt er schon immer, ich weiß auch nich, warum. Aber es steht ihm, obwohl es wahrscheinlich vor Dreck schon von ganz allein aufrecht bleibt und bei der kleinsten Berührung in seine Einzelteile zerfällt. Tonic findet das Gerede offenbar auch nicht völlig unwitzig, denn er lacht so befreit. Um ehrlich zu sein wirkt er sehr erleichtert, ich kann ihn verstehen. Wahrscheinlich hätte ich mir an seiner Stelle in die Hosen geschissen, müsste ich meinen Freunden beichten, dass ich 'n Kerl gefickt hab. Allerdings bin ich an und für sich bereits etwas, das noch immer irgendwie neu in der Gesellschaft is - 'n Mann, der rein biologisch gesehen nicht schon immer einer war. Bis es einer erwähnt, fällt es aber auch eigentlich nie jemandem auf, doch Gnade Gott, wenn's mal soweit is, dann geht die Fragerei los.
Warum ich nicht das Klischee bediene und ob ich denn nicht zufrieden damit gewesen wäre, als Frau geboren zu sein. Ob ich gestört sei und ob's mir denn Spaß mache, mich in Gottes Schöpfung einzumischen, hatte ich alles schon. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, bin ich mir aber nicht immer ganz sicher, ob die Leute es ernst meinen oder ob's ihre Absicht is, mich mit ihren Fragen zu beleidigen. Manche sind einfach neugierig und anderen wiederum kann man ob fehlender Gehirnzellen einfach nich erklären, dass ich vorher unter starker Dysphorie litt, hervorgerufen durch meinen Vater und dessen... nun, nenn wir's einfach mal Spielchen, ohne zu kotzen, ich schaff es fast nicht. Ich konnte mich nie so wirklich im Spiegel sehen, weil ich mir sicher war, dass nichts an mir seine Richtigkeit hatte. Ich wollte keine Frau sein, weil ich mich damit unwohl fühlte. Nicht nur mit diesem abstoßenden Körper, sondern auch mit dem Wissen, was mein Vater getan hatte.
Bis heute hab ich nie wirklich jemandem davon erzählt. Zum Einen, weil ich niemanden damit belasten möcht und zum Anderen, weil ich mich dafür so sehr schäme. Meine Mutter pflegte immer zu sagen, dass Frauen, die vergewaltigt wurden, selbst die Schuld dafür tragen. Vielleicht hat sie mir deshalb nicht geglaubt, als ich ihr nahelegte, dass mein Vater in jeder Hinsicht ein widerlicher Kerl war. Es würgt mich noch heute, wenn ich nur dran denke, wie er mich mit seinen schmutzigen Fingern anfasste und seine Augen dabei vom Scotch zu glasig waren, um zu erkennen, dass ich weinte. Vielleicht hat er's aber auch gesehen und bewusst ignoriert. Er nannte mich immer sein hübsches Mädchen und es brachte mich innerlich um. Diese beiden Worte rissen mein Herz in Stücke und ich wollt mich an den Scherben schneiden, damit es aufhört. Als ich Tonic zum ersten Mal bewusst traf und er bemerkte, dass ich damals noch 'ne Frau war, waren seine Augen im Alkohol ertrunken, er lallte und sagte ebendiese zwei verdammten Worte. Hübsches Mädchen. Und ich rannte heulend davon, über die Straßen und geradewegs gegen 'ne Laterne. Die kleine Narbe auf meiner Stirn erinnert mich bis heut dran. Vielleicht sollt ich Tonic davon erzählen. Er war ja auch ehrlich zu mir.
»Es kam einfach so über mich. Vielleicht, weil ich auf einmal verstanden hab, dass ich ihn jederzeit verlieren könnte und wie wichtig er mir eigentlich ist.«
Erklärt er grad und legt den Arm um meine Schultern, es beruhigt mich irgendwie, auch wenn er selbst in diesem Moment 'n bisschen zittert. Diese Dinge, die er da sagt, die graben sich unangenehm in meine Magengrube und doch klingen sie so verdammt schön. Ich bin ihm wichtig. Und ich könnte jederzeit sterben. Weil ich erstens verrückt und zweitens mir selbst völlig egal bin. Er hat Recht, er könnte mich verlieren. Das Koks lässt nach, das H in meinem System hält aber noch 'ne Weile vor. Vielleicht noch so ungefähr 'ne Stunde oder irgendwas in der Art. Das is 'ne lange Zeit für 'n Junkie, die ihm bloß mit Gift kurz vorkommt. Wie war das noch gleich? Nachts sind die Schmerzen der Welt erträglicher für die Großen, denn sie können das Licht ausmachen und müssen das Leid nicht mehr sehen, ihnen geht's gut, doch wir haben diese Wahl nicht. Danke, Øyriøn. Für diesen verdammten Satz, der sich immer in meinem Kopf wiederholt. Manchmal kann ich hören, wie 'ne Nadel über meine innere Platte kratzt.
»Das is niedlich, ich freu mich für euch zwei. Passt halt 'n bisschen auf, wenn ihr nach Hause geht, hier um die Ecke wohnt der konservative Schmidt, der alte Bastard.«
Rät uns nun auch Øyriøn, er grinst noch immer und ich weiß auch, wen er mit dem alten Schmidt meint. Das is 'n Kerl, der früher im Zweiten Weltkrieg für Hitler und Goebbels marschierte. Er schoss auch ganz kräftig im Krieg und hat uns schon des öfteren erzähl, wie er kleine Kinder tötete, einfach, weil sie nich in seine Ideologie passten. Er zeigt keine Reue, niemals. Wahrscheinlich is er nur verbittert, weil die Welt um ihn herum immer toleranter und offener wird, während er allein zu Hause auf seinem plattgeschrubbten Sessel hockt und den Hitlergruß an 'ne Flagge richtet, die über seinem Bett hängt wie bei kleinen Mädchen das Poster der Lieblingsbands. Schmidt kann mich nicht leiden, weil ich ebenso wie die Unschuldigen, die er einst von seinem Blei kosten ließ, nich in seine Welt pass. Dort is schließlich kein Platz für jemanden, der einfach 'n bisschen anders is.
Schmidt hasst die Junkies aber allgemein, weil sie nichts für ihr Vaterland tun. Auf Øyriøn hat er schonmal geschossen, ich stand daneben. Er meinte danach, er hätte eigentlich auf die Tunte gezielt. Selbst die Polizei fand das irgendwie zu lächerlich, doch keiner klagte gegen Schmidt, weil wir uns ja keinen Anwalt leisten können. Øyriøn hat meines Wissens noch immer 'n paar Bruchstücke der Kugel in der Schulter stecken, weil er meinte, man würd ihm schließlich den halben Arm aufschneiden, wenn er das Zeug nicht mehr drin haben wolle und eine Operation würde alles nur noch schlimmer machen. Seine Schulter knirscht noch immer etwas, wenn er sie bewegt, doch er vertraut den Ärzten nicht mehr, seitdem sie seinen Knöchel so verhunzt haben.
Schmidt ist übrigens eine Art negative Hommage an Norman Ritter. Kennt ihr zufällig Familie Ritter?
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