54| Geblümter Narzissmus - Dimmu

Scheiße, ich hab ja vollkommen vergessen, wie verdammt hässlich Neukölln eigentlich is. Vielleicht würde aus 'ner stinkenden Zelle heraus besser aussehen. Ich lauf am Bahnhof entlang und seh all diese Junkies in den Ecken sitzen. Niemand beachtet sie noch groß, weil sich wahrscheinlich auch keiner wirklich drum schert, ob sie denn nun 'n Teil der Gesellschaft sind oder nicht. Man würde den Arsch ja auch einmal zu oft runzeln, wenn man zumindest versucht, sie wieder einzugliedern. Eine junge Mutter zündet sich 'ne Kippe an, versucht nebenbei, 'n offenbar angeregtes Telefonat zu führen und hat den Stiefel auf ein Rad des Kinderwagens gestellt, damit das Ding nicht vor den einfahrenden Zug fällt.

Man kann mir einfach nicht erzählen, dass man überhaupt etwas aus sich machen kann, wenn man hier in scheiß Neukölln aufwächst, das hat doch keine Zukunft. Vor mir steht mit einem Mal wie aus dem Nichts 'ne alte Frau. Ihre ungewaschenen Haare hängen ihr strähnig ins fahle Gesicht, doch sie lächelt mich zahnlos an und fragt mich höflich nach 'nem Feuerzeug. Seh ich denn wirklich so sehr nach 'nem Raucher aus? Mag ja sein, ich schätze, meine Kleidung riecht wie Hölle nach kaltem Rauch, aber das ist in Ordnung, denn alles is irgendwie besser als der säuerliche Geruch von Kotze. Die Alte bedankt sich und zündet sich vor mir 'ne kubanische Zigarre an, ehe sie mir das Feuerzeug zurück gibt und mir den Rücken kehrt. Würde sie das auch dann noch tun, wenn sie wüsste, dass an meinen Händen fremdes Blut klebt? Vermutlich nicht, denn der Mensch handelt nach Vorurteilen.

Ich weiß irgendwie gar nicht mehr so genau, wo ich denn jetzt eigentlich hin möchte, denn ursprünglich hatte ich geplant, zur Pestkönigin zu gehen und mir dort einen einzigen Schuss zu setzen, damit ich sterbe und nicht hinter Gitter muss. Allerdings hab ich jetzt zum Einen kalte Füße bekommen und zum Anderen find ich's ja doch verfickt nochmal feige. Wer mordet, der haftet und wer drückt, der stirbt früher oder später sowieso. Ich denke mal, das is so 'ne seltsame Weisheit, die man hier in scheiß Neukölln schon im Kindesalter lernt. Ich weiß es aber nicht, denn ich komme ja auch gar nich aus Deutschland. Geboren wurde ich in Island, aber sobald der eiserne Vorhang fiel, wollte meine Familie nicht mehr unter der Armut in unserer Heimat leben. Irgendwie hab ich Deutschland so hassen gelernt, ich mag auch die Menschen hier größtenteils nicht.

Oben in Island is alles so entschwebt und keiner stört sich dran, was das Bruttoinlandsprodukt grad so treibt, in Deutschland is das aber ganz anders. Hier machen selbst Kinder schon Karriere. Nur in Neukölln nich, hier wird auf'm Spielplatz gefickt und das dabei entstandene Kind sitzt 'n Jahr später selbst im feuchten Sand. Schön, wenn man so infernalisch sein kann um den Egoisten raushängen lässt. Es schon auf irgendeine Art und Weise in Ordnung, dass ich nicht in Island geblieben bin. Vielleicht wär ich ja dann immer noch so verdammt prüde wie damals. Das kann ich heute nicht mehr von mir behaupten. Gott, ich hab 'n Mord begangen, unprüder geht's ja eigentlich gar nicht.

Auf der anderen Seite der Straße steht 'n kleiner Junge auf einem viel zu großen Skateboard und versucht, sich nicht aufs Maul zu legen, wobei ich die Unterhaltung dabei immer ganz lustig finde. Zwei ältere Jungen laufen an ihm vorbei und rempeln ihn kaum merklich an, doch es reicht, um ihn auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Sein Gesicht trifft den Bordstein, doch er heult nicht los. Auch dann nicht, als seine Kappe von 'nem Auto erfasst und davon mitgeschleift wird. Tapferer, kleiner Kerl, ich könnte mir das Lachen trotzdem nich verkneifen, würde ich mir in diesem Moment nicht auf die Zunge beißen. Langsam aber sicher setzt er sich auf und fährt sich durch die Haare. Seine Nase läuft und er wischt den Rotz unbekümmert an seinem Ärmel ab. Dann steht er vollends auf, schnappt sich sein Skateboard und verschwindet damit aus meinem Blickfeld. Nur gut so, denn hier in scheiß Neukölln wird nicht geheult.

Hier werden keine Gefühle gezeigt, die sind unter Strafe verboten. Ein junger Mann zieht mit einem Mal meine Aufmerksamkeit auf sich. Er lehnt an der Wand eines heruntergekommenen Hauses und reihert gegen den hässlichen, spröden Rauputz. Dabei bewegt er sich ziemlich seltsam, als wär er von irgendeinem Vieh aus der Hölle besessen. Es is doch erst kurz nach halb drei am Nachmittag, wie kann man da schon besoffen sein? Tja, scheiß Neukölln eben. Hier fällt man um zwei aus'm Bett und macht sich das erste Bier auf, bevor man überhaupt etwas gebacken kriegt. Irgendwie traurig, aber eben auch der Lauf der Dinge. Was will man machen, wenn man nichts ändern kann? Es interessiert ja auch keinen genug, als dass man etwas dagegen unternehmen könnte und wenn ich ehrlich sein soll, find ich ohnehin, dass die Menschen hier es gar nicht anders wollen.

Ob sie es dann anders verdient hätten, is mal 'ne Frage auf 'nem ganz anderen Gebiet. Ich hab mich grad irgendwie so ganz spontan dazu entschieden, mich doch wieder bei der Pestkönigin blicken zu lassen. Allerdings nicht, um mir 'n Schuss setzen zu lassen, sondern eher, weil ich diese Frau einfach mag. Vielleicht sollte ich aber davor noch Tonic und die anderen armen Ärsche besuchen gehen, damit ich ihnen von meinem heroischen Heldentaten erzählen kann und sie sich hinterher auch nich wundern müssen, wohin ich denn nun gegangen bin. Zuversichtlich überquer ich die Straße und es interessiert mich dabei nicht im geringsten, ob grad irgendso 'n alter Wichser mit seinem Mercedes herfährt und bremsen muss. Soll er doch, wenn er schon Anti-Rutsch-Scheiße in den Reifen hat. Er zeigt mir den Mittelfinger und umfährt mich kopfschüttelnd. Ich seh ihm hinterher, heb 'nen Stein vom Boden auf und werf ihn durch die Heckscheibe des Mercedes.

Ich weiß auch nicht warum, aber auf irgendeine Art und Weise hat's mir ja schon immer viel zu großen Spaß gemacht, Dinge zu zerstören, die dummen Menschen gehören. Moral is für mich wohl auch bloß 'n scheiß Fremdwort und das Zerschießen von irgendwelchem Zeug wahrscheinlich noch das kleinste Übel. Mir geht's gut, wenn ich so drüber nachdenk, wie die anderen alle dran sind. Pin Pin mit seinen Selbstmordgedanken, Tonic mit seiner Scheinwelt und Øyriøn mit seinem kaputten Organen. Mir kann da keiner etwas anderes erzählen. Wer mal Øyriøns Leber oder irgendetwas anderes aus seinem Körper kriegt, der is so richtig am Arsch. Ja, tatsächlich. Øyriøn hat 'nen scheiß Organspendeausweis, weil er findet, dass das doch an und für sich 'ne gute Sache is.

Is es ja eigentlich auch. Schade nur, dass Øyriøn und Junkies generell überhaupt nicht dazu beitragen können, denn deren Organe kommen allenfalls noch auf'n Kompost oder in den Mixer für 'ne ordentliche Bloody Mary. Ich würde meine Innereien bestimmt schon allein deshalb nicht spenden wollen. Der arme Idiot, der mein Zeug bekommen würde, dem würde auch mehr geschadet als geholfen. An mir drängt sich 'n Mädel im blauen Blümchenkleid vorbei. Sie is geschminkt, als würd sich grad auf'n Weg zum Baby Strich machen und in ihren Ohrläppchen hängen extrem dicke Klunker. Es is so arschkalt und dieses Weib trägt trotzdem nur Feinstrumpfhosen unter dem hässlichen Kleid, dazu Turnschuhe und ihr blondes Haar wird am Ansatz schon wieder fettig braun.

»Wie is'n der Ertrag auf'm Strich zur Zeit?«

Will ich lachend von ihr wissen, doch sie antwortet nicht und starrt mich lieber entgeistert an. Zu Recht eigentlich, denn an meinen Händen klebt noch immer Blut und vielleicht noch gelbe Hirnmasse, die sich langsam aber sicher in die Fasern frisst und ein Teil des grauen Wollpullovers wird. Kann schonmal vorkommen, ich weiß aber nich, wie sich Denksaft normalerweise so in der Kleidung hält. Der geblümte Narzissmus schlechthin stiefelt mit erhobenem Haupt davon und beachtet mich nicht weiter. Soll mir recht sein, 'ne Mörderin reizt man nich, wenn man nich draufgehen will.

Ich bin ehrlich gesagt nicht mehr wirklich sicher, wo genau Tonic wohnt, aber die Leute hier werden immer arroganter, von daher würde diese Gegend zu ihm passen. Der Bahnhof is kaum noch zu sehen. Ich weiß irgendwie noch immer, wie ich mal die Fluppe für Øyriøn halten musste, damit er sich 'n Schuss setzen konnte. Er hat auf 'nen Zug gewartet, der ihn zu der Zeit über Weihnachten zu seiner Familie bringt und mich vorher gebeten, ihm ins Bein zu schießen. Manche Junkies sind schon ein bisschen komisch drauf, das kann ich genauso unterschreiben. Auf der anderen Seite hab ich meinen Mann erschlagen und ihn zerteilt, wer ist hier also komisch drauf?

Wo es vorhin kurz thematisiert wurde; was ist eure Meinung zur Organspende? Ich bin gespannt auf eure Antworten.

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