21| Ich zerfalle - Pin Pin

Ich will nicht mehr. Lieber würde ich sterben, als meinem Bruder Mike jetzt beim Reden zuzuhören. Eigentlich heißt er Michael und er hat verdammt nochmal Krebs. Lungenkrebs natürlich, weil er wie 'n verfickter Kamin raucht und trotzdem nich aufhören will. Deshalb is es auch schwer für mich, ihn zu bemitleiden. Er wirft im Grunde genommen auch bloß sein Leben weg, ich tu dasselbe und ich hasse mich.

Mike hat 'n schicken Luftröhrenschnitt und seit neuestem auch noch 'n amputiertes Bein. Dafür war offensichtlich 'ne verstopfte Aterie verantwortlich, weil sich in seinem Körper 'n riesiger Teerkloß bildet, der ihn langsam aber sicher von innen frisst. Dort, wo er 'n Loch unter dem Kehlkopf hat, sitzt jetzt 'ne kleine Platte, die er stets zudrückt, wenn er etwas zu sagen hat.

Diesen Anblick kenn ich schon, denn das muss ich mir seit zwei Jahren anschauen, aber das fehlende Bein is neu. Das verstört mich, der Stumpf hängt fleischig und entzündet aus den verschlissenen, kurzen Jeans und ich hab das Gefühl, dass ich gleich reihern muss. Jennifer hockt neben mir, hält meine Hand, weil sie spürt, dass es mir nicht gut geht und spricht zugleich mit Mike.

»Das wird schon wieder, Mike. Du musst nur...«

Setzt sie vorsichtig an und ich find, dieses Gerede irgendwie derb scheiße, aber es is nun mal Jennifer und ich liebe sie zu sehr, um sie zu korrigieren. Mein Bruder schnaubt bloß und ich muss ihm Recht geben. Schließlich is er nicht zu Besuch gekommen, um sich dumme Ratschläge geben zu lassen. Er klingt so verfickt mechanisch, wenn er spricht, das macht mir Angst.

»Das wird nicht wieder. Ich hab Krebs im Endstadium und gestern wurde ein zweiter Tumor in meinem Schädel gefunden, ich bin nur hergekommen, um mich zu verabschieden«

Knattert er, sein Zeigefinger zittert über dem winzigen, hauchdünnen Plättchen und eine Träne rollt ihm still über die Wange. Mein Herz verkrampft sich in meiner Brust und wenn's nach mir ginge, würde Jennifer mir jetzt die Hand fester drücken, doch das tut sie einfach nich. Ich glaub, sie fängt auch gleich an zu heulen. Natalie is längst im Bett, das is wahrscheinlich auch besser so, sie sollte diese Scheiße hier nich sehen.

Wenn ich ehrlich bin, kann ich gar nicht anders, als schier zu plärren, immerhin is Mike doch mein Bruder und ich könnte wahrscheinlich nicht ohne ihn leben. Und das, obwohl ich ihn schon 'ne ganze Weile nicht mehr selbstständig besucht hab. Ich kann mich gut an meine Kindheit mit ihm erinnern. Meine Eltern haben sich ab und an echt gesorgt, ob er denn wieder nach Hause kommt.

Dabei war er stets feiern und wenn er nach Tagen der Abwesenheit wieder zurückkam, begrüßte er uns mit 'ner feuchten Kotzpfütze auf dem Teppich, wenn ich mich recht entsinn, sieht man einen der Flecken immer noch. Mike hat mir beigebracht, wie man raucht, ohne dabei wie 'n Idiot auszusehen, ich hab ihm irgendwann gezeigt, wie man Meth kocht und er war beeindruckt.

Wir sind abgefuckte Geschwister, Drogenbrüder und Tabakteiler. Jeder andere würde uns wahrscheinlich für vollkommen verrückt halten, aber er is halt mein Bruder, das macht man so in 'ner richtigen Familie. Zum Glück hab ich nich so 'ne Kackfamilie, wie Øyriøn eine hat. Sein Vater protzt mit seiner Kohle, seine Mutter is tot und sein seine Geschwister sind Arschgesichter vom Feinsten. Ich kann sie alle nich leiden.

Plötzlich steht Mike auf, wobei er sich auf seine Krücken stützt, das sieht echt seltsam und kläglich aus, doch ich weiß, dass er so 'n Typ is, der einfach keine Hilfe will. Von niemandem. Er scheint mich offenbar umarmen zu wollen, allerdings müsste er dann seine Krücken loslassen und das würde eher nich funktionieren, deshalb erheb ich mich und schließ ihn in die Arme.

Irgendwie würde ich gern etwas sagen, doch mir fehlen die Worte. Dass der Krebs Mike killt, das wusste ich schon lange, aber dass er es auch weiß, hätte ich nicht gedacht. Er is nämlich 'n unreflektierter Kerl, nur gut, dass ich diese scheiß Eigenschaft nicht von ihm geerbt hab. Sein Shirt riecht nach kaltem Rauch, auf seiner Glatze spiegelt sich die flackernde Lampe. Er verträgt die Chemo wohl nicht sonderlich gut.

Gott, früher hab ich zu diesem Arsch aufgeschaut, warum wird er mir bloß verfickt nochmal wegsterben? Und warum ausgerechnet jetzt? Ich hatte doch echt 'nen verschissenen Entzug geplant und hätte ihn vielleicht als mentalen Beistand gebrauchen können. Wobei ich ihm ehrlich gesagt nich mal erzählt hab, dass ich 'n verdammter Drücker bin. Dass ich nicht der hellste Stern unterm  Gehirnhimmel bin, is ihm aber garantiert klar.

»Du warst mir der beste Bruder, den ich mir je hätte wünschen können«

Behaupte ich und damit hab ich aus meiner Sicht Recht. Viele meiner Freunde lästern über ihre Familie, doch ich liebe meine und es tut mir verdammt leid, sie alle zu enttäuschen. Sie wissen nicht, dass ich drück, weil's mir andernfalls zu beschissen geht und mich sonst nichts mehr glücklich macht, aber wahrscheinlich hätte ich nicht einmal die Eier in der Hose, ihnen davon zu erzählen, denn ich bin 'n scheiß Feigling.

Mike antwortet mir nicht, vielleicht liegt's daran, dass er gerade keine Hand frei hat, um auf die Platte über seiner Luftröhre zu drücken. Ich weiß noch, als ich diese schaurige Stimme zum ersten Mal gehört hab. Meine Mutter musste heulend und schreiend das Zimmer verlassen, doch ich bin einfach sitzen geblieben und hab's mir angehört. Erschreckend fand ich's natürlich trotzdem, ich wollte Mike bloß nicht verletzen.

Er löst sich wieder von mir und ich hab das Gefühl, dass ich ihn niemals wieder sehen werd, wenn er gleich meine verschissene Wohnung verlässt. Jedenfalls nicht lebend. Sicher doch, im Moment lächelt er noch 'n bisschen, aber das wird ihm bald vergehen, denn er wird garantiert wieder 'ne Chemo anfangen, die seinen Körper von innen fickt und seine Organe ineinander verdreht wie in 'nem verdammten Mixer.

Wenn ich kurz mal so drüber nachdenk, fällt mir ein, dass ich eigentlich auch nichts anderes tu. Ich dummer Arsch mit meinem scheiß Heroin. Ich kann ja fast spüren, wie ich in mir selbst zerfalle. Tonic kann's bestimmt kaum erwarten, auf meiner Beerdigung über mich zu reden und von sämtlichen Dummheiten zu erzählen, während meine Mutter wieder in ihr Taschentuch rotzt und sich fragt, wer dieser asoziale Wichser is.

»Das bedeutet mir wirklich viel. Ich gehe jetzt besser. Jedenfalls so, wie es mir möglich ist«

Witzelt Mike, er hat immer noch so 'n verfickt tollen Humor. Außerdem hat er mir in unserer Kindheit eine ganze Menge beigebracht, das Zeug kann ich heute noch gebrauchen und in diesem Moment würde ich lieber sterben, um meinen Bruder zu retten. Warum muss ich dauernd alles mögliche überleben, während um mich herum die Leute verrecken? Mein Leben is 'n Scheiß wert, ich hätte gar nicht so alt werden sollen.

Von mir aus, Natalie braucht ihren Vater, ich bin trotzdem ein erbärmliches Stück Scheiße und hab es nicht verdient, eine so wundervolle Frau wie Jennifer an meiner Seite zu haben. Ich weiß, dass sie mich liebt und dennoch fühlt es sich an, als würde ich Katharina betrügen. Bitte vergib mir, meine Liebste, ich hätte mit dir alt werden wollen, aber ich glaube, ich war dir nicht wichtig genug. Verdammt, ich hab sie noch gebeten, sich nichts mehr anzutun.

Ein dummer Idiot war ich und bin's irgendwie immer noch, weil ich Katharina nicht in 'ner Anstalt abgeliefert hab. Vielleicht hätte man sie retten können, sie war unheimlich klug und wenn ich ehrlich bin die schönste Frau, die mir je untergekommen is. Wahrscheinlich, weil sie nie perfekt war und es erst gar nicht versucht hat. Ich dachte wirklich, Katharina würde bis ans Ende meines Lebens bei mir bleiben und ich bin ein verfickter Narr.

Der einzige Grund, weshalb ich jetzt noch gerade stehen kann, is das winzige Tütchen in meinem Nachttisch, das ich mittels einer Nadel und 'nem Feuerzeug geleert hab, als Jennifer für ein paar Minuten mit Natalie beschäftigt war. Ich glaube zwar, dass sie weiß, dass ich schon wieder gedrückt hab, allerdings is es mir egal, denn ich hasse mich, wenn ich clean bin.

Øyriøn hasst die ganze Welt und das kann er die ganze Zeit über, jedenfalls wirkt das so auf mich. Wenn ich ehrlich bin, is mir das auf Dauer aber echt zu anstrengend. Er hat vor 'ner Ewigkeit mal gemeint, von allen Arten, den Hass auszuleben, würde einem der Selbsthass am meisten abverlangen und ich glaube, damit hat er sogar Recht. Er is so verfickt klug und ich bin so dumm. Irgendwie bemerk ich erst jetzt, dass das Telefon klingelt.


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