18| Restmenschen - Charlie
Es is wirklich beängstigend, wie Øyriøn mittlerweile aussieht. Seine Augen sind innen gelb und die blaue Iris erkennt man kaum noch. Seine Oberschenkel sind vielleicht 'n bisschen breiter als meine Oberarme und er tut mir wirklich leid, wenn ich ehrlich bin. So kenn ich ihn gar nich. Es macht mir fast Angst, ihn so zu sehen, so völlig ausgelaugt und krank.
Jetzt kann er seine Abhängigkeit nicht mehr verleugnen, aber er is 'n kleiner Träumer und ich glaube, ich Idiot seh gerade genauso aus. Mal davon abgesehen, dass sich mein Shirt nicht dort wölbt, wo der Rippenbogen zu sehen is, das is ja ekelhaft. Seine Haare sind so ausgedünnt, früher war ich immer neidisch auf diese Pracht, die da auf seinem Schädel wächst.
Damals, als ich noch Charlotte hieß und mich selbst mehr gehasst hab, als ich je einen Menschen lieben könnte. Mir geht's nich drum, 'n Zeichen zu setzen von wegen, ich hab mich nicht umoperieren lassen, damit sich die scheiß Popkultur einen drauf keulen kann. Eben nich, wär ich länger Charlotte geblieben, wär ich an mir selbst verreckt.
Man könnte behaupten, ich solle meinem Vater dankbar sein, allerdings wäre selbst die schmerzhafteste Krebserkrankung für ihn noch nicht genug. Oh, bei weitem nicht. 'N so durchgedrehter Bastard, der seine eigene Tochter fickt und es wahrscheinlich nicht akzeptieren würde, hätte er stattdessen plötzlich 'n Sohn, der hat keine Gnade verdient.
Mir war's echt verdammt nochmal zuwider, als meine ganze heuchlerische Familie auf seiner Beerdigung geheult hat und mir ward auch verfickt übel, wenn ich ehrlich bin. Die Beisetzung war ungefähr so lieblos wie sein Leben es gewesen is. Irgendwer hat 'n paar dahingerotzte Worte über ihn verloren und sich anschließend vom Pult entfernt. Mehr als
»Es is geschafft, der Wichser is tot und wir werden ihn endlich begraben«
hab ich allerdings nich von mir hören lassen. Meine Großmutter hat meines Wissens nach fast 'n Herzinfarkt bekommen, aber wen interessiert das schon? Nichts is mehr von Bedeutung, wenn sowieso alles den Bach runter geht und die Menschheit einfach lässig mit dem Strom schwimmt, während sie auf den Super-GAU wartet.
»Wer sind wir für die da draußen eigentlich, Øyriøn? Sind wir Schlachtvieh, oder doch bloß der allgemeine Sündenbock der Gesellschaft?«
Fliegt's mir mit einem Mal über die Lippen und ich kann nich anders, als den Angesprochenen anzusehen. Er is schon richtig drauf und damit is er mir einen Schritt voraus, denn bei mir will's heute irgendwie nicht so wirken, wie ich's gern hätte. Øyriøn zuckt trotzdem mit den Schultern und fährt sich durch die viel zu langen Haare. Wahrscheinlich dreht sich in seinem Kopf schon wieder alles, weil er in 'nem eigenen Universum lebt.
»Wir sind Restmenschen. Der kleine Anteil an unverdaulichen Müll, auf dem die Leute ihre verdreckten Schuhe abstreifen können«
Murmelt er, als wär er schon wieder in 'ner ganz anderen Welt gefangen. Ja, ich glaub, das is es, was mich am Heroin auch nach Jahren so sehr begeistert. Es zeigt mir den Weg über längst verborgene Pfade hin zu dem ein oder anderen, fiktiven Planeten, der perfekt und nicht im geringsten so lebensfeindlich is, wie die scheiß Welt, in der ich's aktuell aushalten muss. Crack lässt irgendwann nach, LSD wirkt nach 'n paar Monaten nicht mehr richtig und Meth war mir schon immer zu langweilig, doch Heroin rettet mir immer wieder den Tag.
Ich weiß, dass ich dran kaputt gehen werd, irgendwann, wenn mein Körper nicht mehr mit der Menge an Gift klarkommt, die's abzubauen gilt, das weißt doch jeder Drücker. Am Handlungsbedarf liegt das Problem, denn es besteht einer keiner. Natürlich kann man sich am Anfang noch einreden, man könne zur rechten Zeit wieder aufhören, allerdings bemerkt man meist überhaupt nicht, wie man abrutscht.
So war's jedenfalls bei mir. Geistig bin ich irgendwie immer noch im Stadium des Anfängers und sitz dort auf ewig fest, doch in Wahrheit frisst sich mein Körper gerade wie von selbst. Manchmal kann ich's fast spüren, wie sich meine Organe zersetzen und es fühlt sich jedesmal schlimmer an, doch die Phasen, in denen mir das Heroin den verfickten Schädel vernebelt, sind zu schön, um es einfach sein zu lassen.
»Ich find, du solltest Bücher schreiben, irgendwer würde das bestimmt lesen«
Noch während ich diesen hirnrissigen Satz von mir geb, fängt Øyriøn zu lachen an und wirft den Kopf in den Nacken. Dass sein Schädel dabei nich abfällt, is alles. Er klingt fast 'n bisschen wie 'ne scheiß Hyäne, mindestens so gehässig und doppelt so beängstigend. Vielleicht is das der Grund, weshalb er nich mehr so viel lacht wie früher. Unter Umständen hat er auch einfach nichts mehr zu lachen, wer weiß.
»Die meisten Menschen lesen nich mehr, weil's implizieren würde, dass 'se dann nachdenken müssten«
Jedes Wort aus seinem Mund is 'n verficktes Gedicht an und für sich, er is einfach 'n chaotischer Poet und ich kann da nich mithalten. Natürlich kann ich auch den lieben langen Tag über das Ende der Welt philosophieren, allerdings kommt in meinem Fall bloß gerührte Scheiße raus und mir würde kein Arsch zuhören wollen. Ich rede nur wirres Zeug, weil ich 'ne verwirrte Transe bin, doch Øyriøn hat 'n messerscharfen Verstand und er nutzt ihn immer und immer wieder.
In seinen Schädel würde so mancher Psychologe wahrscheinlich gern mal schauen und ich glaub fast, Øyriøn hat mir vor 'ner halben Ewigkeit erzählt, er würde seinen Körper vielleicht der Wissenschaft spenden wollen, würde er in näherer Zukunft abnippeln. Umsichtig is er, der alte Bastard, jedenfalls für die Verhältnisse von 'nem scheiß Drücker.
Meine Mutter würde heulen, hätte sie mich in letzter Zeit mal gesehen und ich hätte wahrscheinlich bloß schadenfroh gelacht und mich an ihren Tränen ergötzt, weil sie und vor allem ihre Erziehung mir 'n Scheiß bedeuten. Sie hat mir nie geglaubt. Nicht ein einziges Mal. Egal, was ich ihr erzählt hab, sie hat's nur unter den Tisch gekehrt und ihr Leben fortgesetzt. Im Glauben, ihre Tochter, die jetzt 'n Kerl is, würde sie belügen.
Ich solle meinem Vater nich in so 'n verdammt schlechtes Licht rücken und ich würde mir das alles ja ohnehin nur ausdenken, damit ich auch mal wieder der Mittelpunkt der Familie sein könnte. Der Haussegen würde einzig und allein meinetwegen schief hängen und ich hätte kein Recht, mir als Mädchen die Haare abzuschneiden.
Das war alles, was sie zu mir sagte. Ach, verquere Scheiße, sie hat's mir ins Gewissen gebrüllt und mich wieder mit meinem Vater allein gelassen. Arbeiten wollte sie, weil sie ja schließlich 'ne emanzipierte Frau is, aber mir wurden keine kurzen Haare gestattet und mein Kleiderschrank war gefüllt mit Kleidern und verfickten Röcken, in denen ich mich nich wohl fühlte.
Es kam mir vor, als würde ich die Kleidung eines anderen tragen und meine Mutter war dementsprechend schockiert, als ich irgendwann nach Hause kam und mir einfach die Haare abgeschnitten hatte. Ach was, ich hatte sie bei einem guten Kumpel auf wenige Millimeter gestutzt und mir 'n paar alte Jeans von ihm geliehen.
'Ne gute Mutter hätte mich wahrscheinlich unterstützt und sich drüber gefreut, dass ich mit der Entscheidung glücklich bin, doch sie kaufte mir 'ne verfickte Perücke und zwang mich, sie immer zu tragen, wenn ich das Haus verließ. Natürlich hab ich das Scheißteil bei der ersten Gelegenheit entsorgt und mir deshalb 'n paar Ohrfeigen eingefangen.
»Ich würde dein Zeug lesen, schreib es halt mal für mich auf«
Ich würde es wirklich lesen, das is kein Scherz, weil's mich immer wieder beeindruckt, wenn einer schreibt und damit irgendetwas in meinem verkommenen Inneren bewegt, das schafft nämlich nicht jeder. Øyriøn würd ich's aber ehrlich gesagt zutrauen, er hat diese beängstigende Fähigkeit, mich mit seinen Worten zum Heulen zu bringen.
Das is jetzt schon das ein oder andere Mal passiert und ich musste immer und immer wieder Rotz und Wasser plärren. Die Art und Weise, wie er in seinem Mund mit den Worten spielt und sie dreht und wendet, bis sie den richtigen Klang haben, macht mich wirklich betroffen und wahnsinnig zugleich. Ich würd mich freuen, wenn er mal 'n Buch mit seinen Weltanschauungen drin schreibt und das dann ganz groß rauskommt.
Vielleicht könnte er sich mit dem Geld dann 'n Entzug bezahlen, auf der anderen Seite hab ich da so meine Bedenken. Leute wie Pin Pin haben den Wunsch, clean zu sein und 'n normales Leben zu führen, aber Øyriøn is da anders. Bei ihm is nichts normal und ich bin mir sicher, dass das Heroin ihm beim Verdrängen hilft. Ich meine, er hat seine Mutter und 'n paar andere Leute sterben sehen, das kann belasten. Glaub ich gern, das ganze Leben is doch belastend.
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