Die Geister
Lana hielt den Berg an Bekleidungsstücken, den man ihr ausgehändigt hatte fest umklammert und versuchte, trotz des Geigenkoffers ihr Gleichgewicht zu halten.
Mühsam folgte sie der Beschreibung, die Linus ihr nach der Einkleidung gegeben hatte und wanderte durch das Schloss. Aus dem Kleiderraum raus, dann dem Gang folgen bis zum Speisesaal, davor die Treppe hinauf bis in den zweiten Stock. Dem grünen Flur folgen und vor der kleinen Bibliothek...
Lana stoppte abrupt. Sollte sie jetzt nach links oder nach rechts. War hier überhaupt eine Bibliothek? Unsicher musterte sie ihre Umgebung. Sie stand in einem dunklen Flur. Schmale Schießscharten spendeten nur wenig Licht. Neben sich entdeckte sie eine gepolsterte Bank und ließ sich frustriert drauf sinken. Sie hatte sich offenbar verlaufen. Zwar hatte Linus ihr erklärt, dass sie ihr neues Zuhause nun alleine beziehen sollte, aber irgendwie fühlte sie sich inmitten der Fremden einsamer als zuvor in Wien. Überall eilten Kinder, Jugendliche und vereinzelt auch Erwachsene umher, es herrschte ein riesengroßes Durcheinander.
Irgendwie verstand Lana selbst nicht, warum sie blieb. Abgesehen von dem Armband, dass sie die Hälfte der Zeit vergaß, war ihr nichts schlechtes widerfahren. Wahrscheinlich hätte sie einfach gehen können und niemand hätte sie aufgehalten. Doch wo sollte sie hin? Und die Menschen hier wirkten zwar merkwürdig, aber nicht wirklich gefährlich. Und wenn sie ehrlich war, war sie neugierig. So einen Ort hatte sie noch nie gesehen.
"Ich glaube, du bist hier falsch." Lana blickte sich überrascht um, konnte aber niemanden entdecken. Vorsichtig stand sie auf.
"Hallo?" murmelte sie leise. Auf der Bank tauchte eine weiß schimmernde Gestalt auf. Zwischen zwei Blinzlern - eben war die Bank noch leer und nun saß dort eine junge Frau in einem eleganten altmodischen Kleid, ähnlich dem, das Lana immer noch trug.
Überrascht fiel ihr der Kleiderberg aus den Armen. Die Frauengestalt lächelte warmherzig. "Du bist neu hier, oder?"
"Krass." hauchte Lana. Obwohl es sich bei der Frau zweifelsfrei um einen Geist handelte, war es schwer vor der zarten Gestalt mit den hübschen Gesichtszügen Angst zu haben. Vorsichichtig streckte sie zwei Finger aus und bewegte ihre Hand nach vorne. Die Frau hielt still, als Lana vergeblich versuchte eine der hochgesteckten Locken zu berühren. "Du bist echt ein Geist."
Die Frau lachte leise. Dann stand sie auf. "Verzeih, ich habe mich nicht vorgestellt." Anmutig versank sie in einen eleganten Knicks. "Mein Name lautet Mathilde von Bayern."
Lana überlegte. "Bist du sowas wie eine Prinzessin? So wie Sissi?!"
Mathilde schmunzelte. "Ehrlich gesagt war Elisabeth sogar meine Schwester."
Lanas Beine wackelten vor Aufregung und sie setzte sich wieder auf die Bank, neben Mathildes durchscheinende Gestalt.
"Und wie heißt du?"
Lana sah keinen Grund zu lügen. "Lana. Lana Spielmann."
"Sehr erfreut." Mathilde nickte ihr freundlich zu.
"Hm, aber wenn du eine deutsche Prinzessin bist..."
"Warst." Korrigierte Mathilde.
"Gut, wenn du eine warst, was machst du dann hier in Nebelheim?"
"Meine Knochen liegen im Keller."
"Oh."
"Aber ich bin ganz froh darum. Hier ist immer was los, Partys, Menschen und eine extrem schöne Gegend." Mathilde zuckte mit den Achseln. "Außerdem konnte ich Muggel echt noch nie leiden."
"Spatz? Spaatz!" tönte eine weibliche Stimme den Flur herab.
"Oh, und natürlich die Freude, auf andere Geister zu treffen." meinte Mathilde missmutig.
"Spatz?!"
Mathilde schwieg. Plötzlich schob sich der Kopf einer älteren Frau neben Lana aus der Wand. Das Mädchen quickte.
Der Neuankömmling warf ihr nur einen kurzen Blick zu, dann konzentrierte sie sich auf Mathilde. "Spatz! Da bist du ja. Warum hast du nicht geantwortet?"
"Du wirst mich nicht gehört haben. Hast du wieder Probleme?" Mathilde warf dem anderen Geist einen besorgten Blick zu.
"Was? Nein! Natürlich nicht, wie könnte ich!"
Mathilde inspizierte ihre durchscheinende Fingernägel. "Naja, vielleicht wegen deines Alters?"
Die ältere Frau plusterte sich auf. "Na hör mal, ich bin gerade einmal vier Jahre älter als du."
"Aber du warst fast ein Jahrhundert alt, als du gestorben bist."
"Du warst auch alt, als du gestorben bist. Und nun schau dich an, du siehst aus wie zwanzig."
Matilde strich sich verträumt eine Strähne aus dem Gesicht. "Ich weiß, meine besten Jahre."
"Das war nicht als Kompliment gedacht." meinte die Ältere verschnupft. "Willst du jetzt meine Neuigkeiten hören oder nicht?!"
"Ich bitte darum."
"Im neuen Schuljahr haben wir einhundertundzwei Neuzugänge. Darunter neunundfünfzig Mädchen!" Von der Gestalt ging ein sanftes Leuchten aus und Mathilde lachte.
"Marianne, du glühst ja vor Aufregung!"
Lana hatte das Gespräch der Beiden interessiert verfolgt und zuckte nun zusammen, als Mathildes Blick wieder auf sie fiel.
"Jetzt hast du mich so abgelenkt, dass ich unhöflich geworden bin. Verzeih, Lana. Und du, komm endlich aus der Wand, Marianne."
Der ältere Geiste folgte ihrem Befehl und schwebte in den dunklen Gang. Sie stoppte vor Lana und lächelte verlegen. Die Frau hatte eine eher hagere Figur und trug ein streng wirkendes Kleid, das diesen Umstand noch unterstrich.
Mathilde übernahm die Vorstellung. "Marianne, dies ist Lana Spielmann, die sich in den verwinkelten Fluren und drehenden Wendeltreppen von Nebelheim leider verlaufen hat. Lana, vor dir schwebt Marianne Hainisch, Gründerin des ersten Mädchengymnasiums in Wien. Natürlich hat sie zu Lebzeiten noch ganz viele andere Sachen vollbracht, aber sie reduziert sich gerne darauf."
Marianne warf Mathilde einen genervten Blick zu. "Das war ein so wichtiger Schritt in der Gleichberechtigung."
Mathilde seufzte. "Ich weiß. Aber das du da nach über achtzig Jahren noch so darauf herum kaust, ist manchmal echt anstrengend." Dann hob sie versöhnlich ihre Hand. "Aber es ist wichtig. Das stimmt."
Mit Mariannes Lächeln veränderte sich ihr Gesicht. Statt streng und borniert wirkte sie nun fröhlich und heiter. Sie setzte sich auf Lanas andere Seite und beide quetschen das Mädchen aus, stellten Fragen über ihre Vergangenheit und Wünsche.
"Ich verstehe nur nicht, was ich hier soll." Lana beendete die Schilderung ihrer Anreise und blickte unsicher von einem Geist zum anderen.
"Wie meinst du das?" fragte Mathilde nach.
"Naja, offenbar ist dieser Ort für Zauberer gedacht."
"Und Hexen." betonte Marianne.
Lana fuhr fort, ohne auf den Kommentar der Älteren einzugehen. "Und, nun ja. Ich kann nicht zaubern."
Die beiden Geisterdamen tauschten einen kurzen Blick aus. Mathilda antwortete zuerst. "Wenn du zurück denkst, ist nie etwas passiert, dass du nicht erklären konntest?"
"Hast du dich nie anders gefühlt, so als ob dir etwas fehlen würde?" fügte Marianne hinzu.
Lana überlegte. Natürlich gab es diese Situationen. Die Unauffälligkeit. Das Prickeln, wenn sie ein passendes Opfer für einen Diebstahl fand. Aber das war doch normal, oder nicht? "Aber müsste ich nicht.. naja, mehr können?"
Mathilda lachte ihr glockenhelles Lachen und auch Marianne schmunzelte.
"Kindchen, darum bist du doch hier, um zu lernen." fügte Marianne hinzu.
Das gab Lana zu denken. "Warum bin ich eigentlich nicht müde?"
Beide schauten sie überrascht an.
"Wie meinst du das?" In Mariannes Gesicht zeigte sich Unverständnis.
"Nun, nachdem ich gestern Abend durch den Spiegel fiel, müsste ich ja seit fast vierundzwanzig Stunden wach sein. Trotzdem bin ich nicht müde. Oder hungrig. Ist das meine Magie?"
Mathilde lächelte verstehend. "Nein, das war der Spiegel. Er hat dich sicher bis zum Abholen verwahrt und genährt. Wie im Mutterleib."
Und wenn nun niemand gekommen wäre? Wusste sie überhaupt wie lange sie im Glas gewesen war? Das war beängstigend.
Irgendwo im Schloss ertönte ein Gong. "Oh, sapperlott." Marianne warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. "Wir haben die Zeit vergessen."
"Mal wieder." Auch Mathilde erhob sich. Sie lächelte Lana aufmunternd zu. "Dein kleiner Führer hier kann dich zu deinem Zimmer bringen.
Als sich die kleine Motte von ihrem Geigenkoffers erhob schrie Lana erschrocken auf und schlug reflexartig nach dem Insekt.
Mathilde war bereits durch die Wand verschwunden aber Marianne warf ihr einen irritieren Blick zu.
"Das, das Vieh hat mich angegriffen." versuchte Lana zu erklären.
Marianne schüttelte energisch den Kopf und streckte vorsichtig die Hand nach der Motte aus. "Sie ist doch nur ein Bote." Ihre Finger fuhren in einem zarten Kreis um die kleine Motte herum, die zitternd in der Luft schwebte.
"Aber...!"
"Papperlapapp. Sei gut zu ihr und sie wird dir helfen." Sie glitt auf die Wand zu, drehte sich aber kurz vorher noch einmal zu Lana um. "Du hast übrigens noch etwa eine Stunde, bis zum Fest im großen Saal. Ich würde mich an deiner Stelle sputen."
Dann war sie weg und Lana blieb alleine mit der Motte im Flur zurück.
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