Die Auswahl
Niemand achtete auf die kleine Geigespielerin, die mitten auf dem Stephansplatz in Wien direkt vor dem Dom musizierte. Das Mädchen sah aus wie ein Püppchen, geflochtene blonde Haare und ein altertümliches rosa Kleid verstärkten den Eindruck noch. Ihr Alter ließ sich schwer schätzen, sie war wohl noch ein Kind, wenn auch groß für ihr Alter. Geschickt wechselte sie von Beethoven zu Bach und beobachtete dabei das Heer von Touristen.
Als sich ein paar ältere Damen näherten, spielte sie die kleine Nachtmusik an und lächelte, als ein paar Münzen in ihren rotbaunen Hut wanderten.
Mozart ging eigentlich immer, obwohl der streng genommen gar kein Wiener gewesen war. Da sie jedoch auch nicht aus dieser altertümlichen Stadt stammte, hier aber gestrandet war, fühlte sie sich dem großen Musiker seltsam verbunden.
Aus den Augenwinkeln erblickte sie einen dicklichen Mann im Anzug, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Er ging dabei auffällig grob und unfreundlich vor. Sie beobachtete ihn noch einen kurzen Moment länger, lauschte in sich hinein und empfand ein warmes Kitzeln unterhalb ihres Herzens.
Mit einem zarten Lächeln legte sie ihre Geige ab und folgte dem Mann.
Noch bevor er in eine der unzähligen Nebengassen einbiegen konnte, erreichte sie ihn. Ihr kindlicher Körper konnte sich wesentlich besser durch die Massen schieben als er es schaffte, trotz seines Drängelns. Ohne ihn zu berühren fischte das Mädchen seine Geldbörse aus der linken Anzugtasche, drehte bei und kehrte zu ihrer Geige zurück.
Noch bevor sie wieder dort ankam, holte sie Scheine und Münzen heraus und warf die Geldbörse unauffällig einer vorbeigehenden Nonne vor die Füße. Diese hielt an und sah sich suchend um. Zufrieden erreichte das Mädchen ihr Instrument, leerte ihr Einnahmen in den Hut und nahm ihr Spiel wieder auf.
Niemand hatte ihre Abwesenheit ausgenutzt, sie hatte auch nicht damit gerechnet. Aus welchem Grund auch immer war das Mädchen - und auch alles was sie tat oder anfasste - fast unsichtbar für andere. Während sie spielte, beobachtete sie die Nonne, die mit der Geldbörse zu zwei Polizisten eilte. Auch diese beachteten die zarte Geigespielerin nicht weiter.
Als sich am Abend der Platz langsam leerte packte das Mädchen ihre Sachen zusammen und zählte ihre Einnahmen. Sie war zufrieden, noch ein paar Tage dann hätte sie genug beisammen um Weiterreisen zu können. Vielleicht nach München oder Zürich. Mit dem Geigenkoffer über der linken Schulter und dem Herrenhut auf dem Köpfchen stieg sie die Treppe zur U-Bahn Station hinab.
Das Mädchen bemerkte die kleine Motte, die ihr folgte das erste Mal, nachdem sie ihr Ticket gelöst hatte. Natürlich wäre das nicht wirklich nötig gewesen, aber sie tat es aus Gewohnheit. Um etwas Normalität in ihr unstetes Leben zu bekommen. Die Motte begleitete sie in den Zug und später auch in den Supermarkt, in dem sich das Mädchen für die Nacht eindeckte.
Nachdem das Tierchen jedoch ebenfalls auf das überwucherte Grundstück flog, das sie betreten hatte, war sie beunruhigt. Eilig trat das Mädchen in das leerstehende Herrenhaus und ließ die große Tür hinter sich ins Schloss fallen.
In der großen Eingangshalle wirkte alles noch genauso verlassen wie am Morgen. Leinentücher verdeckten die wenigen Möbel und über allem lag eine Zentimeter dicke Staubschicht.
Das Mädchen schüttelte sich. Warum jemand dieses einst wunderschöne Haus so verkommen ließ, erschoss sich ihr nicht.
Das Dämmerlicht leuchtete nur noch schwach durch die hohen Fenster. Sie nahm eine dicke Wachskerze aus einem Stapel, den sie neben einer morschen Standuhr plaziert hatte und zündete sie mit ihrem Feuerzeug an.
Das Licht der Kerze tanzte im Raum und das Mädchen ging weiter. Ihre Finger gelitten über das glatte Holz des Treppengeländers und sie kletterte in den ersten Stock.
Dort betrat sie als erstes die Bibliothek um sich einen weiteren Roman auszuleihen. Die meisten Bücher machten für sie keinen Sinn. Es waren hauptsächlich Koch- und Kräuterbucher, die neben einigen Fantasywälzern standen. Auf 'Herr der Ringe' hatte sie jedoch vergeblich gehofft. Sie stöberte zwischen den Regalen und stieß auf ein weiteres Buch von Gilderoy Lockhart. Tanz mit einer Todesfee, das klang doch nach einer guten Abendunterhaltung. Das Mädchen hatte zwar bis vor kurzem noch nie von diesem Autor gehört, aber er schrieb sehr unterhaltsam. Im Stile alter Groschenromane, aber sie war nicht besonders wählerisch.
Die Motte wartete auf sie, als sie das kleine Eckschlafzimmer betrat und das Mädchen blieb verblüfft stehen. Ihr Geigenkoffer rutschte über die Schulter herunter und bumste schmerzhaft gegen ihren Ellenbogen. Verwirrt starrte sie das kleine Tier an, das direkt vor einem barocken Spiegel schwebte.
Das Licht ihrer Kerze spiegelte sich im matten Glas und warf Schatten auf den alten Holzrahmen. Es wirkte, als ob die Tiere, die in den Verzierungen versteckt waren, plötzlich erwachten und über die Windungen krochen.
Ein unbeständiger Windhauch kam auf und ihre Kerze erlosch. Der Raum wurde in tiefe Finsternis gehüllt. Erschrocken fiel das Buch aus ihren Händen und polterte laut über die hölzernen Dielen.
Die Motte fing an zu leuchten. Das Mädchen war viel zu überrascht, um etwas anderes zu tun, als zu zuschauen. Der Raum wurde von dem sanften Glühen wieder erhellt und das Mädchen sah sein Spiegelbild.
Aber war das überhaupt noch ihr Abbild? Das alte Kleid, das sie im Kleiderschrank gefunden hatte, war verschwunden. Das Mädchen im Spiegel trug einen hellgrauen Umhang und winkte ihr zu. Sie blinzelte.
Die Motte erwachte aus ihrem Stillstand und flog langsam auf sie zu. Das Mädchen war wie festgefroren. Die Motte ließ sich mit der Eleganz einer betrunkenen Hummel auf ihrer linken Hand nieder und krabbelte auf ihren Zeigefinger zu.
Endlich bewegte sich das Mädchen, sie sprang zurück, wedelte mit der Hand und schrie. Die Motte kroch weiter und klammerte sich dabei mit ihre winzigen Beinchen fest.
Das Tierchen erreichte die Fingerkuppe und es wurde schlagartig dunkel.
Das Mädchen hielt ihre Hand schützend an ihren Oberkörper gedrückt, die Motte war verschwunden.
Nachdem sie ein paar Sekunden tief eingeatmet hatte, bemerkte sie, dass sie den Spiegel wieder sehen konnte. Ganz langsam, fast unmerklich, erhellte sich der Raum wieder.
Ängstlich sah sich das Mädchen nach der Motte um, fand sie jedoch nicht. Als ihr Blick auf ihr Hand fiel, stockte ihr der Atem. Ihr linker Zeigefinger glühte.
Wie ein Derwisch sprang sie herum und versuchte das Leuchten abzuschütteln. Der Geigenkoffer polterte gegen sie und verursachte schmerzhafte blaue Flecken. Ihr Fuß kippte zur Seite, als sie über das Buch stolperte und sie stürzte gegen den Spiegel.
Doch kein Glas zerschnitten ihren Körper, sie wurde eingehüllt in eine kühle silbergraue Gelmasse und war plötzlich verschwunden.
Im leeren Zimmer erhob sich die kleine Motte aus dem duftenden Wandschrank und schüttelte ihre zarten Flügel aus. Soweit es einer Motte möglich war, warf sie dem aufgeschlagen Buch von Gilderoy Lockhart einen angewiederten Blick zu, dann folgte sie dem Mädchen durch den Spiegel.
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