Die Ankunft

Das Mädchen wusste nicht, wie lange sie im Spiegel steckte. Es hätten Sekunden oder gar Stunden vergangen sein können, bevor sie mit einem lauten Ploppen aus der Gelmasse stürzte. Orientierungslos stand sie auf und sah sich um.

Sie befand sich in einem kleinem Raum, direkt vor einem großen Spiegel. Von der Decke hing eine einsame Glühbirne und tauchte alles in kaltes Licht. Der Wände bestanden aus rauen Holzplanken, Fenster gab es keine. Nur eine schmale Tür auf der anderen Seite des Spiegels.

Unschlüssig sah sie sich um und umklammerte ihren Geigenkoffer, der sie wie durch ein Wunder immer noch begleitete. Der Spiegel an sich war äußerst schlicht und etwas abgewetzt, als ob er schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Obwohl er wie ein ganz normaler Spiegel wirkte, umrundete das Mädchen ihn äußerst vorsichtig und drückte sich an der Wand entlang. Ohne seine Rückseite auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen, drückte sie die Türklinke herunter.

Die Tür öffnete sich mit einem lauten Knarren. Das Mädchen stürzte nach draußen und schob die Tür hinter sich zu. Mit dem Rücken zum Häuschen ließ sie die Umgebung auf sich wirken.

Sie stand auf einer kleinen Plattform aus dunklem Holz, welche die Hütte wie eine große Veranda umgab. Vor ihr erhob sich ein riesiger Berg, der seinerseits von anderen riesigen Bergen umgeben wurde. Um die Plattform herum breitete sich ein dichter Wald aus. Sie war definitiv nicht mehr in Wien sondern meilenweit von jeder menschlichen Ansiedlung entfernt.

Der Himmel schien strahlend blau auf sie herab, nicht eine Wolke trübte das Postkartenidyll.

Das Mädchen bemerkte weder die kleine Motte, die durch das Schlüsselloch flatterte noch den jungen Mann, der aus dem Schatten der Hütte neben sie trat. "Ein wundervoller Ausblick, nicht wahr?!"

Das Mädchen zuckte zusammen und blickte auf die schlanke Gestalt neben sich. Der Mann war vielleicht Anfang 20, hatte welliges dunkles Haar und verschmitzte haselnussbraune Augen. Sie zuckte zurück, als er ihr die Hand zu Begrüßung entgegenstreckte, aber er griff beherzt zu. "Hallo Fremde. Linus Sommerfeld, ist mein Name. Willkommen in Nebelheim."

Unschlüssig blickte das Mädchen in sein Gesicht, während die kleine Motte heimlich auf dem Geigenkoffer Platz nahm. "Hallo", antwortete sie vorsichtig.

Während der junge Mann ihre Hand enthusiastisch schüttelte, schloss sich plötzlich ein metallenen Gegenstand um ihr linkes Handgelenk und sie blickte überrascht auf einen silbernen Armreif.

Automatisch versuchte sie ihn von ihrem Arm zu lösen und trat einen Schritt zurück. Das Schmuckstück schien über keinen sichtbaren Verschluss zu verfügen und das zerren brachte nichts. Der junge Mann lächelte entschuldigend und hob beide Hände.

Das Mädchen atmete tief ein und versuchte die Wut zu bezähmen, die langsam in ihr erwachte.

"Tut mir leid, so ist das Protokoll. Sieh es als Ausweis, das macht es leichter."
Mit einer lässigen Handbewegung hob er den Ärmel seines dünnen grauen Pullovers und zeigte ihr sein Armband, das etwas breiter als ihres war. Bevor sie die aufwendigen Muster und Verzierungen genauer anschauen konnte, verschwand es auch schon wieder.

"Und, wie heißt du?" fragte er fröhlich. Sie knurrte. Lachend fuhr er fort. "Es sind immer die Schwierigen, die ins Nebelheim kommen."
Das Mädchen erwiderte nichts und schob nur störrisch das Kinn vor. Dann merkte sie, wie ihr Armband unangenehm warm wurde.

"Versteh das nicht falsch, Nebelheim will und fördert das Rebellentum, aber es gibt auch hier Regeln, an die sich alle zu halten haben. Du findest einen Heftchen mit Schulregeln auf deinem Zimmer. Lies sie besser früher als später. Also nochmal. Wie heißt du?"

Trotz des Altersunterschiedes zwischen den Beiden funkelte das Mädchen den jungen Mann böse an. Dann verlor sie das Blickduell und murmelte "Leonie Winter." Ihr Armband leuchtete kurz orange auf und fiepte leise.

"Das Armband erkennt, ob du die Wahrheit sagst und meldet Verstöße Höherangigen gegenüber an. Falls du weiter lügst bekommst du einen Stromschlag." erklärte er ohne eine Miene zu verziehen.

Das Mädchen überlegte kurz, ob sie es riskieren sollte und antwortete dann zögerlich. "Lana Spielmann." Beide schauten auf ihr Armband, dass still und unscheinbar an ihrem Handgelenk hing.

Linus räusperte sich. "Gut, Lana. Wie alt bist du?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Genau weiß ich es nicht, ich glaub so etwa zwölf." Ihr Armband schwieg.

Nachsichtig nickte Linus und führte sie zu einem schmalen Pfad, der sich hinter dem Haus entlang wandt. "Komm mit." fügte er hinzu. Während sie mit dem Geigenkoffer im Arm neben ihm her stapfte, hörte sie ihm schweigend zu.

"Wir befinden uns hier in den österreichischen Alpen, nahe der Grenze zu Deutschland." Vage deutete er über seine linke Schulter und erklärte "Salzburg liegt etwa in dieser Richtung." Dann umrundeten sie einen kleinen Hügel und Lana blickte auf einen kleinen See, der sich malerisch an eine grüne Wiese schmiegte. Auf der Wiese stand ein Heißluftballon.

"Das Spiegelportal hat doch so nahe an Nebelheim gebracht, wie möglich. Hinter der Wiese beginnen die Schutzzauber, die verhindern das Apparieren. Keine Sorge, jetzt kommt der lustige Teil."

Unsicher folgte sie Linus zu dem rotweißen Ballon, der schlaff und leer auf der Wiese lag. Im Korb warteten bereits zwei Personen. Am Rande stand ein anderes Mädchen mit pink gefärbten Harren, etwa in Lanas Alter, das sich neugierig umschaute. Neben ihr döste eine ältere Frau auf einem Hocker. Mit einem eleganten Satz sprang Linus an Bord und winkte Lana zu, es ihm gleich zu tun.

Sie knabberte unschlüssig an ihrer Unterlippe, während das andere Mädchen sie amüsiert musterte. Ganz sicher wollte Lana nicht allein hier mitten im nirgendwo verbleiben. Auf der anderen Seite wirkte alles mehr als verrückt auf sie. Wie war sie hier her gelangt? Wo war die Nacht geblieben? Und wovon zur Hölle sprach dieser Linus überhaupt.

Ihr Armband pochte und sie überlegte, ob sie überhaupt eine Wahl hätte.

Linus hatte zwischenzeitlich die Frau mit einem Tritt gegen den rechten Stiefel geweckt. Nun beobachteten sie alle drei und warteten auf ihre Entscheidung.

Langsam ging Lana näher und kletterte unbeholfen in den Korb.
"Hi, ich bin Merle." nuschelte das Mädchen und zwinkerte ihr vorsichtig zu. Eine pinke Haarsträhne wehte Merle ins Gesicht und sie deutete auf ihre Begleiterin. "Das ist Suzanna." Die ältere Frau nickte nur und schloss dann wieder ihre Augen.

"Dann hält dich mal gut fest." Linus zog einen gewunden Stab aus seiner Hosentasche und deute mit der Spitze auf den leeren Ballon.

"Erecto!" murmelte er und wedelte mit der Spitze des Stabes. Lana riss ungläubig die Augen auf, als sich das rotweiße Ding plötzlich aufrichtete und über ihnen hing. Linus wedelte erneut und befahl "Ascendio!".
Der Ballon stieg in die Höhe und Suzanna flüsterte ein leises "Angeber."

Lana beschränkte sich darauf, sich kalkweiß an der Bordwand festzuhalten, während Merle hysterisch lachte.

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