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Unruhig tigere ich im Zugabteil auf und ab, ziehe wahllos Schubladen und Schränke mit allerlei teuren Klamotten auf und schließe sie wieder, ohne irgendetwas anzurühren.
Alysai hat uns direkt am Bahnhof empfangen und zu unserem jeweiligen Zugabteil geleitet. In einer halben Stunde solle ich zum Mittagessen erscheinen, davor sei ich frei zu tun, was immer ich will, hat sie mir mitgeteilt.
Mein Abteil ist größer als das Zimmer, dass ich im Waisenhaus bewohnt hatte – und wir schliefen zu fünft in einem. Es ist ausgestattet mit einem großen, weichen Sessel, einem frisch bezogenen Bett und einem großen, hölzernen Schrank, sowie einigen kleinen Kommoden. Nebenan befindet sich noch ein luxuriöses Badezimmer, aber ich bin nicht in der Stimmung zu duschen.
Stattdessen betrachte ich die rasant vorbeiziehende Landschaft vor dem großen Fenster. Bäume und Wiesen rauschen als verschwommene, grüne Punkte an mir vorbei und mit jeder Sekunde entferne ich mich ein Stück weiter von Distrikt 5.
Ich hätte alles dafür gegeben, jetzt im Waisenhaus mit den anderen Kindern im engen Speisesaal zu sitzen und das trockene, harte Brot zu essen und die fade Suppe zu trinken. Hauptsache nicht als Tribut auf dem Weg in die Hungerspiele.
Du bist aber nicht im Waisenhaus, sondern auf direktem Weg in das Kapitol. Akzeptiere deine Lage, Callida, und denk dir lieber etwas aus um zu überleben.
Du bist schlau. Ich glaube, die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf wiederhallen zu hören. Allein der Gedanke daran, wie sie mich einst angelächelt und diese Worte gesagt hat, versetzt mir einen Stich ins Herz...
Vor drei Jahren, als alles noch in Ordnung war und ich glücklich mit meinen Eltern in einem kleinem Haus nahe dem Zentrum von Distrikt 5 lebten. Wobei „glücklich" einmal dahingestellt war.
Zwar hatten wir immer genügend zu essen und ein vergleichsweise gutes Heim, da meine Eltern als Verwalter des Wasserkraftwerkes besser verdienten als der Großteil der Arbeiter. Aber im Gegensatz zu ihnen waren wir keine wirkliche Familie.
Ich beneidete die Familien in den äußeren Bezirken von fünf immer für ihren Zusammenhalt. Sie waren zwar bettelarm, aber sie würden wahrscheinlich ihr Leben für ihre Familie geben. Unsere Gespräche beim Abendessen bestanden hingegen nur aus oberflächlichen Belanglosigkeiten. Den Rest des Tages war ich in der Schule und wenn ich nach Hause kam, waren meine Eltern noch immer auf der Arbeit.
Ich war nicht wirklich unschuldig an der kühlen Familienatmosphäre, noch nie hatte ich mich freiwillig oder gerne anderen anvertraut und ich sah auch keinen Sinn darin. Meine Familie bildete da keine Ausnahme.
Im Nachhinein betrachtet tut es mir wirklich leid, dass ich die wenige Zeit mit meinen Eltern nicht sinnvoller verbracht habe. Aber Reue bringt sie auch nicht zurück, diese Lektion habe ich in den letzten Jahren gelernt.
Auch wenn sie selten mit mir über Ernstes sprachen, so bemerkte ich in der Zeit nach meinem zehnten Geburtstag, dass sich etwas bei uns veränderte. Meine Eltern schienen sich zu verändern, bei ihrer Rückkehr von der Arbeit verriegelten sie die Tür zweifach und prüften nach dem Abendessen, ob sie auch wirklich verschlossen war. Wenn wir draußen waren, warfen sie öfters prüfende Blicke über ihre Schultern.
Nachts, wenn sie glaubten, ich würde schlafen, zogen sie die Fensterladen fest zu und studierten im schwachen Schein der Öllampen alte Bücher. Ich fragte nicht nach, was sie machten. Ich lebte mein Leben, sie ihres und nur die Tatsache, dass wir unter einem Dach lebten und verwandt waren, stellte noch einen Bezug zwischen uns her.
Eines Tages, mitten in der Nacht, weckte mich meine Mutter. „Callida, komm mit", flüsterte sie. Sie zog mir eine Jacke an, mein Vater nahm eine große Tasche und ich wurde aus der Haustüre in die Nacht hineingeschoben.
Ich fragte sie, was das sollte, wohin wir so spät gingen, ob wir das durften. Sie antworteten mir, dass würde ich noch alles rechtzeitig erfahren, wir müssten uns beeilen und ignorierten meine verwirrten Fragen.
Wut stieg in mir auf. Sie sagten mir immer, ich wäre so unglaublich schlau, aber jetzt durfte ich plötzlich nichts wissen?
Zornig schrie ich auf, weigerte mich weiterzulaufen und überhörte die sichtlich verzweifelten Bitten meiner Eltern, leise zu sein. Ich war sauer, ich hatte ein Recht zu erfahren, was meine Eltern im Schilde führten und wohin wir gingen.
Wie aus dem Nichts lösten sich zwei Friedenswächter in ihren weißen Uniformen aus der dunklen Nacht. Sie packten meine Eltern und nahmen sie mit, zerrten sie weg von mir. Mein Vater versuchte sich zu wehren, doch die Friedenswächter drehten ihm seine Arme mit einem hässlichen Knacken auf den Rücken und führten ihn ab.
Ich schrie erneut, diesmal aus Furcht, Tränen bildeten sich in meinen Augen. Meine Mutter rief, ich sollte wegrennen. Leben kam in mich, ich schnappte mir die Tasche, die mein Vater fallen gelassen hatte und rannte.
Vor unserem Haus schaffte ich es, den Schlüssel aus der Reisetasche zu fischen und die Tür aufzuschließen. Ich warf mich auf mein Bett und weinte, in der Hoffnung, ich würde morgen aufwachen und alles würde sich als ein Traum entpuppen ...
Ein Klopfen an der Abteiltür und Alysais Stimme mit dem unverkennbaren Kapitolsakzent reißen mich aus meiner Erinnerung. Sie verkündet, dass es Zeit für das Mittagessen sei und ich in den Salon kommen solle.
„Beeil dich! Die anderen sind schon da!"
Ich richte mich auf und atme einmal tief durch, um mich zu sammeln. Gleich werde ich meinen Mentor für die Spiele kennenlernen und wenn ich einen schwächlichen Eindruck mache, wird er oder sie wenig Wert darin sehen, Sponsoren für mich anzuheuern
Ich straffe meine Schultern. Nein, je stärker und entschlossener ich erscheine, desto besser. Die Hungerspiele haben mit der Losung meines Namens begonnen und jetzt kann jede Aktion über mein Überleben entscheiden.
Ich trete hinaus in den Flur, der mit einem weichen, roten Teppich ausgelegt ist. Einige Meter weiter gelange ich zu der Tür des Speisesaals. Mit einem leisen Zischen öffnet sich diese automatisch und eröffnet den Blick auf eine reich gedeckte Tafel. Um den Tisch herum sind bereits Alysai, Chris und drei der ehemaligen Sieger versammelt.
Ich setzte mich auf einen freien Stuhl neben meinen Mittribut. Der Platz neben mir ist noch leer und Alysai wirkt sichtlich genervt, dass die zwei Sieger auf sich warten lassen und wir nicht mit dem Essen anfangen können.
Chris' hungriger Blick schweift über die Tafel. Uns jetzt, nachdem wir jahrelang nie genug zu essen hatten, vor einem Tisch voller Essen aus Höflichkeit warten zu lassen, grenzt beinahe an Folter.
Beim Anblick der vielen kunstvoll angerichteten Speisen läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich erinnere mich daran, dass meine letzte Mahlzeit bereits viele Stunden zurückliegt. Ich frage mich, ob es das Risiko wert ist, von Alysais bohrendem Blick erdolcht zu werden, um nicht den Hungertod zu sterben.
Gerade als Alysai erneut aufstehen will, öffnet sich die Tür und James Logan, der vorvorletzte Gewinner von Distrikt fünf tritt ein. Wortlos setzt er sich. Im nächsten Moment rauscht unsere Betreuerin aus der Tür, wahrscheinlich um Ivette Li-Sanchez zu holen.
Während sie weg ist, nimmt James sich kommentarlos einen großen Löffel Kartoffelbrei, sowie ein Brötchen und beginnt, ohne uns zu essen, ganz nach dem Motto "Scheiß auf Etikette, scheiß auf Alysai". Als Gewinner kann man sich wahrscheinlich sowieso alles erlauben. Als ich kurz davon bin, mir ebenfalls einfach etwas zu nehmen, kehrt Alysai zurück, mit einer sichtbar müden Ivette im Schlepptau. „So, jetzt da Callidas Mentorin auch da ist, können wir ja mit dem Essen anfangen"
Gierig schaufele ich mir allerlei Speisen auf den Teller. Buntes Gemüse mit weichem Reis, helle Brötchen, Hühnerschenkel, die vor Fett nur so triefen und eine dickflüssige, würzige Suppe. Ich kann mich nicht daran erinnern, je so gut gegessen zu haben. Durch ihre hohe Stellung im Kapitol hatten meine Eltern zwar öfters Kontakt zum Kapitol, aber selbst bei uns gab es nie annähernd so luxuriöses Essen.
Nach dem Nachtisch, der uns von Bediensteten des Kapitols gebracht wird – Eiscreme, wie Alysai uns erklärt, eine Delikatesse aus dem Kapitol, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe – bin ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten pappsatt.
Ich lasse meinen Blick über den Tisch schweifen. Chris scheint sich ebenso vollgestopft zu haben und lehnt sich nun entspannt in seinem Stuhl zurück, während Alysai gerade elegant den fünften Löffel neben sich ablegt und sich mit einer feinen Serviette den Mund abtupft.
Meine Mentorin - Ivette - scheint dagegen wenig bis gar nichts gegessen zu haben. Ihr Teller ist noch halb gefüllt, ihr Nachtisch ist unangetastet und sie starrt irgendwo in die Gegend, als wäre sie überhaupt nicht anwesend.
Hoffentlich ist das nur eine Ausnahmesituation. Ohne einen richtigen Mentor, der mich anleitet, mir Tipps gibt und Sponsoren anwirbt, werde ich in den Spielen wahrscheinlich keine Woche überlegen.
Als ob meine Gewinnchancen überhaupt sonderlich hoch stehen würden ... Die kurze Sicherheit, die durch das üppige Mahl entstanden ist, verflüchtigt sich wie im Nu, als sich die bittere Realität wieder in den Vordergrund drängt.
In einer Woche werde ich in die Arena geworfen und in maximal vier Wochen sind 23 Tribute tot ... und ich wahrscheinlich unter ihnen.
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