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Im Erdgeschoss des Erneuerungsstudios stehen bereits zwölf Streitwägen mit jeweils vier Pferden bereit. Ileana geleitet mich zu unserer Kutsche. Chris, der ähnlich aufgemacht ist wie ich, wartet schon im Wagen.
Meine Stylistin muss mir helfen, dass ich mit dem engen und schweren Kleid überhaupt auf die Kutsche steigen kann. Ich bin gezwungen, meine Füße ganz eng nebeneinander zu stellen, mehr Freiraum bietet das Kleid nicht und ich habe Sorge, dass ich während der Parade einfach vom Wagen kippe.
Vier Apfelschimmel sind vor unsere Kutsche gespannt, die leise schnauben und mit den Hufen scharren. Ich lasse meinen Blick durch den Stall wandern. Ganz vorne sind die Tribute aus Distrikt 1, eingekleidet in luxuriöse Kleider und über und über mit Glitzerstaub besprüht. Dann die Tribute aus Distrikt 2, Steinmetz. Eindeutig Karrieros.
Die Kinder aus Distrikt 3 sind ziemlich dünn und klein und gehen zwischen den Karrieros völlig unter. Hinter uns kommt der Wagen von Distrikt 6, die Tribute beide wahrscheinlich in meinem Alter. Die Tribute aus 7 sind, wie fast immer, als Bäume verkleidet.
Dann Distrikt 8, 9, 10, 11. Der Junge aus 10 fällt mir durch sein verkrüppeltes Bein auf. Der Junge aus 11 sieht in echt noch stämmiger aus, auf ihn werden sicherlich einige Kapitolsbewohner setzen und ich zweifele nicht daran, dass er in der Arena eine Gefahr sein wird. Seine Mittributin, ein kleines, zwölfjähriges Mädchen, sieht neben ihm noch kleiner und unscheinbarer aus, als sie sowieso ist.
Zuletzt kommt der Wagen von Distrikt 12. Ich betrachte das Mädchen, das sich freiwillig für ihre Schwester gemeldet hat und frage mich, ob sie irgendetwas besitzt, irgendeine Waffe beherscht, was ihr von Vorteil in der Arena sein könnte.
Das Startsignal ertönt, die Tore öffnen sich und unter großem Getöse fährt die erste Kutsche hinaus. Ich versuche, mich zu beruhigen und auf meinen Auftritt vorzubereiten. Einatmen, Ausatmen. Lächeln und Winken. Das Kapitol soll einen guten Eindruck von mir bekommen.
Viel zu schnell fährt die Kutsche von vier hinaus und im nächsten Moment sind wir dran. Mein Herz klopft wie verrückt und meine Handinnenflächen sind nass und schwitzig. Mit einem Ruck fährt unsere Kutsche los und im nächsten Moment sind wir mitten auf den Straßen des Kapitols, umringt von ekstatisch kreischenden und jubelnden Menschen in grellen Kleidern.
Tausende Gedanken rasen durch meinen Kopf. Ich bemühe mich um eine aufrechte Haltung und zwinge ein Lächeln auf meine Lippen. Ich zähle nicht zu den Tributen, die durch ihre Körpergröße beeindrucken können, also muss ich die Gunst der Kapitolsbewohner durch Sympathie gewinnen.
Die Menschenmenge schreit und winkt und ich hebe meine Hand, um ihnen zurückzuwinken. Auf einem der großen Bildschirme sehe ich mich selber. Das Kleid fängt die letzten Lichter des Abends eindrucksvoll ein, doch ich wirke im Kontrast zum Funkeln und Glitzern klein, unsichtbar und unsicher.
Von irgendwoher fliegen Rosen auf mich zu und eine landet vor meinen Füßen. Ich winke in die Richtung, aus der sie kam – lächeln, Callida, lächeln. Jubel und weitere Rosen kommen zurück. Das dämliche Grinsen fühlt sich künstlich und grimassenhaft auf meinem Gesicht an und bei all den schwindelerregenden Sinneseindrücken grenzt es an ein Wunder, dass ich noch auf dem Wagen stehe.
Mit einem Mal ertönen erschrockene Rufe aus dem Publikum, als „Distrikt 12" angekündigt wird. Unwillkürlich muss ich daran denken, wie die dortigen Tribute eines Jahres mit Kohlestaub bedeckt und ohne Kleidung vorgeführt wurden. Ich hebe meinen Kopf, um zu sehen, was da los ist.
Ich erblicke die Tribute aus Distrikt 11 auf den großen Bildschirmen, dann die aus zwölf. Ich reiße meine Augen auf. Die beiden Tribute aus Distrikt 12 brennen. Orange-rote Flammen züngeln an ihrem Umhang und ihrer Kopfbedeckung hoch und das Kapitol flippt völlig aus.
Den Rest der Parade winke ich weiter vor mich hin, aber so selten wie Distrikt 5 auf den Bildschirmen gezeigt wird, könnte ich es auch gleich lassen. Dennoch ziehe ich es durch, bis zum Ende, als sich die Kutschen in einem weitläufigen Kreis vor dem Präsidentenpalast einreihen.
Verärgert stelle ich fest, dass auf den Bildschirmen die meiste Zeit nur kurz an uns vorbeigeschwenkt und dann erneut nur auf die Kutsche von Distrikt 12 gezeigt wird.
Ich kann nicht wirklich einschätzen, wie sich die Parade auf meine Chancen ausgewirkt hat. Zwar ist mein glitzerndes und funkelndes Kleid recht beeindruckend, aber es ist nicht Neues für Distrikt 5. Solche ähnlichen Kostüme gibt es fast jedes Jahr.
Und wenn man auf Tribute wie die starken Karrieros, den Jungen aus elf oder das brennende Paar aus zwölf setzten kann, dann wird keiner sein Geld an einer 14-jährigen aus Distrikt 5 vergeuden, die wahrscheinlich schon am Füllhorn sterben wird. Winken können schließlich auch andere.
Nach der alljährlichen Rede von Präsident Snow setzten sich die Kutschen allmählich wieder in Bewegung und fahren in Richtung Trainingscenter.
Ich bin froh, dass die Parade vorbei ist. Mir ist schwindelig von den vielen Rufen der Zuschauer und ich verspüre eine gewisse Erleichterung, als der Präsidentenpalast mit Präsident Snow aus meinem Blickfeld verschwindet. Er ist in meinen Augen als mächtigster Mann Panems eine Verkörperung all dessen Grausamkeiten. Die Hinrichtung meiner Eltern, die Armut, die Hungerspiele. Doch daran möchte ich jetzt nicht denken.
₊˚ 𓃦 ˚₊
Alysai hatte nicht übertrieben. Im Vergleich zum Erneuerungsstudio bietet das Trainingscenter sogar noch mehr Luxus und unnötigen Prunk. Wahrscheinlich ist das aber auch nur ein Bruchteil dessen, was normale Bewohner des Kapitols besitzen.
Wir fahren mit einem Aufzug in Sekundenschnelle in die fünfte Etage. Jeder von uns bekommt ein weitläufiges Zimmer mit jeweils einem Bad. Alleine in der Dusche gibt es mindestens 50 verschiedene Luxusbehandlungen zum Auswählen.
Ich öffne den Kleiderschrank – noch mehr Kleider als im Zug. Ich finde eine Speisekarte neben einem Sprechrohr und auf Befehl steht im Handumdrehen ein warmes Brötchen neben mir.
Bevor ich weiter all die versteckten Funktionen des Zimmers auseinandernehmen kann, ruft Alysai zum Abendessen. Es werden Unmengen an Essen aufgetischt und wenn ich darüber nachdenke, dass auf jeder dieser zwölf Etagen dasselbe aufgetischt wird, bin ich wieder wütend über den Reichtum des Kapitols. Von all dem Essen hier könnte man einen ganzen Distrikt ernähren.
Später sehen wir noch eine Zusammenfassung der Parade, aber auch die hebt meine Laune nicht wirklich. Distrikt 12 ist der unumstrittene Star des Abends. Mein Gefühl, dass die Parade nur eine Möglichkeit für die Stylisten des Kapitols ist, sich gegenseitig zu übertrumpfen, verstärkt sich, als Chris' Stylist zwischendurch einfach wortlos aufsteht und sichtlich genervt den Raum verlässt.
Zurück in meinem Zimmer rufe ich mir in Erinnerung, dass morgen das Training beginnt. Zwar habe ich keine nennenswerten Stärken, die mir in der Arena etwas bringen könnten und das beunruhigt mich, aber andererseits kann ich morgen endlich meine Chancen selbst in die Hand zu nehmen.
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