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Der Wind fegt pfeifend über den mit Rissen durchzogenen Boden. Altes, braunes Laub wirbelt auf, erhebt sich für einen Moment spiralförmig in die Luft, nur um dann wieder regungslos auf den Boden zu fallen. Die triste Monotonie der grauen Betonlandschaft wird nur an einigen wenigen Stellen von Unkraut unterbrochen, das sich im Laufe der Zeit seinen Lebensraum zurückerobert hat.
Alles in allem ist der Innenhof des Waisenhauses wahrlich ein trostloser Ort. Aber für uns ist es unser zu Hause. Unser einziges zu Hause. Vielleicht liegt es auch am heutigen Tag, dass ich die Atmosphäre auf dem kargen Hof noch trauriger als sonst empfinde.
Schweigend führen uns die beiden Erzieherinnen hinaus. Wir sind wahrlich ein Trauermarsch, verkleidet in unseren besten Klamotten, die wir finden konnten und mit angstvoll geweiteten Augen. Ich trage ein zerknittertes, grünes Kleid, das mir schon lange zu kurz ist. Es gehört zu den wenigen Sachen, die ich aus meinem alten Zuhause noch mitnehmen konnte.
Bis zum Justizgebäude im Zentrum von Distrikt 5 liegt eine recht weite Strecke. Das Waisenhaus ist am äußeren Rand des Distrikts angesiedelt, daher haben die beiden Erzieherinnen Dasha und Leia uns bereits ziemlich früh aus dem Haus hinausgescheucht. Für Transportmittel haben wir nicht das nötige Geld.
Jetzt laufen die beiden mit erschöpften und sorgenvollen Gesichtern mit uns, eine vorne, die andere hinten.
Der lange Marsch bringt viel Zeit mit sich, in der erdrückenden Stille ringt wahrscheinlich jeder gerade mit der alljährlich aufsteigenden Angst, heute in die Arena geschickt zu werden. Ich versuche, die stetig präsente und wachsende Furcht zu unterdrücken.
Fünf Lose sind nicht viel, wiederhole ich als laufendes Mantra in meinem Kopf.
Drei Pflichtlose und zwei, die im Tausch gegen Tesserasteine hinzugefügt wurden. Natürlich hätten die Erzieherinnen nie von uns verlangt, dass irgendjemand aus dem Waisenhaus sich für die Getreiderationen einträgt. Aber in den letzten zwei Jahren hatten wir das gesamte Jahr über so wenig Essen gehabt, dass ohne die zusätzlichen Portionen sicherlich mehrere Kinder verhungert wären.
Dennoch waren alle entsetzt, dass einige von uns in ihrer Verzweiflung die extra Rationen mit nach Hause brachten, wohlwissend, dass wir ansonsten niemals den Winter überstanden hätten.
Das Kapitol ist wirklich gerissen. Sorgt erst dafür, dass die Leute in den Distrikten nicht genügend zu essen haben und offenbart uns dann die Möglichkeit, für ein zusätzliches Los Essen zu erhalten. Damit wir nie vergessen, wer wirklich die Macht über uns besitzt.
Obwohl ich mir mit meinem Mantra immer und immer wieder einrede, dass ich heute nicht gelost werden kann, lässt sich meine Angst nur schwer unterdrücken. Hypothetische Überlegungen geistern durch meinen Kopf. Was wäre, wenn ich doch gezogen werde?
Distrikt 5 hat die drittkleinste Kinderzahl Panems, da liegt die Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich niedrig. Eine Teilnahme an den Hungerspielen bedeutet mein sicheres Todesurteil.
Im Angesicht der Panik vor der Ernte verzerrt sich mein Zeitgefühl auf eine unnatürliche Weise, sodass ich bei der Ankunft vor dem Justizgebäude nicht sagen kann, wie lange wir gelaufen sind. Rational gesehen müssten es mehrere Stunden gewesen sein, dennoch erscheint mir die Zeit viel zu kurz. Mir wäre es recht, wenn wir nie hierangekommen wären.
Auf dem großen Platz erblicke ich viele, viele besorgte und hilflos Gesichter. Kinder, die sich mit ängstlichen Mienen an ihren Platz stellten. Zwei von ihnen werden heute in das Kapitol geschickt werden. Die meisten sind nicht besonders stark und ich glaube kaum, dass man mit Wissen über Energieerzeugung Leute umbringen könnte.
Während Dasha und Leia unsere Anwesenheit bestätigen, reihe ich mich zu den vierzehnjährigen in die Reihe ein. Um mich herum höre ich Gespräche, manche Stimmen klingen deutlich furchtvoll, andere versuchen, ihre Nervosität durch schrille Lacher und gezwungene Witze zu übertönen.
Ich beteilige mich an keinem der Gespräche. Ich bin schon immer eine Einzelgängerin gewesen. Die letzten Zuschauer werden von den Friedenswächtern auf der Hauptstraße ein Stück abseits vom großen Platz untergebracht.
Unser Bürgermeister, sowie die Betreuerin aus dem Kapitol, Alysai Hazen treten auf die Bühne. Die fünf noch lebenden Sieger folgen ihr und lassen sich jeweils auf den für sie bereitgestellten Stuhl nieder.
Der Bürgermeister tritt an das Mikrofon heran und nachdem Ruhe auf dem Platz eingekehrt ist, beginnt er mit seinen alljährlichen Erzählungen über den Untergang der alten Welt, die Entstehung Panems und den dunklen Tagen. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, ich kenne die Rede schon von den zwei vorherigen Jahren.
Danach werden die Namen aller Sieger von Distrikt 5 verlesen – insgesamt sieben Stück, davon fünf noch lebend. Ich lasse meinen Blick über die Bühne wandern. Venture Allardyce, Thorburn Chlodowech, James Logan, Ashleen Ballyregan und Ivette Li-Sanchez.
Nachdem der Bürgermeister seine Rede beendet hat, tritt Alysai Hazen vor, ihr silbernes Kleid reflektiert das Sonnenlicht und blendet uns alle. Jetzt ist der Moment gekommen. Sie spricht ihre üblichen Floskeln, dann stolziert sie zu der Glaskugel mit den Mädchennamen.
Mit einer eingeübten Handbewegung – wie viele Kinder, deren Name sie verlesen hatte, sind wenige Tage danach gestorben? – holt sie einen Zettel heraus.
Der ganze Platz scheint den Atem anzuhalten, in angstvoller Erwartung, wer die diesjährige Totgeweihte ist. Ich wiederhole immer und immer wieder mein Mantra, während Alysai den Zettel auseinander faltet.
„Und unser diesjähriger, weiblicher Tribut für Distrikt 5 ist ... Callida Finch!"
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass gerade mein Name verlesen wurde. Der Schock fährt durch meinen Körper und schaltet kurzerhand mein Gehirn aus. Wie ein Außenstehender sehe ich, wie mein Körper sich wie in Trance bewegt.
Mit ausdruckslosem Gesicht laufe ich an mitfühlenden Mienen vorbei, die Kindermenge macht mir Platz und ich steige auf die Bühne. Die schwarzen, ausdruckslosen Linsen der Kameras verfolgen jede meiner Bewegungen.
Alysai zieht mich zu sich und fragt nach Freiwilligen. Ich blicke in die betroffenen Gesichter, die meinen Blicken ausweichen, natürlich rührt sie niemand.
Die Betreuerin tänzelt zu der Kugel mit den Jungsnamen. „Chris Vendra", verliest sie.
Ein Junge mit dunkeln Haaren, wahrscheinlich zwei Jahre älter als ich, kommt auf das Podest. Ich habe ihn vielleicht ein-, zweimal gesehen. Nicht, dass ich ihn in irgendeiner Weise kennen würde. Wenigstens muss ich so niemanden sterben sehen, den ich irgendwie kenne.
Alysai bedeutet uns beiden, uns die Hände zu reichen. Aus der Menge ertönen einige vereinzelte Klatscher, die meisten Zuschauer bleiben stumm.
Nach der Erntezeremonie werden wir von Friedenswächtern in das Gerichtsgebäude gebracht. In einem edel eingerichteten Zimmer könnten diejenigen, die sich noch von mir verabschieden wollen, mich zum wahrscheinlich letzten Mal sehen.
Ich setze mich auf einem der weichen Sessel und warte – auf niemanden. Meine Eltern sind vor drei Jahren gestorben, Verwandte, die mich kümmern, habe ich keine und Freunde ebenso nicht. Dementsprechend bin ich ziemlich überrascht, als Dasha und Leia eintreten.
Sie sprechen mir aufmunternde, ermutigende Worte zu, die leider nicht sonderlich viel bei mir ausrichten können. Die Panik dominiert mein Denken und meine Glieder zittern immer noch vom Schock, obwohl ich es zu verbergen versuche.
Aber ich bin letztendlich doch ziemlich dankbar, dass sie sich die Zeit genommen haben, sich von mir zu verabschieden. Ich hätte es den beiden nicht übel genommen, wenn sie einem der namenlosen, nervigen Kinder, die sie tagtäglich auf Trab halten und weit über den Rand ihrer Belastungsgrenze treiben, nicht Lebewohl gesagt hätten.
Als sie sich nach kurzer Zeit wieder verabschieden und die Tür mit einen leisem Geräusch ins Schloss fällt, bleibt ein seltsam hohles Gefühl in mir zurück. Vielleicht bedeuten wir Kinder den zwei doch mehr, als wir glauben. Jetzt habe ich sie wahrscheinlich zum letzten Mal in meinem Leben gesehen.
Die Friedenswächter kommen und führen mich schweigend aus dem Justizgebäude, zum Auto, das uns zum Bahnhof bringen wird. Bevor wir aus der Tür in die Freiheit treten, atme ich einmal tief durch und setze eine neutrale Miene auf.
Jetzt werden wir in das Kapitol gefahren. Direkt in die wartende Meute der dortigen Bewohner, die sich bereits darauf freuen zu sehen, wie einer der Tribute nach dem anderen abgeschlachtet wird.
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