Kapitel 2

Meine Großmutter Rose bemerkte meinen und Lukes Stimmungsabfall sofort. „ Ihr solltet jetzt eure Briefe holen und nehmt euch eine Jacke mit es ist kühl draußen!", forderte sie uns auf. Schweigend gingen Luke und ich in unsere Zimmer. Ich tauschte meinen Sweater gegen eine ausgewaschene Jeansjacke einige Nuancen heller als meine Hose. Das ärmellose Top ließ ich an mir war es egal ob ich fror dort wir hingingen würde es immer kalt sein. Auch im Hochsommer oder im Frühling. Ich zog mir noch ein paar schwarze Chucks an und war fertig. Mein Handy ließ ich Zuhause, heute wollte ich nicht gestört werden. Die Haustür war bereits offen. Die beiden saßen auf der kalten Steintreppe und starrten in den grauen Himmel. Der Geruch von Regen lag in der Luft. Kaum hatte ich es gedacht, fing es auch schon zu regnen an. Ich schloss die Tür. Das Geräusch riss Grandma und Luke aus ihren Gedanken und sie wandten sich blitzartig zu mir um. Ohne noch ein Wort zu verlieren, bewegten wir uns auf den kleinen roten Käfer meiner Großmutter zu.

Luke setzte sich auf die Rückbank während ich mich auf dem mit abgenutzten weißen Leder bezogenen Beifahrersitz niederließ. Auch Rose, wie ich sie nannte wenn ich etwas angestellt hatte bezog Stellung hinter dem Steuer. Wir fuhren auf einer etwas ab gelegeneren Straße deren Ränder mit Ahornbäumen gesäumt waren. 

Die Bäume wirkten wie Wegweißer. Die Rot- Orange- und Brauntöne der Blätter wirkten bei diesem tristen Wetter aufheiternd und wohlig. Einerseits liebte ich den Herbst. Er ließ alles in diesen warmen wohligen Farben erstrahlen. Er gab den Blättern noch einmal die Zeit herauszustechen bevor sie starben. 

Ich liebte den Herbst, aber andererseits verabscheute ich ihn auch. Denn er war der Anfang vom Ende gewesen. Ich legte meinen Kopf gegen die kalte Scheibe, schloss die Augen und lauschte dem sanften Prasseln des Regens. Ich versetze mich in eine andere Zeit zurück, in eine glücklichere Zeit. 

Man konnte sagen was man wollte aber ich war schon immer ein Dickkopf gewesen. Anfangs wirkte ich immer etwas schüchtern und verschlossen aber wenn man mich erst einmal besser kannte wurde einem erst klar wen man da vor sich hatte. Mein Vater nahm sich ein Tier um mich zu beschreiben, eine Raupe. Anfangs wirkte sie unscheinbar und klein, doch mit der Zeit verwandelte sie sich in einen wunderschönen Schmetterling, der alle mit seinen Farben verzauberte. Das war eigentlich nur ein verschönerter Abklatsch. Denn Großmutter hatte Dad immer mit einer Weinbergschnecke verglichen, die sich langsam aus ihrem Haus hervor wagte. 

Ich war schon immer ein Vaterkind gewesen, naja es wäre auch schwer gewesen ein Mutter-Kind zu sein, denn immerhin kannte ich sie kaum. Sie war immer auf irgendwelchen Geschäftsreisen gewesen und kurz nach Lukes Geburt war sie dann endgültig verschwunden. Doch auch wenn das kaltherzig klingt mir war das beinahe einerlei. Ich hatte von Kindheit an gelernt diese Frau, die für mich kein Gesicht besaß zu verachten. Durch diese Gedanken an „die Frau" war mir die Lust auf jegliche Träumerei schlagartig vergangen. 

Ich öffnete die Augen und bemerkte dass mein Bruder durch das Fenster zu mir herein starrte. Ich erschrak doch wurde von meinem Sicherheitsgurt auf der Stelle gehalten. „Komm schon, hier draußen ist es ganz schön kalt!", meinte mein kleiner Bruder, welcher während der gesamten Fahrt auffällig ruhig gewesen war. Ich befreite mich von meinem Gurt und stieg aus dem Käfer. Meine Finger verweilten noch einige Momente an der Kante der Autotür bis sie diese schlossen.

Nun stand ich dort. Am Anfang dieses Weges den ich schon so oft zurückgelegt hatte. Doch jeder Schritt schmerzte noch genauso wie beim ersten Mal als ich ihn tat. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Der Schotter unter meinen Schuhen gab ein entsetzliches Knirschen von sich. Dieses Geräusch nahm mir jede Möglichkeit zu fliehen. Ich konnte meine Augen schließen oder meinen Blick in den Himmel richten aber dieses Geräusch verriet mir mit jeder Bewegung wo ich mich befand. 

Plötzlich ergriff mein Bruder meine eiskalte Hand, was mich zusammenzucken ließ. Stumm blickten wir uns in die Augen. Gewollt langsam gingen wir den Schotterweg entlang bis wir vor einem Schmiedeeisernen Tor standen. Großmutter folgte von mit einigem Abstand. Sie wusste dass es besser war uns jetzt nicht zu nahe zu kommen. Meine Hand bewegte sich auf den Zugang zum Ort der ewigen Trauer zu doch Luke.....mein Luke erfasste meine sich widerstrebend bewegenden Finger und bedeutete mir sie wieder zu senken. Er wusste, wie schwer mir das alles fiel. Natürlich war es auch für ihn schmerzhaft doch er hatte eine innere Stärke, welche in solchen Momenten besonders deutlich wurde. Im einen Moment war er der kleine Junge den man trösten musste, im nächsten Moment war er es der meine Tränen trocknete. Ohne zu zögern öffnete mein Brüderchen die Pforte zu dem Ort an welchem weit und breit keine Menschenseele zu sehen war.

Der Wind frischte auf und blies uns entgegen so als wollte er uns von diesem Ort fernhalten. Die Kälte drang bis in meine Knochen. Ich spürte Lukes zitternden Körper, welcher sich gegen meinen presste. Gegen den Wind ankämpfend traten wir ein und machten uns direkt auf den Weg zu unserem endgültigen Ziel. Orange- und rot gefärbte Blätter flogen uns entgegen. Sie fallen zu Boden. Langsam aber stetig fallen sie alle zu Boden. Die Blätter die in diesem Herbst sanft mit dem Wind nach unten getragen werden. Doch kurz nach dem Ereignis weswegen wir uns heute hier befanden sah ich in ihnen keine bunten Blätter mehr. Für mich war es so als würden sie nicht getragen, die Teile der Bäume schlugen mit voller Wucht auf dem Erdboden auf. Sie zerbrachen, wurden regelrecht pulverisiert. Sie zerfielen bis auf den letzten Rest. Sie waren nur mehr Staub. Der Wind erhob sich und sie wurden hinfort geweht. Weit weg von diesem Ort. Weit weg von mir. Wie die Reste der Herzen. Die Herzen der Menschen die ich liebte! Ja, so habe ich gedacht. Doch meine Familie richtete mich wieder auf. Meine Liebsten erinnerten mich daran, dass ich wie egoistisch ich gewesen war. Ich hatte ihnen gegenüber eine gewisse Verantwortung und mich in meine Trauer zu stürzen ohne an sie zu denken war pure Selbstsucht.

Letztendlich hatte uns Oma eingeholt und nun standen wir drei hier. Vor diesem kalten Stein in dem in goldenen Lettern ein Name stand. Daneben war ein Ständer aus Eisen auf dem ein laminierter weißer Zettel befestigt war. Auf diesem Blatt standen, der Name der meiner Eltern, der meiner Grandma, Lukes Name und mein eigener. Unsere Namen waren durch gedruckte Linien mit dem Namen der Person, welcher der Felsblock gehörte verbunden. Die Grafik sah aus wie ein Stammbaum. Ich sah auf die stärkste Verbindung die mich noch mit dieser Person verband, auf diesen kleinen schwarzen Strich. 

Wir waren alle völlig durchnässt da keiner von uns an einen Regenschirm gedacht hatte doch das war uns im Moment völlig egal. Die letzten Tropfen des Regens welcher seit dem Beginn unserer Reise auf uns niedergeprasselt war, fielen mir ins Gesicht. Der Regen vermischte sich mit meinen Tränen und fand so als Gemisch von Wasser und Salz seinen Weg zu Boden. Meine Augen blickten wieder auf den Stein. 

Ich sprach mit zitternder Stimme Worte, die mir seit meinem letzten Besuch hier nicht mehr über die Lippen gekommen waren: „Hallo, Daddy."


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