Gestrandet

Tristans Gedanken überschlugen sich. Die Nixe war zusammengebrochen und lag ausgestreckt auf dem Sand. Die Sonne schraubte sich in immer steilere Höhen und brannte ihm mittlerweile unbarmherzig auf den Nacken. Zumindest an der fehlenden Dämmerung erkannte er, dass sie sich fernab Dämmertals befanden. Solche Hitze war eher für die Sonnenau bekannt, wo es vielerlei Flecken gab, die fernab jeglicher menschlicher Besiedlung waren. Womöglich befanden sie sich gar nicht auf einer Insel. Wenn er tiefer ins Landesinnere kehrte, traf er vielleicht in Kürze auf Menschen und war gerettet.
Er rüttelte an ihr. „Ich frage dich zum letzten Mal: Wo sind wir?"
Sie reagierte nicht. Ihre Augenlider waren geschlossen, der Atem ging flach und stoßweise. Die Nixe lebte im Meer. Es war nicht auszuschließen, dass sie fernab dessen ohne Wasser starb. Er raufte sich die Haare. Wenn es kein Schauspiel war und sie sich doch auf einer Insel befänden, musste er sie am Leben halten.
Immer wieder hinter sich blickend, lief er zum Wasser. Das Meer war wunderschön und glitzerte im Schein der Sonne. Hier könnte er sich vorstellen, eine Weile zu verbringen, seine Seele heilen zu lassen, zur Ruhe zu kommen. Doch dieser Gedanke war töricht. Er wusste weder, welche Gefahren hier auf ihn warteten, noch wie viel Nahrung ihm zur Verfügung stand. Und er zweifelte schwerlich daran, dass er den Winter hier überlebte.
Mit den Händen schöpfte er das lauwarme Nass und war versucht, selbst einen Schluck zu nehmen. Er tippte mit der Zungenspitze daran und verzog den Mund. Was hatte er auch erwartet? Dass das Meer hier süß wäre? Seine Kehle war wie ausgedörrt, was er bisher seiner Aufregung wegen kaum wahrgenommen hatte. Vielleicht war er es bald, der um Wasser bettelte.
Auf dem Weg zu der Nixe zurück, verlor er den Großteil seines wässrigen Guts. Er hoffte, dass sie Salzwasser vertrug und er sie damit nicht umbrachte.
Er legte die Hände an ihren Mund und ließ ein Rinnsal gegen ihre Lippen schwappen. Zitternd öffnete sich ihr Mund und empfing gierig das Dargebotene. Sie leckte sich über die rauen Lippen und öffnete flatternd ihre Augen. Das Verlangen nach mehr stand ihr ins Gesicht geschrieben. Seufzend lief er zurück, bemühte sich, möglichst wenig zu verlieren, doch wieder war es nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein, den er ihr einflößte.
„Wenn das so weitergeht, bin ich selbst verdurstet und wir sind kein Stück weitergekommen", meinte er, nachdem er bereits fünfmal gerannt war und die Erschöpfung durch die gestrigen Strapazen und die wachsende Hitze in den Gliedern spürte.
Die Nixe sah aus den Augenwinkeln zur Wasserlinie, sagte aber nichts dazu. Natürlich wäre es das Einfachste gewesen, sie dorthin zu tragen. Doch ihnen beiden war klar, dass er es ihr keinesfalls so leicht machen würde, die Flucht anzutreten.
„Es ist heiß", klagte sie so verhalten, dass er es fast nicht wahrgenommen hätte.
Tatsächlich hatten sich bereits Rötungen auf ihrer Haut gebildet. Für ein Wesen, das den ganzen Tag im Freien verbrachte, war ihre Haut auch ungewöhnlich bleich.
Am Rande der Bucht, in der sie gestrandet war, erhob sich ein zerklüftetes Felsmassiv. Noch stand die Sonne tief genug, sodass es einen langen Schatten über den Strand warf. Der Sand dort war noch dunkel vor Nässe gefärbt.
„Ich bringe dich in den Schatten rüber."
Sie nickte nur wortlos. Also packte er sie unter den Schultern und schleifte sie hinüber. Ihr Gesicht verzog sich bei dieser Prozedur. Er tat ihr weh, aber sie war so schon schwer genug und er wollte sich nicht vorstellen, wie anstrengend es wäre, sie zu tragen.
Die Nixe atmete auf, kaum ließen sie den sonnigen Teil des Strands und rieb ihren Körper am feuchten Sand.
„Verbrennt dich die Sonne so, weil deine Haut ausgetrocknet ist?", fragte Tristan.
Sie sah ihn mit sichtlichem Erstaunen in den Augen an und nickte.
Tristan legte die Stirn auf den Händen ab. Sie brauchte sicher eine Menge Wasser und das Meer war jetzt noch weiter entfernt. Zu Mittag würde die Sonne auch hier erbarmungslos auf sie herabbrennen. Wie sollte er sie am Leben halten, ohne selbst bei dem Versuch zu sterben? Vielleicht wäre es leichter, sich ihrer zu entledigen und es drauf ankommen zu lassen.
Sie sah sich suchend um, wie eine Katze, die zum ersten Mal ihr neues Heim betrat. Unter ihre leidgeplagten Züge mischte sich so etwas wie kindliche Neugierde. Sie wirkte überhaupt nicht mehr wie das Monstrum, das sie war. Viel eher schutzbedürftig und lieblich. Selbst wenn er es wollte, könnte er sie nicht einfach so töten. Es schien ihm, als hätte jemand anders den Mord an seinem Freund begangen, als wäre er mit einer gänzlich Unschuldigen hier gestrandet.
„Was spielst du mir hier eigentlich vor? Was soll das werden?"
Sie hielt in ihrer Suche inne und legte den Kopf schief. Dann deutete sie schräg nach oben, senkte das Kinn, als sammele sie ihre Kräfte, ehe sie mit schwacher Stimme sprach: „Dort oben findest du Wasser."
Tristan folgte ihrem Fingerzeig, machte aber nichts außer Felsmassiv, Moos und verschiedenen Pflanzen aus, die sich an den Hang schmiegten. „Du willst mich nur weglocken, damit dir die Flucht gelingt."
Die Nixe schnaubte und verdrehte die Augen, wie eine Mutter gegenüber ihrem störrischen Kind.
„Woher willst du wissen, dass ich dort Wasser finde?"
Sie verzog missmutig die Lippen. „Ich spüre es", erwiderte sie heiser.
Das Sprechen musste sie sehr anstrengen, so bedacht, wie sie ihre Worte wählte. Die Nixe stützte sich schwer auf ihren Ellbogen und atmete rasselnd ein und aus.
Tristans Blick glitt über die raue Felswand. Es gab einige Einbuchtungen darin, herausragende Felsen, Kletterpflanzen und Buschwerk, woran er Halt finden könnte. Er hielt den Zeigefinger in die Höhe. „Du wartest hier."
Die Nixe sah ihn nur erschöpft aus den Augenwinkeln an, als wolle sie klarmachen, dass sie hier nicht wegkonnte. Ein fiebriger Glanz lag in ihren Augen.
Kopfschüttelnd wagte er den Aufstieg, sah sich dabei immer wieder zu ihr um. Er erwartete, dass sie jeden Augenblick quicklebendig strampelte und die Flucht antrat. Doch während er Stück für Stück weiter in die Höhe kletterte, legte sie sich nur flach hin und rührte sich nicht mehr. Er griff nach einer Kletterpflanze, die sich bis ganz hinauf schlängelte und fest mit dem Felsen verbunden schien und hangelte sich daran hinauf wie an einem Seil. Sie hatte ihn belogen. Wahrscheinlich ein Versuch, ihn mürbe zu versuchen, die letzte Kraft aus ihm zu saugen, sodass er sie nicht mehr gefangenhalten konnte.
Er wollte gerade umdrehen, da entdeckt er zu seiner Rechten eine längliche Ausbuchtung im Gestein. In einer Kuhle hatte sich klares Wasser angesammelt. Beim Anblick dieses kleinen Wasserbassins leckte er sich unwillkürlich auf seine rissigen Lippen. Er kletterte hinüber, kniete sich über das Wasser und nachdem er eine Handvoll gekostet hatte, schlürfte er es gierig hinunter, bis der gröbste Durst vergangen war.
Mit dem Finger fuhr er den Rand der natürlichen Schüssel nach. Er brauchte einen Behälter. Damit könnte er die Nixe versorgen, ohne dass sie floh. Doch bis er einen solchen hergestellt hatte, war sie womöglich bereits verdurstet.
Flink kletterte er wieder zu ihr herab. Vorsichtig berührte er ihre Stirn, die sich fiebrig heiß anfühlte. „Lebst du noch?"
Ihre Stirn legte sich in Falten. Sie hob den Kopf und sah ihn grimmig an, als fühlte sie sich von der ständigen Fragerei genervt.
Ihr Anblick entlockte ihm ein verschmitztes Grinsen. „Wollte nur sichergehen, dass ich keine Zeit damit verschwende, eine Leiche zu tränken."
Sie rollte mit den Augen und strich sich die Haare, die seidig über ihr Gesicht liefen, hinter die Ohren. „Du hättest allen Grund, mich sterben zu lassen." Sie schluckte hörbar.
Tristan war überrascht über diesen plötzlichen Redeschwall. Es fühlte sich wie ein Lob für ihn an, nachdem er ahnte, wie schwer ihr jeder Ton fiel. Trotz des heiseren Tonfalls hatte ihre Stimme etwas Betörendes an sich, was ihn lockte, sie immer wieder zu hören. „Dein Tipp mit dem Wasser war gut." Er biss sich auf die Unterlippe. Die nächsten Worte fielen ihm schwer: „Ich danke dir dafür. Jetzt werde ich dir denselben Gefallen erweisen, also halte durch."
Ein schwächliches Lächeln zwängte sich auf ihre Lippen, ehe sie den Kopf wieder auf den Sand fallenließ und die Augen schloss.
Sie würde nicht fliehen, das war ihm mittlerweile mit Sicherheit klar. Womöglich täte sie es, hätte sie noch die Kraft dazu. Doch an Land zu sein, schien das Leben aus ihr zu saugen wie die Sonne das Wasser aus einem Schwamm. Das Wasser hatte ihm wieder etwas Kraft verliehen und er lief in lockerem Tempo das sanft ansteigende Gelände hinauf.
Hier wuchsen eine Vielzahl von Pflanzen, die er nicht benennen konnte, noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Entweder hier hatte sich ein Gnomengärtner ausgetobt oder er war weit von seiner Heimat entfernt gestrandet. Schon bald verdichtete sich der spärliche Baumbewuchs. Ein dichter Wald voller fremder Gerüche eröffnete sich ihm. Die Bäume schraubten sich in gewaltige Höhen empor. Sie waren von eher schlankem Wuchs, besaßen kaum Geäst außer ihrer dürren Krone weit oben. Trotzdem bildeten sie ein dichtes Blätterdach, indem sie einander überlappten. Am Boden herrschte emsiges Treiben. Fliegen sausten durch die Luft, Zikaden zirpten einen rhythmischen Takt und unterstrichen damit den Vogelgesang aus schwindelerregender Höhe. Gelegentlich knackte ein Ast, raschelte das Buschwerk und in der Ferne vernahm er nu deutlicher das Tosen von Wasser. Irgendwo musste es einen Fluss oder dergleichen geben.
Unter dem dichten Buschwerk fand er eine Pflanze vor, deren riesenhafte Blätter die wenigen Lichtstrahlen einfingen, die das dichte Dach über ihnen passierten. Er rupfte sich ein paar dieser und eilte zurück zum Strand. Er formte sie notdürftig zu einem Behälter, den er mit den Händen fixierte und schöpfte Wasser damit. Zufrieden lächelte er über seinen Erfolg. Die Blätter waren stark genug, sodass sie nicht rissen.
Die Nixe hörte ihn nicht einmal, als er zu ihr kam. Sie lag stumm darnieder, als wäre sie bereits gestorben. Eine Weile fürchtete er sogar, genau das wäre geschehen, doch als er genau hin hörte, vernahm er ihren schwachen Atem. „Lebst du noch?", fragte er mit einer Spur Schalk in der Stimme.
Die Nixe ballte die Hand zur Faust, als würde sie ihn am liebsten verprügeln.
„Ich habe dir Wasser gebracht."
Schwerfällig hob sie den Kopf und riss die Augen verblüfft auf, als sie die vergleichsweise große Menge in seinen Händen erblickte. Sie stemmte sich in die Höhe und trank in gierigen Zügen aus dem dargebotenen Behältnis, bis Tristan es ihr plötzlich wegzog.
Sie sah ihn entsetzt an, als hätte er ihr einen Speer in die Brust getrieben.
„Bevor ich dich weiter versorge, erwarte ich, dass du redest."
Sie atmete tief ein und ließ die Luft in einem Schwall wieder ausströmen, nickte dann aber.
„Wie heißt du?"
„Serena."
Er nickte. „Ich heiße Tristan."
„Soll ich dir jetzt die Hand reichen?", fragte sie genervt. Das Wasser hatte ihrer Stimme den heiseren Klang genommen. Nun hatte sie wieder diesen leichten, melodischen Singsang in der Stimme, als wäre jedes ihrer Worte eine Arie voll der Liebe und der Anmut. Und das selbst wenn sie sich über ihn ärgerte.
„Nein, ich wollte nur nicht, dass ich dich ständig mit Fischweib oder Monster anreden muss."
„Wie höflich von einem Menschen, der mich gerade zu foltern versucht."
„Ich könnte das Wasser auch außerhalb deiner Reichweite auf den Boden schütten", erwiderte er mit einem süffisanten Grinsen.
„Du bist grausam!" Eine stille Anklage lag in ihren Augen.
Tristan fühlte tatsächlich eine Woge von Schuld in sich aufkommen. Sie hatte ihm gezeigt, wo er Wasser fand, ohne etwas dafür zu verlangen. Doch er brauchte Informationen von ihr, sonst würde er hier nie wieder wegkommen. Ihre Heimat lag nur ein paar Schritte den Strand hinunter, seine eigene konnte viele Seemeilen entfernt liegen. „Beantworte mir meine Fragen und du kannst so viel Wasser haben, wie du willst - versprochen."
„Du willst also das Unweigerliche hinauszögern?"
„Wovon redest du?"
Sie schloss die Augen und stieß ein Seufzen aus. „Du wirst mich töten."
Tristan presste die Lippen zusammen und war für einen Moment zu keiner Antwort in der Lage. Es war eine Sache, ein Monstrum zu töten, Rache an einer Kreatur zu nehmen, die den besten Freund umgebracht hatte. Eine andere, einem Wesen das Leben zu nehmen, dass so menschlich und noch dazu wunderschön anzusehen war. „Du hast meinem Freund das Leben genommen. Es ist nur recht und billig."
„Dann tu es wenigstens gleich. Bring es hinter dich und quäl mich nicht, indem du mich nach meinem Namen fragst, mir Hoffnung bereitest."
„Wenn ich dich quälen wollte, würde ich dich verdursten lassen. Aber ich verspreche dir, dass es schnell und möglichst schmerzlos sein wird."
Sie sah zur Seite und nickte. Tränen traten ihr in die Augen.
„Warum weinst du jetzt?" Ihre Gefühlsregungen brachten ihn durcheinander. Sie weckte den Beschützerinstinkt in ihm mit ihrem zerbrechlichen Wesen, das so ganz und gar nicht ihrer grausamen Natur entsprach.
„Weil ich traurig bin, warum sonst?", blaffte sie ihn an und wischte unwirsch über ihre Augen.
„Wieso?" Die Frage war dumm, doch irgendwie erwartete er sich von ihr mehr, als der bloßen Furcht vor ihrem nahenden Ende. Jemand, der ständig tötete, konnte doch selbst nicht den Tod fürchten.
Sie antwortete ihm nicht.
„Hast du Angst zu sterben?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Was ist es dann?"
„Was kümmern dich die Gefühle eines Monsters?"
Tristan schürzte die Lippen und nickte. Im Grunde hatte sie Recht. Es war nicht nötig, sie zu verstehen. „Also, wo sind wir hier?"
„Ich habe keine Ahnung."
„Du lügst."
„Beweis das Gegenteil."
„Ich könnte dein Wasser verschütten."
„Und dann?"
„Wirst du hoffentlich reden."
Sie legte sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. „Das führt doch zu nichts." Die Sonne berührte bereits ihre Stirn und sie drehte sich ein Stück, um weiter im Schatten zu verweilen.
„Entweder du redest oder du wirst in Kürze ein Sonnenbad nehmen."
„Also sind wir wieder bei der Folterung angekommen? Ihr Menschen seid wirklich herzallerliebst."
„Du lässt mir keine Wahl!"
„Du könntest mir glauben! Hier an der Oberfläche habe ich keine Orientierung."
„Das ist doch nur eine Ausrede, damit ich dich ins Meer lasse."
Sie bog die Hände zu Krallen. „Hast du eine Ahnung, wie mühselig es ist, mit dir zu reden? Ich hätte längst fliehen können, hätte ich es gewollt, dann hätte ich mir diesen Unsinn erspart." Die letzten Worte waren ihr herausgerutscht, denn sie presste sofort den Mund zusammen, als wolle sie verhindern, dass er noch mehr dummes Zeug plapperte.
„Von wegen. Wir sind hier angespült geworden und dummerweise war ich vor dir wach."
Sie starrte zu Boden.
„Sag etwas dazu."
Serena musterte ihn nur mit erhobenen Brauen und schüttelte dann wie ein bockiges Kind den Kopf.
„Verdammt, rede, habe ich gesagt!" Er war so wütend, dass er ihr Wasser ausschüttete.
Das brachte die Nixe in Bewegung. Sie drückte sich mit ihrer Flosse ab und sprang ihm entgegen. Tristan wich in Erwartung eines Angriffs zurück, doch sie legte nur die Hände auf das kühle Nass, rieb dann die Arme darüber und wirkte für einen Moment fast entspannt.
„Was treibst du da?"
„Ich befeuchte meine Haut, sieht man das nicht?", gab sie verärgert zurück. „Trinken werde ich es jetzt wohl kaum mehr können."
Tristan lehnte sich an den Felsen hinter sich und starrte in den Sand. Serena zog ihre Flosse an und malte mit dem Finger verworrene Muster hinein. Sie verweilten eine Weile gedankenversunken, derweil die Sonne immer höher stieg und bald Serenas Rücken erreichen würde. Tristan blieb nicht mehr viel Zeit, sein weiteres Vorgehen zu planen. In der Morgensonne hatte sie bereits gelitten, was würde die Mittagshitze mit ihr anstellen? Er wollte sie nicht quälen, auch wenn ein Teil von ihm sagte, dass sie genau das verdiente.
„Also gut, ich glaube dir", sagte er schließlich. „Ich kenne auch nicht jeden Flecken Amirathyas, warum solltest du jeden außerhalb des Festlands kennen?"
Sie schob die Lippen nach innen und nickte zögerlich.
„Bist du in der Lage, zurückzufinden?"
„Bei ruhiger See hört man meine Stimme sehr weit durch den Ozean. Ich könnte nach meinen Schwestern rufen und anhand ihrer Antwort die Richtung bestimmen, wenn es sein muss."
Der Gedanke, dass er einer Horde von Nixen gegenüberstand, behagte ihm nicht unbedingt, aber wenn er sie unter Kontrolle hatte, könnte er die anderen nötigenfalls im Zaum halten. „Ich werde ein Floß bauen", entschloss er.
Serena lachte glockenhell auf.
„Was ist daran so komisch?"
„Wenn es ähnlich stabil ist wie dein Wolkenschnitter, fürchte ich, wirst du damit nicht überleben."
„Du wirst mein Zugpferd sein, meine Teuerste."
„Was?", fragte sie schrill.
Tristan hob die Schultern. „Denkst du, ich paddele den ganzen Weg zurück, ohne überhaupt zu wissen, wohin ich muss?"
„Ich bin doch kein Seepferdchen!"
„Du hast Recht. Dafür bist du viel zu groß." Er richtete sich auf und streckte sich. „Ich hole dir jetzt Wasser. Wir werden ein Stück durch die Sonne müssen, wenn du nicht hierbleiben und in der Hitze verenden willst."
„Was hast du vor?"
Tristan deutete in Richtung des Waldes. „Wir gehen zur Mitte der Insel. Dort gibt es ausreichend Holz und ich hoffe darauf, Nahrung zu finden. Früher oder später müssen wir etwas essen."
„Du erwartest doch nicht, dass ich den Weg über Land robbe?"
Tristan schluckte schwer. „Ich werde dich tragen."
Serenas Wangen färbten sich rot. „Du willst mich tragen?"
„Ich will nicht, aber ich muss wohl. Es ist sicher weniger mühsam, als dich hinter mir herzuschleifen."
Serena starrte ihm ungläubig nach, als er den Weg zum Wasser antrat. Sie hatte nicht unbedingt erwartet, lange an seiner Seite zu überleben. Würde sein Tun ihre Qualen nur in die Länge ziehen oder entkam sie dieser Situation vielleicht doch noch?
Jetzt, wo er ihr den Rücken zuwandte, fiel die Last von ihr, ihre Schmerzen zu überspielen. Sie legte sich auf den Bauch und schrie die Pein in den Sand hinein. Nie zuvor hatte sie so lange in Gestalt einer Nixe Luft geatmet. Ihre Lungen stachen fürchterlich, als stäche jemand mit jedem Atemzug eine weitere Nadel in ihr Fleisch. Die heiße Luft trocknete ihre Haut immer weiter aus. Sie beherrschte sich, die raue Haut nicht ständig zu kratzen, sonst würde sie allzu schnell blutig einreißen und eindringender Schmutz ihr Blut vergiften.
Auch wenn sie es mit aller Macht zu verhindern gedachte, drangen ihr Tränen aus den Augenwinkeln und ein leises Schluchzen entstieg ihrer Kehle. Ihre bloße Existenz war schon seit vielen Jahren eine ständige Qual. Doch hier an Land zu sein war die reinste Folter. Tristan brauchte sich nicht zu bemühen. Jede Sekunde, die sie weiter hier verbrachte, verschlimmerte ihren Zustand, ermüdete und zermürbte sie weiter.
Als sie seine Schritte hörte, wischte sie eilig die Tränen beiseite und drehte sich um. Sie mühte ein spöttisches Lächeln auf ihre Lippen. „Das hat aber lange gedauert", meckerte sie.
„Ich bin ganz schön erledigt", gab er zu. „Das wird ein harter Marsch mit dir auf dem Rücken." Er hielt ihr das Wasser hin und sie trank es gierig aus. Die Flüssigkeit verdrängte für einen Moment die ätzende Hitze in ihrer Kehle. Doch es war bei Weitem nicht genug. Doch sie wollte nicht undankbar sein und ihn weitere Male nach unten schicken. Es war ohnehin vergebens. So schnell, wie sie im Moment Wasser verlor, konnte er es mit dieser behelfsmäßigen Schale niemals nachbringen.
„Bereit loszugehen?", fragte er und hielt ihr die Hand hin.
Serena konnte ihm keine ehrliche Antwort geben und nickte nur. Ihr Blick wanderte den Weg hinauf bis zum Waldrand, der abgesehen von ein paar spärlichen Palmen in der prallen Sonne verlief. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie schmerzhaft es sein würde, ihr so lange ausgesetzt zu sein. Im Meer, umgeben von genügend Wasser, bildete sich ein schützender Film auf ihrer Haut, der sie gegen die Sonne abschirmte. Doch jetzt war sie ihr hilflos ausgeliefert. Allein am Strand hatte es sich angefühlt, als briete man sie über einem offenen Feuer.
Sie reichte ihm zögerlich die Hand und er zog sie empor, ging dann in die Hocke, sodass sie sich an seinen Schultern festhalten konnte.
„Dann los", sagte er und machte den ersten Schritt, der sie der brütenden Hitze vollends aussetzte.
Sie biss sich so fest auf die Lippen, dass das Blut daraus hervortrat, um einen Schrei zu unterdrücken. Sie wollte sein Mitleid nicht. Sie hatte es nicht verdient.


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