Flucht nach vorne

Soren lief verzweifelt auf dem Deck auf und ab. Für gewöhnlich hatte ein Wolkenschnitter mit Erde gefüllte Säcke, Wasserbottiche und schwere Decken an Bord, um einen Brand rasch einzudämmen. Die Nebelkönigin musste entweder auf derlei zusätzlichen Ballast verzichtet haben oder hatte bei ihrem Absturz all das eingebüßt.
Ein Sturm brauste auf, trieb die Flammen zusätzlich an und blies ihm die beißenden Schwaden in Augen und Nase. Er zog sein Hemd über die Nase und lief vornübergebeugt Richtung Achterdeck. Wie ein flammender Teppich breitete sich das Feuer auf dem Deck aus. Obwohl schwere Wolken getrieben vom Wind über den nachtblauen Himmel zogen, fiel kein Tropfen rettendes Wasser.
„Wasser! Das ist die Lösung!"
Mit weitausholenden Schritten erklomm er die Treppe hinauf zum Ruder. Aus den Augenwinkeln gewahrte er Tristan, der mit den Armen winkend auf ihn zugeeilt kam und seinen Namen schrie. Der Rest seiner Worte ging in dem Brüllen der Flammen und dem Tosen des Sturms unter.
„Ich muss sie wässern, sonst ist sie verloren!", brüllte er in der Hoffnung, sein Freund würde ihn verstehen.
Mit fahrigen Fingern bediente er die Apparatur, zog den Hebel und betete, dass Feuer würde das Wachs nicht geschmolzen haben. Andererseits bestand im Moment zumindest nicht die Gefahr, dass Feuchtigkeit in den Sternstaubwandler eindrang.
Das Schiff erhob sich ruckelnd, die Planken stöhnten über das Rasseln der Flammen hinweg. Es klang, als würde man ein ganzes Haus anheben und damit jedes seiner Bestandteile auf Zugfestigkeit prüfen. Er hisste die Segel, gab der Nebelkönigin weitere Höhe und fuhr sie in steilem Winkel Richtung Osten.

Tristan hatte Soren zugeschrien, abzuhauen, das Schiff aufzugeben, doch entweder war sein Freund nicht gewillt, seinem Befehl zu folgen, oder er hörte ihn schlicht nicht. Dumpf erhaschte er das Wort wässern über das Brüllen des Infernos.
„Die See ist voller Nixen! Bist du wahnsinnig?", kreischte und hustete er abwechselnd. Seine Lungen brannten, forderten Luft von ihm, doch bekamen nur Asche und schwarzen Rauch. Seine Augen tränten, die Seiten stachen und trotzdem peitschte er seinen Körper weiter den Berg hinauf.
Eine Armlänge vor dem Schiff hielt er inne, fiel auf die Knie und atmete tief ein, was nur noch mehr der ätzenden Masse in seine Lungen trieb. Er sackte zu Boden und atmete die erdige Luft flach ein, die ihm vergleichsweise kühl erschien.
Die Nebelkönigin schluckte ratternd das Fallreep. Tristan spürte eine Vibration durch den Boden gehen. „Nein, Soren! Tu's nicht!", brüllte er, verkrallte sich in den feuchten Boden und stopfte sich zwei Klumpen Lehm in die Ohren. Kurz bevor das Schiff abhob, bekam er eine Strickleiter an der Rückseite des Achterdecks zu fassen.
Die alten Seile gaben schnalzende Geräusche von sich unter seinem Gewicht. Er konnte sehen, wie sich so manches Faden für Faden löste und war nahe dran, loszulassen, ehe sie eine Höhe erreichten, in der ihn ein Sturz mit Gewissheit umbrachte.
Doch der Wille, seinen Freund nicht alleinzulassen, ließ ihn mit eisernem Griff weiter zupacken. Ruckartig stießen sie in die Höhe. Sein Körper strebte dem Boden mit derselben Kraft entgegen, das Weiß seiner Fingerknöchel trat vor lauter Anstrengung hervor und er biss die Zähne schmerzhaft fest zusammen, kämpfte um seinen Halt.
Eine Böe erfasste die Nebelkönigin und trieb sie vorwärts. Die Strickleiter löste sich von der Bordwand und wie ein Ball, der stetig von einer Wand abprallte und wieder dagegen geworfen wurde, tanzte er im Wind, bis sich sein Körper gänzlich taub anfühlte.
Hier hinten war er von den Rauchschwaden geschützt. Als sich das Schlingern der Leiter beruhigt hatte, gönnte er sich einen tiefen Atemzug, griff nach der nächsten Sprosse und zog sich quälend langsam hinauf. Seine Arme brannten, doch er wagte es nicht, einen zu lösen, um sich Erholung zu verschaffen.
Unter ihnen rauschten die Hügel mit ihren wundervollen Skulpturen hinfort und unter das Pfeifen des Winds mischte sich die Symphonie der Meeresklänge. Das Rauschen der Wellen, die sich langsam auftürmten, in immer größere Höhen emporwuchsen und mit einem Grollen gegen die felsigen Klippen prallten, ehe die Gischt dem klatschend eine letzte Note hinzufügte. Das alles untermalt von dem lauter werdenden Gesang der Nixen, die die Naturgewalten mit einer dramatisch schönen Arie begleiteten. Tristan klemmte eine Sprosse unter seinem Arm ein und zwängte den Lehm tiefer in seine Ohrmuscheln, bis er auch für das kleinste Geräusch taub war.
Die Welt um ihn erschien ihm wie eine Illusion, bar jedes Klangs. Er erklomm Sprosse um Sprosse, musste immer wieder innehalten, wenn sich die Leiter von der Bordwand löste und er wie eine Welle gegen eine Felswand gegen das blanke Holz geworfen wurde.
Er hatte längst aufgehört, Schmerz zu empfinden. Jedes Gefühl war aus ihm gewichen. Er war nur noch ein Stück Fleisch, das bereit war, sich nötigenfalls zu opfern, um seinem Freund beizustehen.
Das Schiff kippte abrupt nach vorne und rauschte hinab. Für einen Moment fühlte er sich schwerelos, glitt oberhalb der Reling durch die Luft. Er schrie nach Soren, der breitbeinig am Steuerrad stand, doch der Gegenwind schluckte jeden Laut.
Er erwartete, jeden Moment in die stürmische See einzutauchen, doch mit einem Mal fiel das Schiff zur Seite ab und er wurde für einen Moment auf die gegenüberliegende Seite katapultiert. Er dachte einen Sekundenbruchteil darüber nach, den erneuten Augenblick der Schwerelosigkeit zu nutzen, um abzuspringen, doch die Gelegenheit verstrich so schnell, dass er keinen Entschluss zu fassen in der Lage war.
Die Nebelkönigin pflügte krachend durch das Meer. Es klang, als würde jeder einzelne Balken ihrer Seitenwand brechen. Tristan vernahm davon nichts. Die Strickleiter schwang hinab und tauchte ihn in das eiskalte Nass. Der Zug auf ihn spannte die Seile aufs Äußerste. Ihm lief die Zeit davon und er bekam keine Luft. Doch es kostete ihn bereits alles an Kraft, gegen den Zug des Meeres weiterhin in der Sprosse eingehakt zu bleiben.
Das Schiff kippte auf die andere Seite und für einen Moment wurde er dem Meer entrissen. Er zögerte nicht, mobilisierte seine letzten Reserven und kletterte weiter, bis er die Reling knapp über sich hatte.
„Soren!", schrie er mit erstickter Stimme, als er seinen Freund an ebendieser entdeckte. Er hatte das Steuerrad losgelassen und das Schiff tanzte haltlos halb in der Luft halb in den Wellen. Der Wind wehte mal in die eine, dann in die andere Richtung und ließ es als Spielball der Wellen schlingern, derweil es an Höhe verlor.
„Zieh sie hoch, bei der Weberin, wir gehen unter!"
Quälend langsam drehte er ihm den Kopf zu und lächelte auf eine selige Weise, die Tristan unheimlich vorkam. Tristans Kopf ruckte zur Seite, wo er den Grund für Sorens gespenstiges Verhalten vorfand: Eine wunderschöne Frau schwebte dort im Wasser, reckte ihm die Arme entgegen und flüsterte ihm Worte zu.
Ihre Haare, die feucht über ihre Schultern fielen wie ein schwerer Brokatvorhang, waren eine Mischung aus silbergrau und kastanienbraun. Ihre Augen schimmerten wie ein klarer Himmel, bevor ein Sturm aufzog und ihre Haut schimmerte im Glanz des Mondlichts perlmuttfarben. Allein ob ihres Anblicks musste Tristan schlucken und zwang sich, von ihr wegzusehen.
„Soren! Geh zurück ans Steuer!", schrie er ihm zu und überwand die letzte Sprosse. Er streckte sich nach der Reling, da riss die Sprosse unter seinen Füßen und er taumelte mit den Füßen über dem Wasser. Seine Arme fühlten sich an, als würden sie gleich abreißen. Jede Faser seiner Muskeln kreischte auf, forderte ihn, aufzugeben.
Er schrie erneut den Namen seines Freunds, der ihn schlicht nicht zu hören schien und die Reling erklomm.
„Tu's nicht! Ich bitte dich!"
Das Schiff kippte nach vorne, als wäre es auf ein Riff aufgelaufen und Tristan wurde über die Reling geschleudert. Er durchbrach die Reling des Achterdecks und landete keuchend auf dem Deck. Es grenzte an ein Wunder, dass die geschwärzten Planken, die warmen Wasserdampf aufsteigen ließen, unter ihm nicht brachen. Sein Rücken fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einem Schmiedehammer bearbeitet. Das Gefühl, aufzugeben, wurde übermächtig. Er hörte nichts. Nicht den heulenden Sturm, das Ächzen des Schiffsrumpfs und auch nicht das Platschen, das sein Freund verursachte, als er in die See eintauchte. Das Schiff schaukelte ihn wie eine ruppige Mutter ihr Kind und der Schmerz verging mit zunehmender Bewusstlosigkeit.
Nur eine Welle, die über ihn hinweg schwappte, bewahrte ihn vor dem Dunkel. Er rollte sich zur Seite und richtete sich wankend auf. Sein Körper hatte jegliche Spannung verloren und er stolperte immer in jene Richtung, in die das Schiff gerade schwankte. Der Sturm hatte für einen Moment nachgelassen, die Wellenberge waren zu sanften Hügeln geworden und trotzdem stand er auf dem Deck in Wasser. Sie sanken!
Er watete zur Reling und sah auf die See hinaus. „Soren!", schrie er langgezogen. Da erblickte er ihn in einem Tal zwischen zwei Wellenbergen in der sanften Umarmung der Nixe, die ihm einen langen Kuss aufdrückte.
„Nein!"
Die Nixe hatte ihn bemerkt und wandte ihm für einen kurzen Moment den Blick zu.
„Nimm mich!", rief er ihr zu und wedelte mit den Armen.
Ihr wunderschönes Antlitz war von feierlichem Ernst erfüllt, die Lippen zu einem schmalen Schlitz zusammengepresst. Aus ihren Augen glaubte er, eine Mischung aus Zögern und Reue herauszulesen. Ihr Kopf bewegte sich um eine Haaresbreite von links nach rechts – oder täuschte er sich da nur?
Mit einem Mal waren sie verschwunden. Sie hatte ihn hinab in die Tiefe gezogen. Er war versucht, hinterherzuspringen, alles zu tun, um ihn zu retten, doch da gewahrte er aus den Augenwinkeln eine Schar weiterer Fischweiber, die mit unverhohlener Gier auf ihn zusteuerten, darauf warteten, dass die Nebelkönigin tief genug sank, um ihn in ihre Arme zu treiben.
Der Gedanke, aufzugeben und sich ihrer tödlich schönen Umarmung hinzugeben, zehrte an ihm. Sie waren allesamt wunderschöne Kreaturen, anmutiger als jede Frau, die er je erblickt hatte. Schwerfällig löste er sich von dem Anblick und zog sich die Treppe zum Achterdeck hinauf.
Die Nixen erschienen in einer unüberschaubaren Zahl, packten die Stäbe der Reling, als wollten sie das Schiff mit aller Gewalt in die Tiefe reißen.
Tristan erreichte das Steuerrad und riss an dem Hebel, der für die Höhensteuerung zuständig war. Nur schwerfällig bewegte er sich, als kämpfte er gegen den Zug der Nixen an. Er hatte das Gefühl, das Schwanken des Schiffs hielt für einen Moment inne, die ganze Welt hielte die Luft an. Das Schiff vibrierte unter seinen Füßen, als kündigte sich ein Erdbeben an. Der Rumpf bog sich unter der Last des Wassers, die gegen den Auftrieb ankämpfte. Ein Quietschen wie von einem rostigen Wagenrad erfüllte so durchdringend die Luft, dass es sogar Tristans Gehör erreichte. Das gesamte Schiff stieß einen tiefen, grunzenden Laut aus, die provisorischen Befestigungen Tristans auf dem Deck rissen aus ihrer Verankerung und flogen nacheinander wie Wurfgeschosse durch die Gegend.
„Ich bitte dich, halte! Halte gefälligst!" Tristan hielt das Steuer so fest, dass es in den Knöcheln schmerzte.
Endlich löste sich die Nebelkönigin mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Wasser. Wogen von eiskaltem Nass schwappten von Deck und schwemmten die Nixen davon. Die Nebelkönigin bäumte sich einem schwerfälligen Riesen gleich auf und schwebte zitternd in der Luft knapp oberhalb der Wasserlinie.
Am liebsten wäre er sofort davongesegelt, doch ein winziger Funke Hoffnung wallte in ihm auf. Vielleicht hatte Soren es irgendwie an die Oberfläche geschafft. Er wollte in den Bauch des Schiffs eilen, um ein Seil zu besorgen, doch in der Kapitänskajüte empfing ihn eine solche Hitze, gemischt mit einem bestalischen Gestank nach verbranntem Leder und Metall, dass er umkehren musste.
Die Strickleiter! Er musste das Schiff nur nach hinten kippen.
Er eilte zur Reling und sah in die Dunkelheit hinab. „Soren!"
Doch außer einer Vielzahl von Köpfen mit langen seidenen Haaren in den schillernsten Farben tat sich nichts. Er schrie seinen Namen immer wieder, bis ihm die Stimme versagte. Kraftlos ließ er sich über das Geländer hängen, eine Leere erfüllte ihn, die er so noch wie in seinem Leben verspürt hatte. Als hätte die raue See all seinen Willen und seine Träume von Bord geschwappt.
Erst das erneute Aufbrausen des Sturms holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Die Segel blähten sich auf und das Steuerrad zuckte wild umher, ließ das Schiff mal zur einen, dann zur anderen Seite eiern.
Tristan wischte sich grob die Tränen ab, die sich mit der salzigen Gischt auf seinem Gesicht mischten, und griff nach dem Steuerrad. Er richtete die Segel nach dem Wind und steuerte das Schiff zurück Richtung Land. Es fühlte sich an wie der größte Verrat, den er jemals in seinem Leben begangen hatte. Er ließ nicht nur einen Menschen zurück, sondern einen geliebten Partner, der ihm mehr bedeutet hatte, als alles Gold der Welt.


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