Die Höhle
Bereits nach wenigen Schritten hätte Tristan am liebsten aufgegeben. Er war hungrig und erschöpft, die Nixe auf seinem Rücken von bleierner Schwere. Er hätte nicht angenommen, dass eine so zierliche Frau so viel Gewicht hätte. Es musste an ihrem Fischschwanz liegen, der um einiges fülliger und länger war als Beine.
„Kannst du eigentlich jederzeit das Aussehen eines Menschen annehmen?", fragte er zwischen zwei Atemzügen.
„Nein, wieso?"
„Weil du dann sicher leichter zu heben wärst."
Sie schmunzelte, doch es wirkte gezwungen. „Könnte ich das einfach so tun, würde ich selbst gehen."
„Berechtigter Einwand." Er sparte seine Kräfte und verzichtete auf weitere Worte. Serena schien auch nicht gewillt, irgendetwas zu sagen. Sie klammerte sich steif an seinen Rücken, als wäre sie ein lebloses Stück Treibholz. Hin und wieder glaubte er, ein Zittern zu verspüren, als fröre sie. Im Halbschatten einer Palme lehnte er sich flüchtig an deren Stamm. Serena abzulegen kam nicht infrage. Er wusste nicht, ob er die Kraft aufbrächte, sie erneut anzuheben. Über ihm wiegten sich die schwarzen, weinrebenartigen Früchte in einer sanften Prise. Womöglich waren sie gar nicht essbar – im Moment konnte er sie ohnehin nicht erreichen. Selbst wenn er den rauen Stamm hinaufklettern könnte, so fehlte ihm im Moment die Kraft dazu.
Viele weitere Schritte später erreichten sie den Waldrand, was Tristan insoweit Erholung verschaffte, als dass er nicht mehr ständig in Sorge sein musste, dass die gleißende Sonne Serena über ihm wie einen Fisch auf dem Feuer briet. Dunstige, schwüle Luft erfüllte den dichten Forst. Der Boden war ein Sammelsurium aus Wurzeln, Moos und Rankpflanzen. Letztere waren hier allgegenwärtig, schlängelten sich Büsche und Bäume empor und hingen stellenweise sogar in der Luft. Er hielt einen Moment inne, achtete darauf, ob sie sich vielleicht bewegten. Wenn es die Ausläufer einer ähnlichen Pflanze wie der Gespensterblume waren, würde er hier keine Nacht verbringen wollen. Doch nichts regte sich und er setzte seinen Weg zielstrebig fort, folgte stets dem fernen Rauschen von Wasser.
„Vielleicht versuche ich es nach diesem Abenteuer wieder mit meinem alten Beruf", meinte er belustigt, um die peinliche Stille zwischen ihnen zu durchbrechen.
Serena regte sich auf seinem Rücken. Er spürte ihr Haar, dass sich kitzelnd an seinem Hals entlang über seine Schulter schlängelte. „Wieso?"
„Ich habe mich lange Zeit im Dichten versucht, mit mäßigem Erfolg. Diese Insel könnte Quell der Inspiration unzähliger Weisen sein, über die man noch lange reden würde."
„Ich hätte dich nicht für einen Dichter gehalten."
„Darf ich fragen warum?"
„Drücken sich Poeten nicht gewählter aus?"
Tristan verdrehte die Augen. „Wenn es Euch beliebt, werte Dame, spreche ich gerne in wohlfeinen Sätzen zu euch."
Serena kicherte. Ihr kurzer Anflug von Freude sprang auch auf ihn über. Er schob sie höher auf seinen Rücken und beschleunigte seine Schritte.
„Gehen Nixen auch einem Beruf nach?", fragte er vorsichtig.
„Unser Sein ist unsere Berufung. Wir können nicht wählen; wir sind, was wir sind." In ihrer Stimme schwang ein trauriger Unterton mit.
„Dann hätte mein Vater sich eine Nixe als Tochter gewünscht. Die genau seine Erwartungen erfüllt und sich ihrem Schicksal ergeben hätte."
„Ist er auch ein Poet?"
„Einer der größten seiner Zeit, will ich meinen. Dementsprechend unglücklich war er darüber, dass es meinen Zeilen stets an Inspiration und Gefühl mangelte, meine Stimme nicht die nötige Ausdruckskraft innehatte und ich außerdem ein fürchterlicher Tagträumer war."
„Ist Letzteres nicht der Inbegriff eines Poeten?"
Tristan schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn du regelmäßig etwas aufs Papier bringen willst. Außerdem wäre es hilfreich, über die nächste ausgeklügelte Phrase zu sinnieren, statt darüber, mit einem Wolkenschnitter die Welt zu bereisen."
„Du warst also eine Enttäuschung für deine Eltern."
„So kann man es wohl sagen. Und wenn sie von meinem derzeitigen Misserfolg erfahren, muss ich damit rechnen, dass sie kein Wort mehr mit mir wechseln." Ein ernster Ton mischte sich unter den belustigten Klang seiner Stimme. Er konnte froh sein, wenn er sie überhaupt je wieder antraf.
„Du hast zumindest Eltern."
„Du etwa nicht?"
„Es gibt unter den Nixen nur Frauen."
„Das heißt, du hast nur eine Mutter?"
„Nein", hauchte sie. Mehr schien sie zu dem Thema nicht sagen zu wollen.
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Tristan wusste nicht, warum er überhaupt mit ihr redete. Sie war seine Gefangene und früher oder später würde er sich ihrer entledigen, sobald er zurück war. Sie mochte einen Funken Menschlichkeit in sich haben und über ihr grausames Wesen mit Schönheit hinwegtäuschen, aber den Mord konnte er ihr nicht vergeben. Wäre die Situation anders, sie hätte ihn sicher längst umgebracht. Trotzdem fühlte es sich seltsam an, nicht allein zu sein, sich aber die ganze Zeit nur anzuschweigen. Er war immer sehr redselig gewesen, war mitunter den Leuten auf die Nerven damit gegangen, dass er keinen Moment den Mund hielt. Vielleicht lag es in seiner Natur, sich selbst mit ihr auszutauschen und sei es nur zum Zeitvertreib.
Das Gelände stieg spürbar an und nun war Tristan dankbar für jede herausragende Wurzel oder Ranke, an der er sich hochziehen konnte. Mehrfach war er versucht, eine Rast zu machen, doch dann wäre er nur noch erschöpfter und durstiger und brächte den Rest des Wegs vielleicht nicht über sich. Außerdem brauchte Serena Wasser. Sie waren bereits Stunden unterwegs und obwohl sie sich vorwiegend im Schatten bewegten, vernahm er doch ihr mühevolles Atmen.
Endlich lichtete sich der Wald vor ihnen, das Wasserrauschen nahm an Stärke zu und bald schon sah Tristan den Grund dafür: Auf einer Lichtung vor ihnen erstreckte sich ein überschaubarer See, der von einem Wasserfall gespeist wurde. Das Wasser leuchtete verführerisch im Sonnenschein, Libellen zogen ihre Kreise darüber und Schmetterlinge labten sich an der Vielfalt von Blumen, die rund um ihn in wilder Zahl wuchsen.
Hinter dem Wasserfall sah er aus der Ferne eine Einbuchtung im Felsen, die ihnen Schutz vor Regen und Sonne bieten würde. Ein immer wiederkehrendes, plätscherndes Geräusch verhieß reichen Fischbestand in dem See. Außerdem wuchsen hier Bäume, die schwer von Orangen waren, über das Felsmassiv spannten sich Nebelbeerranken und auch den ein oder anderen Feuerbeerenstrauch machte er auf den ersten Blick aus.
Er setzte die Nixe neben einem Baum ab und ging vorsichtig ans Ufer. Der Platz mochte idyllisch wirken, aber es mochten gefährliche Kreaturen unter der Wasseroberfläche leben. Eine Weile starrte er auf die sanft wogende Oberfläche, ob er darunter einen größeren Schatten ausmachte. Doch außer dem gelegentlichen Plätschern eines Fischs, der an die Oberfläche stieß, um sich eine Fliege oder sonstiges Getier zu schnappen, das auf dem Wasser tanzte, rührte sich nichts. Er schöpfte das Wasser mit den Händen und kostete – es war überraschend warm und hatte eine leicht würzige Note, aber war auf jeden Fall Süßwasser.
Er kehrte mit einer Handvoll zu Serena zurück und ließ sie trinken.
„Zumindest werden wir hier nicht verdursten und Hunger müssen wir vorerst auch nicht leiden", sagte er.
Serena kräuselte die Lippen und starrte an ihm vorbei zu dem See. „Du vielleicht nicht."
Tristan begutachtete den See genauer. Das überschüssige Wasser lief über eine steile Klippe ab. Ansonsten sah er keinerlei Fluss, der davon abzweigte. Doch es mochte sein, dass der See eine unterirdische Verbindung zum Meer hatte. Er konnte es nicht riskieren, sie hier schwimmen zu lassen. Selbst wenn sie nicht ins Meer flüchten konnte, war sie damit fern seiner Reichweite. Womöglich würde sie sogar versuchen, ihn mit ihrer Stimme zu betören, und sich seiner entledigen. Bisher hatte sie nichts in diese Richtung probiert. Vielleicht lag es an dem Wassermangel. Ihre trockene Kehle vermochte wohl keine solch zauberhaften Töne hervorzubringen.
„Worüber denkst du nach?", fragte sie ihn, als lese sie seine Gedanken.
Er lächelte ertappt. „Ich frage mich, ob du mich mit deinem Gesang betörst, sobald ich dich ausreichend mit Wasser versorgt habe."
Sie hob die Schultern. „Wenn du es nicht tust, werde ich früher oder später sterben." Sie fuhr sich über den Körper und hielt an ihrer Flosse inne, wo er sie mit dem Holzpfahl verletzt hatte.
„Tut es weh?"
Sie nickte, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich bin Schlimmeres gewohnt, aber die Wunde wird zu schwären beginnen."
„Woher willst du das wissen?"
„Ich weiß es einfach. Ohne ausreichend Wasser um mich herum bin ich wie eine Blume, die man dem Boden entrissen hat. Du kannst sie eine Weile wässern, doch früher oder später stirbt sie ab."
„Wenn ich dich in den See lasse, könntest du mich verraten."
„Das verstehe ich." Sie atmete tief ein und aus, als habe sie ihr Schicksal längst akzeptiert.
Tristan war unglücklich mit der Situation. Egal, was er tat, es fühlte sich falsch an. Er holte rasch ein paar große Blätter, mit denen er sie weiter mit Wasser versorgte. Am Ende sah sie zumindest eine Spur besser aus, war aber weit von der Schönheit und Blüte entfernt, die sie im Meer innehatte.
„Ich werde nicht auf der Stelle sterben", beruhigte sie ihn, als er sie sicher einige Augenblicke nachdenklich angestarrt hatte.
Tristan schüttelte sich. Seine Wangen röteten sich vor Verlegenheit. Er kniete sich vor ihr ab. „Sehen wir uns die Höhle neben dem Wasserfall an."
Sie klammerte sich an ihn und er ging mit ausreichend Abstand rund um den See herum. Der Wasserfall ergoss sich von einem Vorsprung, sodass man unter ihm hindurchgehen konnte. Er wartete einen Moment darunter ab. Winzige Wassertröpfchen lösten sich aus dem donnernden Strom und fielen wie flüssiger Nebel auf sie herab. Serena atmete hörbar auf und genoss sichtlich das Gefühl, wenn das Wasser sich wie Tau auf ihrer Haut ablegte.
Schließlich ging er weiter und hielt mit einem Mal inne, als er ein Skelett bemerkte, das vornübergebeugt am Ufer saß. Erst hielt er es für eine boshafte Kreatur, eine Ausgeburt der Nachtmark, die ihnen nach dem Leben trachtete, doch dann stellte er fest, dass es sich wirklich nur um menschliche Überreste handelte.
Dem breiten Wuchs nach war es ein Mann gewesen. Er trug einen Hut, der mittlerweile von Moos überzogen war. Reste eines Unterhemds und seiner Hose zeugten davon, dass er aus Dämmertal stammte. Nicht zuletzt, nachdem seine Gürtelschnalle mit den üblichen Wellenlinien verziert waren, die manche Händler in ihre Waren eingravieren ließen.
Ein Schauder lief Tristan über den Rücken. Der Mann saß da, als hätte er sich gerade eben erst hingesetzt, um seine Füße im Wasser zu kühlen. Mit einem Mal schien ihm die idyllische Atmosphäre um ihn herum wie eine Farce.
„Was denkst du, hat ihn umgebracht?", fragte er.
„Langeweile?", mutmaßte Serena nicht ganz ernsthaft.
Tristan hätte über diese Bemerkung normalerweise gelacht, so naheliegend schien sie ihm. Doch wer starb dabei, gemütlich am Ufer eines Sees zu sitzen? Der Tod musste überraschend über ihn gekommen sein, ihn unerwartet getroffen haben.
Kopfschüttelnd ging er weiter, bis sie zu der Einbuchtung im Fels gelangten, die ungefähr zwei Klafter tief war. Üble Galle stieg in ihm auf, als er dort zwei weitere Skelette sah, die umschlungen an der Wand lehnten, als hätten sie sich gerade erst zur Ruhe gelegt. Es war auf makabere Art und Weise schön anzusehen, wie sie in liebender Umarmung ihr Ende gefunden hatten.
„Wir müssen hier schnellstmöglich weg", sagte er mit zittriger Stimme.
„Vielleicht sind sie auch einfach nur alt gewesen", erwiderte Serena, doch recht überzeugt wirkte sie selbst nicht von ihrer Annahme.
„Menschen sterben im Schlaf oder bei der Arbeit. Aber doch nicht ... so."
„Die beiden schliefen vielleicht und den anderen hat sein Schicksal beim Angeln ereilt."
„Alle gleichzeitig?"
„Wie meinst du das?"
„Für gewöhnlich beerdigen wir unsere Toten."
Serena legte den Kopf schief. „Welchen Sinn hätte das hier?"
Tristan stutze über ihre Bemerkung. „Vielleicht zumindest den, dass man nicht über die Leichen seiner Bekannten stolpert, wenn nicht aus Respekt."
„Du weißt doch nicht einmal, ob diese Menschen zur gleichen Zeit hier gestrandet sind."
Er setzte Serena vorsichtig am Rande der Höhle, wo es schattig und kühl war, ab. „Ich weiß auf jeden Fall, dass ich sie nicht so da liegen lasse."
Serena beobachtete mit einer Spur Faszination, wie Tristan die Skelette aufhob, davontrug und mit Steinen und Ästen mühselig Löcher in die Erde grub. Er verbrachte unzählige Stunden damit, derweil er immer wieder zu ihr kam und sie mit Wasser versorgte. Selbst trank er nur hin und wieder, aß nichts, obwohl um ihn herum reife Früchte in Hülle und Fülle wuchsen.
Die Wunde an ihrer Flosse fühlte sich an, als würde sich ein glühendes Eisen immer tiefer in ihr Fleisch bohren. Die Qualen des Atmens blendete sie mittlerweile fast aus. Ihr Körper war fleischgewordener Schmerz und sie wunderte sich über sich selbst, wie sie so ruhig damit umgehen konnte.
Vielleicht lag es daran, dass eine viel größere Furcht sie im Griff hatte: Ihr Tod. Der Gedanke, dass sie all die Zyklen der Pein umsonst hinter sich gebracht hatte. Sie spürte bereits das Ziehen in ihrem Nabel, das das nahende Ende der letzten Herzperle verkündete, die sie vor ungefähr einem Zyklus zu sich genommen hatte.
Wenn sie nicht in absehbarer Zeit ins Meer zurückkehrte, wäre sie verloren. Kein Wasser und gutes Essen konnte das verhindern. Aber selbst wenn sie Tristan davon erzählte, würde er es ihr wohl kaum glauben. Er war überraschend freundlich dafür, dass er sie kürzlich noch gejagt hatte und als seine Gefangene betrachtete. Doch er rechnete mit ihrer Flucht, erwartete, dass sie ihm eine Lüge auftischte, um die Freiheit zu gewinnen.
Erst als die Sonne sich langsam absenkte und die Temperaturen beträchtlich abfielen, ließ er von seinem Tun ab. Er würde noch viele Tage brauchen, wenn er mit diesen simplen Werkzeugen sein Tun fortsetzte. Tage, die Serena vielleicht nicht mehr hatte.
„Ich werde dich fesseln müssen", sagte er. Sein Blick schien wirr vor Anstrengung. Er ließ sich an der Höhlenwand hinabrutschen.
Serena wusste darauf nichts zu erwidern. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er eine Nacht mit ihr verbrächte, ohne Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Am liebsten hätte sie gesagt, dass das nicht notwendig wäre. Dass sie die letzte bewusst neben ihm verbracht hatte, ihn mit ihrem Körper gewärmt hatte. Sie schlang die Arme um sich und dachte an den Moment zurück. Sie hatte es nicht nur getan, weil sie ihn retten wollte, weil es ihr unsinnig erschien, ihn erst aus dem Meer zu fischen, um ihn dann erfrieren zu lassen. Sie hatte den Moment der Nähe genossen. Der Wunsch, umarmt und gehalten zu werden, verzehrte jede Nixe.
Auch wenn sie wie Schwestern füreinander waren, so konnte niemanden der anderen geben, was sie sich sehnlichst wünschten. Die Liebe und Geborgenheit eines Partners, den es für sie nie geben würde. Es war der mit fürchterlichste Teil ihres Fluchs. Der unbändige Wunsch nach Nähe, der für gewöhnlich nur für einen kurzen Moment befriedet wurde, bevor sie ihr Opfer in tödlicher Umarmung ertränkten.
Tristans Kopf war zur Seite gesackt, ein sanftes Schnarchen hallte von der anderen Seite der Höhle wider. Sie war versucht, zu ihm zu gehen, um ihrer beider Körper Wärme zu teilen, wagte es aber nicht. Wenn er aufwachte, würde er fürchten, sie wolle ihm etwas Übles tun. Für den Moment vertraute er ihr zwar nicht, aber er fürchtete sie auch nicht direkt. Diese seidene Verbindung wollte sie nicht riskieren.
Sie legte sich auf die Seite, versuchte ihren Körper auf dem steinigen Boden so bequem wie möglich zu platzieren. Gestern noch war es ihr in menschlicher Gestalt gelungen, trotz Kälte und Sturm in den erlösenden Schlaf zu finden. Doch jetzt, wo sie mit jedem Atemzug Feuer einatmete, ihr ganzer Körper brannte und die Wunde in ihrer Flosse schmerzhaft pulsierte, fand sie keine Ruhe.
Serena verfluchte ihr Unglück. Wenigstens ein paar Stunden Schlaf, in denen all diese Gefühle eine Spur zurückgedrängt wurden, wünschte sie sich von Herzen. Sie brauchte das, um weitermachen zu können, nicht verrückt zu werden, doch es wurde ihr vehement verwehrt.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. So leise es ihr möglich war, robbte sie zum Wasser. Der steinige Boden schnitt ihr in Haut und Schuppen, doch das war vergleichsweise angenehm in Gegenwart ihrer sonstigen Leiden. Nach einer schieren Ewigkeit berührte ihre Fingerspitze die Wasseroberfläche, in der sich der Mond auf dem sanften Wellengang spiegelte. Gierig zog sie sich weiter voran, sodass sie den ganzen Arm darin untertauchen konnte.
Ihre Haut fühlte sich wie ein Schwamm an, der sich mit Wasser vollsog. Sie zog sich weiter, glitt Stück für Stück hinab in das lauwarme Nass und atmete die Luft unter Wasser. Es war ihr nie gänzlich angenehm, unter Wasser zu atmen. Im Vergleich zur Luft an der Oberfläche war es das Paradies, doch in der Tiefe der See ließ es sie zittern, das eiskalte Wasser in ihre Kiemen zu pressen, um das nötige Quäntchen Luft heraus zu wringen. Das Wasser des Sees war wärmer noch als das in der Lagune, wo sie die meiste Zeit des Zyklus verbrachte. Es war eine angenehme Abwechslung zu ihrem gewohnten Lebensraum.
Sie warf einen prüfenden Blick in Richtung der Höhle, wo Tristan noch immer friedlich schlief. Dann tauchte sie tiefer in das Wasser, genoss für einen Augenblick das Gefühl, sich frei bewegen zu können, folgte den Fischschwärmen, die sich hier unten tummelten, begutachtete das Farbenspiel fluoreszierender Algen, die sich unter Wasser schlängelten, und erkundete kleine Unterwasserhöhlen, voll mit Perlenmuscheln und sonstigen Schätzen, die sie für gewöhnlich zu Schmuck zu verarbeiten pflegte. Trotz der bunten Vielfalt hier unten war sie ernüchtert zu bemerken, dass es keine Verbindung zum Meer gab. Einzig an der Oberfläche plätscherte das Wasser durch eine Vielzahl von kleinen Rinnen ab.
Sie stieß einen leisen Seufzer aus. Nicht, dass sie sofort die Flucht ergriffen hätte, doch es wäre zumindest ein Ausweg für den Notfall gewesen. Auch wenn Tristan sie als Gefangene betrachtete und den Gedanken hegte, sie vor ein Floß wie ein Zugpferd zu spannen, so fühlte sie sich bis zu einem gewissen Grad für ihn verantwortlich. Sie hatte ihn auf diese unbekannte Insel geführt in der vagen Hoffnung, dass er hier womöglich Rettung durch andere fand. Doch was, wenn hier nie ein Wolkenschnitter vorbeiflog? Wenn diese Insel gänzlich unbekannt und fernab des Festlands lag?
Hätte sie wenigstens eine ihrer Perlen bei sich. Keine Nixe, die nicht vorhatte, sie für einen bestimmten Grund einzusetzen, würde das je tun. Der Verlust einer Herzperle bedeutete das Ende aller Hoffnung auf Erlösung. Darum bewahrten sie diese tief im Herzen der See, versteckt hinter Korallenriffen in eigens dafür hergestellten Muscheln auf. Sodass kein Wagemutiger jemals zufällig auf die stieß. Doch jetzt war dieses Versteck für sie unerreichbar. Sie hatte gehofft, Tristan würde sich sofort an den Bau des Floßes machen und bereits in wenigen Tagen würden sie von hier verschwinden. Doch allein die Beerdigung dieser Menschen würde viele weitere in Anspruch nehmen.
Sie schwamm an die Oberfläche. Ihre feuchte Haut leuchtete im Mondlicht. Der schützende Film hatte sich wieder darübergelegt, der sie eine Weile vor Sonne und Schmutz schützen würde. Mühselig quälte sie sich zurück an Land. Sie hatte den Tag über geruht und war zwar müde, aber nicht gänzlich ausgelaugt. Mit den Händen zog sie sich mühselig voran, derweil ihre Flosse sich gegen den Boden stemmte, sodass sie sich einer Raupe gleich vorwärtsbewegte, bis sie die Stelle erreichte, an der Tristan gegraben hatte.
Der schlanke Stein, den er als Schaufel benutzt hatte, war rostrot von Tristans Blut, genauso wie der gebrochene Stock, den er wie eine Spitzhacke ins Erdreich getrieben hatte. Sie griff nach dem Stein und hieb auf die feuchte Erde ein. Die Arbeit war mühselig und wenig ertragreich. Nur widerwillig löste sich das dichte, lehmige Erdreich, das sie mit den Händen ergriff und wegwarf. Stunde um Stunde arbeitete sie, bis ihre Hände vor Rissen übergingen und sich zu den Schmerzen in ihrem Körper tiefe Erschöpfung gesellte.
Sie setzte sich auf und umschlang ihre Flosse mit den Händen. Dieses Vorhaben würde nie ein Ende finden. Ihr Kopf legte sich wie von selbst auf ihren Händen ab. Sie unterdrückte ein verzweifeltes Schluchzen, als ihre Tränen munter aus ihren Augenhöhlen sprudelten.
Ein Lächeln stahl sich dem Kummer zum Trotz auf ihre Lippen. Sie hatte eine ganze Weile nicht mehr geweint, so ausgedörrt war ihr Körper gewesen. Ihre Tränen rannen über ihre Haut, füllten die blutigen Risse und bedeckten ihre Striemen. Kurz darauf verging der stechende Schmerz darin und makellose Haut ersetzte wunde Haut. Sie sammelte ihre Tränen in den Handflächen und bestrich damit die Verletzung an ihrer Schwanzflosse, die sich in Sekundenschnelle schloss.
Die Freude über die verklingende Pein stoppte ihren Tränenfluss. Sie kehrte zu Tristan zurück, wischte die letzten Reste aus ihren Augenwinkeln und strich ihm sanft über die Hände, ehe sie auf ihre Seite der Höhle zurückkehrte. Die Temperaturen waren spürbar gesunken und ohne zu arbeiten fröstelte sie. Nur das Funkeln der Sterne bedeckte ihren bloßen Körper. Ihr Anblick war tröstlich und entlockte ihr einen Seufzer. Es wäre anmaßend, sich neben Tristan zu betten, um sich ihrer beider Körperwärme zu teilen. Sie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen und schlief mit kummervollen Gedanken an die Zukunft ein.
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