Das Ungeheuer

Es half nichts. Egal wie fest er an dem Hebel zerrte, das Schiff rührte sich nicht vor der Stelle. Tristan war nahe dran, aufzulachen. Die Nebelkönigin flog inmitten eines furchterregenden Sturms, der das ganze Deck erschütterte und stand doch still und teilnahmslos in der Luft.
War die Macht der Nixen so groß, dass ihr Gesang sogar ein Schiff zum Halten bewegte oder handelte es sich um einen gewaltigen Zufall, ausgelöst durch einen weiteren Defekt an Bord? Der Mast bog sich quälend langsam zur Seite, wurde von den Luftmassen zu Boden gedrängt. Noch hielten ihn die Taue in der Höhe, doch früher oder später würden sie oder ihre Befestigungspunkte nachgeben. Tristan rechnete eher mit ersterem, denn das Feuer hatte die Vertäuung längst erreicht.
Er rannte mit dem Speer zur Reling in der verzweifelten Hoffnung, die Nixe mit einem Wurf treffen zu können. Doch kaum sah er in die Tiefe, packte ihn ein unvorstellbares Grauen, dass die bisherige Furcht um sein Leben noch in den Schatten stellte: Er blickte in den Schlund einer kolossalen gräulich-weißen Bestie, die ihn mit finsterem Blick taxierte. Ihr Maul erschien ihm wie ein unendlich großer Krater, groß genug, die Hälfte des Schiffs zu verschlingen. Er selbst wäre für dieses Wesen nur ein Häppchen.
Seine Tentakel griffen nach dem Rumpf des Schiffs saugten sich daran fest und hielten es an Ort und Stelle. Einzig das Feuer verhinderte, dass das Monstrum das Schiff gänzlich in seine Umklammerung nahm.
Neben der Bestie, vor deren riesigen Körper, schwamm die Nixe. Ihre Augen sahen ihm starr entgegen, erwarteten wohl ihr baldiges Festmahl, derweil ihre vollen Lippen sich unentwegt bewegten, einen hypnotischen Gesang ausstießen, der wohl dazu diente, den Kraken unter Kontrolle zu halten.
Sie stieß einen hellen, klaren Ton aus. Die Fangarme des Kraken schienen sich zu spannen wie Seile, die man mit der Kraft vieler Männer einholte. Die Nebelkönigin sackte einen Klafter tief ab und Tristan musste sich an der Reling festhalten, um nicht abgeworfen zu werden. Mit jedem weiteren ihrer ohrenbetäubend hellen Töne setzte das Monster sein Werk fort, zog das Schiff immer tiefer dem Ozean entgegen.
Tristan nahm den Speer zur Hand. Näher würde er der Nixe niemals lebendig kommen. Sein Leben schien ohnehin besiegelt. Seine einzige Überlebenschance war es vielleicht, seine Rache zu nehmen und damit die Kontrolle der Nixe über die Bestie.
„Feigling! Tritt wenigstens selbst gegen mich an, du feige Mörderin!"
Für den Bruchteil einer Sekunde legte sie den Kopf schief und verzog missmutig die Lippen. Der Griff des Kraken lockerte sich eine Spur. Er wollte den Speer gerade nach ihr werfen, so winzig die Aussicht darauf auch war, sie zu treffen, da kam er auf eine viel bessere Idee. Am Bug des Schiffs hatten die Flammen mittlerweile die Seitenwände erreicht. Eine Vielzahl von Saugnäpfen hatten sich bereits gelöst. Einzig der hintere Teil des Schiffs, der noch vom Feuer verschont blieb, war fest in seiner Umklammerung.
Er stieß den Speer mit aller Kraft in das Fleisch seiner Fangarme. Ein gespenstisches Heulen drang aus dem Schlund der Kreatur. Sofort setzte die Nixe wieder zum Singen an, doch ein weiterer Hieb mit dem Speer schnitt dem Monster eine tiefe Wunde, aus der bläuliches Blut drang. Der Tentakel löste sich, wodurch die Nebelkönigin auf dieser Seite an Höhe gewann und in Schieflage geriet. Das war Tristan nur recht, der auf den nassen Planken dem zweiten Tentakel entgegen rutschte.
Mit der freien Hand wollte er sich abbremsen, doch dazu war das Deck zu glitschig. Viel zu schnell eilte sein Körper der Reling entgegen. Mit den Füßen stemmte er sich gegen deren Pfosten, wobei eine ausbrach und er seitlich hinunterrutschte.
Tristan stieß einen angsterfüllten Schrei aus und klammerte sich mit der freien Hand an einen weiteren Pfosten. Der Tentakel des Ungeheuers war ihm so nahe, dass er dessen fischig salzigen Geruch vernahm, der ihm Übelkeit verursachte. Er schwang durch die Bewegungen des Schiffs hin und her. Seine Finger drohten, von dem rettenden Stück Holz abzugleiten.
Er holte mit aller Kraft aus und stieß den Speer so tief in den Tentakel, wie es ihm möglich war, ließ seine Waffe daraufhin fallen und griff mit der zweiten Hand nach dem rettenden Pfosten.
Der Fangarm ruckte hin und her und löste sich schließlich, begleitet von einem schmerzerfüllten Jaulen von der Bordwand. Die Nebelkönigin richtete sich auf, was Tristan half, mit beiden Armen den Pfosten zu umklammern, der unter seinem Gewicht bedrohlich knarzte.
Hätte er die Kraft dazu gehabt, er hätte aufgelacht, doch während seine Füße über dem offenen Meer strampelten und nach Halten an den rutschigen Planken suchten, kämpfte er darum, sich an Deck zu ziehen, ehe die Überreste der Reling mit ihm in die Tiefe stürzten.
Es fühlte sich an, als wäre er einen schier unendlich weiten Marsch gegangen und sah am Ende seiner Kräfte die funkelnden Stadttore seines Ziels. Sein Schiff war befreit und auch wenn es lichterloh in Flammen stand, so sah er doch zu seiner Rechten das Land so nahe, dass er glaubte, es greifen zu können. Er musste nur noch hinaufgelangen. Doch seine Muskeln verweigerten ihm zusehends den Dienst. Die Anstrengungen der letzten Stunden forderten ihren Tribut und die Schwere des Wassers in seiner Kleidung zerrte ihn in die Tiefe.
Er musste nur loslassen und alles hätte ein Ende. Blieb nur zu hoffen, dass es ein schnelles Ende wäre. Er erinnerte sich seines Freunds, der einen letzten, hoffnungsvollen Kuss dieses wunderschönen Monsters erhalten hatte, ehe sie ihn in die Tiefe gezogen hatte. Welche Qualen er erlitten haben musste, langsam und qualvoll den Tod eines Ertrinkenden zu sterben. Er hatte von Schiffreisenden gehört, die in die See gefallen und beinahe darin ertrunken wären. Der Schmerz, wenn einem langsam die Luft ausging, man vor lauter Verzweiflung Wasser einatmete, dass einem die Atemwege zu verätzen war kaum in Worte zu fassen. Dazu die Kälte, die wie tausend Nadeln nach einem stach.
„Nein!", stieß er wütend hervor, mobilisierte alles an Verzweiflung und Furcht, das er in sich hatte. Seine Füße fanden eine Spalte im Holz, stießen sich ab und mit einem Ruck an den Armen schaffte er es bäuchlings hinauf. Tristan blieb für einen Moment liegen, weinte stumme Tränen der Freude und dankte der Weberin tausendfach für ihre Güte, gelobte, nie mehr eine schlimme Tat zu begehen und sein Leben der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit zu widmen.
Dieses Mal musste er wirklich lachen, als er sich aufrichten wollte und nicht einmal mehr die Kraft übrighatte, auf die Beine zu kommen. Doch er war gerettet. Er hatte es geschafft, dessen war er sich sicher.
Dementsprechend ungläubig sah er zur Seite, als er ein ohrenbetäubendes Krachen von der Mitte des Schiffs aus erschall, das das Trommeln des Regens und das prasselnde Feuer an Deck bei Weitem übertönte.
Splitterndes Holz gemischt mit dem Quietschen von Metall und dem Knallen reißender Taue erschuf eine grausige Symphonie des Niedergangs. Wie riesige, feurige Geister senkten sich die Segel auf das Deck herab, begleitet von ihrem hölzernen Tanzpartner, der sich wie ein Riese zum Schlafen legte. Der Mast schlug donnernd auf dem Achterdeck auf, zertrümmerte das Steuerrad und arbeitete sich weiter in den Schiffsbauch vor. Tristans Körper wurde wie ein Spielball durch die Luft geschleudert, ergab sich den erdbebengleichen Bewegungen der Planken unter sich.
Die Nebelkönigin stand noch für einen Augenblick in der Luft, als hätte sie ihr Ende noch nicht bemerkt. Dann ging ein markerschütterndes Geräusch von brechendem Holz, splitterndem Glas und dem Stöhnen gewaltiger Metallverstrebungen durch ihren Rumpf und sie brach entzwei. Tristan fiel in die Tiefe, umhüllt von brennenden Balken, Segeltuch, Glas - das ganze Sein der Nebelkönigin fiel mit ihm hinab der tosenden See entgegen.
Es gab nichts mehr, was er noch hätte tun können und selbst wenn, fehlte ihm die Kraft dazu. Nicht einmal einen Schrei konnte er ausstoßen. Sein Innerstes war bereits gestorben, ehe er das Nass berührte. Er schloss die Augen, umarmte sich selbst und ergab sich seinem Schicksal.


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