Das Flickwerk
Tristan sah sein Ende gekommen. Unter ihm knackte der Handlauf der Reling, er hörte einzelne Abschnitte splittern, derweil der Regen wütend auf sein Gesicht trommelte. Mit einem Mal kippte die Nebelkönigin zur anderen Seite, schwankte hin und her, ehe sie sich wieder stabilisierte.
Wie ein Spielball, getrieben von flinken Kinderhänden, wurde er zu beiden Seiten geworfen, bis er nahe dem Steuerrad zur Ruhe kam. Erst glaubte er, er hätte sich jeden Knochen im Leib gebrochen. Zu atmen kostete ihn immense Kraft. Die Kälte des Regens und den Sturm, der an seiner Kleidung zerrte, spürte er nicht mehr. Nur noch ein schmerzhaftes Brennen, das sich wie ein glühendes Eisen durch seinen Körper zog.
Er verbrachte einige Momente stillen Leidens in dem festen Glauben, elendig auf dem Deck liegend sein Ende zu finden, bis der Morgen graute und der Wolkenschnitter in die Tiefe sank, wo er als Fischfutter endete. Doch mit jedem Atemzug ließ der Schmerz zwar nicht nach, fühlte sich aber beherrschbarer an. Er rollte sich auf den Bauch, sein Brustkorb sandte peinigende Schmerzensblitze in den Rest seines Körpers aus, was ihm für einen Moment den Atem nahm.
Wie eine Schlange, die ihren Körper zusammenzog, ehe sie sich vorwärtsbewegte, brachte er Knie und Hände zusammen und drückte sich in die Höhe. Er suchte sofort Halt am Steuerrad, als eine Böe ihn umzuwerfen drohte. Das Schiff wechselte ständig die Richtung, drehte sich und vibrierte unter den scharfen Winden, die an seinem Rumpf zerrten. Ohne das Segel war es ihm unmöglich, wieder zurückzukommen. Und er wollte unbedingt zurück an Land.
Der nahe Tod, die Furcht davor, vom Meer geschluckt und nie wieder ausgespien zu werden, hatten ihn das Fürchten gelehrt. Seine Gedanken an Rache wurden von nackter Panik zersetzt. Jedes Knarzen des Schiffsrumpfs, jede zu starke Vibration bescherte ihm eine Gänsehaut. Er wollte nicht sterben – nicht so und er betete unentwegt zur Weberin um ein gnädiges Schicksal. Doch der nahende Donner verhieß ihm kein solches. Am Horizont sah er Blitze zucken, die sich zickzackförmig ihren Weg in die See bahnten. Es galt allgemein als die größte Gefahr, einen Wolkenschnitter durch ein Gewitter zu fliegen. Es hieß, die Takelage ziehe Blitze wie magisch an. Geschichten über gespaltene Masten oder Schiffe, die in Sekundenschnelle in lodernden Flammen aufgingen, hatte Tristan zuhauf gehört.
Er ging unter das Achterdeck und warf die Tür hinter sich zu. Das Pfeifen und Sirren des Windes ließ hier drinnen etwas nach und die Wände gaben ihm das trügerische Gefühl von Sicherheit. Er sank auf die Knie, gönnte sich ein paar Atemzüge, derweil eine Vielzahl von Wassertropfen auf den Boden perlten.
„Es tut mir leid, Soren", flüsterte er. „Ich schaffe es nicht. Der Sache bin ich nicht gewachsen." Salzige Tränen mischten sich unter das eisige Nass auf seinem Gesicht. „Verzeih mir, aber ich muss umdrehen."
Er schluckte die Galle hinunter, die sich in seinem Hals breitmachte. Sein Körper schrie nach Ruhe, wünschte sich, er würde sich niederlegen und der frostigen Kälte zum Trotz einschlafen. Doch etwas in seinem Hinterkopf schrie ihm zu, nicht einmal daran zu denken, für eine Sekunde die Augen zu schließen. Wenn er dem Drängen nach einer Pause nachgab, würde er mit Sicherheit wegdämmern, dem Gewitter Zeit geben, ihn einzuholen.
Entschlossen schüttelte er den Kopf und quälte sich auf die Beine. Er fühlte sich nicht in der Lage, seinen Rücken vollends zu begradigen und lief leicht vornübergebeugt, was sich im Moment am angenehmsten anfühlte. Unschlüssig begutachtete er das Sammelsurium an Seilen, Ketten und Winden über sich. Er hatte keine Ahnung, welches zu welchem Steuersystem gehörte. Einzig das gerissene Tau, dessen faseriges Ende an einer Kette herabhing, musste zum Rahsegel gehören und war für ihn unverzichtbar, um die Nebelkönigin auf Kurs zu bringen.
Er lief in den Maschinenraum, in dem sich eine ansehnliche Menge Wasser auf dem gewellten Boden gesammelt hatte. Ein feines Muster an Rissen zog sich über die Glaskuppel des Sternenstaubwandlers. Aus der Spalte im Deck troff unentwegt Wasser auf das wertvolle Gerät. Mit dem Finger fuhr er über dessen Holzverkleidung, die vor Feuchtigkeit triefte. Wenn sich aufgrund der hohen Feuchte das Holz wieder ausdehnte, würden die Wachsabdichtungen aufbrechen und er schneller das Meer zu Gesicht bekommen, als er bis drei zählen konnte.
Mit fahrigen Händen überprüfte er die schweren, metallverkleideten Kisten, die teilweise den Brand überstanden hatten. Doch außer Werkzeug, Nägeln und Eisenklammern fand er darin nichts, was er gebrauchen konnte. Das Seilwerk hatte sich allesamt außerhalb von Kisten befunden und war in Flammen aufgegangen.
Niedergeschlagen kehrte er nach oben zurück. Jede Stufe auf seinem Weg erschien ihm wie das Erklimmen eines kleinen Bergs. Unter dem Achterdeck angekommen hörte er einen ohrenbetäubenden Knall und ein Lichtblitz flammte durch den Türspalt. Das Gewitter war bereits nah, er durfte keine Zeit mehr verlieren.
Er untersuchte die Vorrichtung, an der das Tau angebracht war. Es lief über eine Vielzahl von Rollen. Dasselbe System entdeckte er auch bei drei weiteren, wobei hier die Seile weniger weit auf der Rolle aufgewickelt waren. Da er keine andere Möglichkeit sah, wickelte er das gerissene Tau ein Stück weit von der Rolle ab und lief dann nach draußen, um das andere Ende einzuholen.
Kaum trat er vor die Tür, wurde er von einem Crescendo aus dem Pfeifen des Windes, dem Trommeln des Regens und dem Knallen des Gewitters begrüßt. Das Tau baumelte, vom Wind getrieben, unstet hin und her. Es erinnerte an den Versuch, ein Kaninchen mit bloßen Händen einzufangen, doch schlussendlich packte er es, warf es sich über die Schulter und zog es mit aller Kraft Richtung Achterdeck.
Die Planken waren schon dermaßen rutschig, dass er kaum Halt bekam und immer wieder dabei ausglitt. Doch Tristan dachte nicht an Aufgeben. Sein Überlebenswille hatte längst die Kontrolle übernommen und ihn unempfindlich gegenüber Schmerz und Erschöpfung gemacht. Er würde so lange weitermachen, bis er entweder tot umfiel oder seine Rettung erwirkt hatte. Das Tau presste er durch die dafür vorgesehene Öse in der Wand, öffnete die Tür, die durch einen Windstoß gegen die Wand gedonnert wurde und griff mit der freien Hand von innen nach dem Tau, sodass es nicht wieder nach draußen glitt.
Der Wind nahm derweil an Heftigkeit zu und pfiff ohrenbetäubend durch jede Ritze. Der Lehm in seinen Ohren war großteils ausgewaschen worden und er hätte am liebsten die Finger hineingepresst, um dem Geräusch zu entgehen. Zum Glück hörte er die Nixen nicht mehr. Wahrscheinlich war selbst ihnen der Wellengang zu gefährlich. Der einzige Wahnsinnige, der bei diesen Wetterverhältnissen draußen war, war er selbst.
Seine vor Kälte steifen Finger schafften es kaum, die Enden des Taus zu verbinden, doch nach mehreren Anläufen, bei denen er auf dem schwankenden Schiff immer wieder um seinen Stand kämpfen musste, hatte er sie verknotet. Er kräuselte die Lippen. Der Knoten war zu dick, um durch die Öse nach draußen gezogen zu werden. Er würde die Rah nur begrenzt weit steuern können. Außerdem bestand die Gefahr, dass sich durch den Zug der Knoten löste.
Da fielen ihm die Metallklammern im Bauch des Schiffs ein und er eilte hinunter, besorgte Hammer und Klammern, mit denen er die Verbindung verstärkte. Soren würde ihn für diese Arbeit schallend auslachen. Die Verbindung der Seile sah aus wie eine wulstige, schlecht verheilte Narbe, aber sie hielt seinem probeweisen Zug stand.
Flug kehrte er zum Steuerrad zurück. Er wischte mit dem Ärmel über den Kompass, löste dann eine der Sonnenerzleuchten, um den Zeiger in der Dunkelheit zu erkennen und bestimmte so grob den Kurs. Er hatte keine Ahnung, wie weit er abgetrieben geworden war, hisste das Segel, das sich ruckartig mit Luft füllte, und wendete in die Richtung, die ihm der Kompass wies. Das Steuerrad ließ sich nur eine Spur nach rechts drehen, gehorchte aber seinen Befehlen.
Das Gewitter hatte ihn längst eingeholt, über ihm zuckten Blitze hin und her, doch bisweilen schien keiner gewillt, zu ihm herabzukommen. Vielleicht lag es daran, dass er inmitten der Wolken war und nicht unter ihnen. Er sah praktisch nichts, weder das Land, auf das er hoffte zuzusteuern noch die stürmische See unter ihm.
Immer wieder tätschelte er das Holz seines Gefährts, sprach ihm gut zu und hoffte, es würde noch ein Weilchen durchhalten. Er schwor sich, nie wieder einen Fuß auf sie zu setzen – es sei denn, jemand reparierte generalüberholte sie. Außerdem hatte er der Nebelkönigin ein Versprechen gegeben, das er zu halten gedachte, nachdem sie trotz ihres erbarmungswürdigen Zustands diesem Unwetter trotzte.
Er verlor das Gefühl für die Zeit und wollte über das Lunarmeter das Leuchten der Sterne prüfen. Doch es leuchtete mal stärker mal schwächer auf, was er als Reaktion auf die sie umgebenden Lichtblitze deutete. Womöglich graute bereits der Morgen und er würde bald abstürzen, bekam es aber nicht einmal mit. Hier inmitten der Wolken war alles grau in grau. Er starrte nach vorne, erhoffte, dass sich aus dem Nebel bald Umrisse des Landes schälten, doch er erkannte nichts.
Doch was war, wenn er zu niedrig flog und viel zu spät bemerkte, dass er auf eine hohe Felswand zusteuerte? Oder was war, wenn sein Kompass ihn aufgrund der Entladungen am Himmel falsch lotste? Er warf einen Blick auf die Nadel, die unentwegt zitterte, als fröre sie. Die fürchterlichste Option bedachte er dabei noch gar nicht: Sollte er zu weit nach Süden oder Norden abgetrieben sein, mochte er zwar nach Westen fliegen, doch an Amirathya vorbeisegeln. Oder aber er flog darüber hinweg, ohne es zu bemerken.
Er musste tiefer gehen, um sicherzugehen, die nötige Sicht zu haben, um das Land frühzeitig zu erkennen. Er drückte den Höhenhebel und langsam lichtete sich der Nebel und nur noch der Vorhang aus Regentropfen trübte seine Sicht. Unter ihm wogten noch immer gigantische Wellenberge auf und ab, die nach dem Rumpf des Schiffs griffen.
Tristan wischte sich über die Augen, beschirmte sie mit der Hand und glaubte, in der Ferne vage Umrisse von Land auszumachen. Ein Jauchzen entstieg seiner Kehle, ehe ihm klar wurde, dass er viel zu tief lag, um dort an Land zu gehen. Eine Spur weiter südlich fiel das Gelände steil ab. Er drehte das Ruder hart nach links, um seinen Kurs zu ändern, doch beim Zurückrudern blieb es mit einem krächzenden Laut unter sich stecken, sodass das Schiff einen Kreis beschrieb.
„Bei Revea, auch das noch", stöhnte er und lief die Treppe nach unten. Das Problem hatte er schnell gefunden: Sein Knoten hatte sich mit dem Rest des Taus verhakt und blockierte jetzt die Funktion der Winde. Die Seile waren bis zum Bersten gespannt. Er würde das Segel einholen müssen, um sie zu lösen. Gerade als er zurück an Deck ging, übertönte ein Knall jedwedes andere Geräusch. Tristan wurde von einem grellen Weiß geblendet und hatte das Gefühl, von einem gigantischen Hammer getroffen zu werden. Er prallte zurück und stieß schmerzhaft gegen die Wand, die unter seinem Gewicht nachgab. Gesplittertes Holz stach ihm in den Rücken, was sich anfühlte, als kratzte jemand mit einem Rechen längs darüber hinweg.
Er wischte sich über die Augen und blinzelte mehrmals, bis er wieder verschwommen etwas sehen konnte. Er japste nach Atem. Am Bug des Schiffs war Feuer ausgebrochen. Die Flammen glommen lichterloh, sandten pechschwarze, beißende Rauchschwaden in den Himmel und zuckten nicht einmal vor den schweren Regentropfen über ihnen zurück.
Er hatte keine Zeit, das Segel einzuholen. Das Feuer breitete sich in Windeseile aus und züngelte immer höher. Bald würde es das Segel erhaschen und ihm damit jedwede Möglichkeit nehmen, an Land zu kommen. Er lief nach oben und holte den Speer. Besser er durchschnitt das Seil und schaffte es schlingernd an Land, als gar nicht. Mit der scharfen Kante rieb er über das Tau, doch es war so dick, dass die Arbeit sich schier endlos in die Länge zog.
Eine Windböe heulte über das Deck, trieb die Flammen weiter an und brachte die gesamte Takelage zum Aufstöhnen. Die mit ihr verbundenen Rollen unter dem Achterdeck ächzten vor Anstrengung. Tristan säbelte eilig weiter an dem Tau, doch er war zu langsam: Das Metall, das die Rollen mit der Wand verband, verbog sich, bis die Unterkonstruktion auf der es befestigt war, in einem Splitterregen zerbarst. Die Winde riss aus der Wand und prellte Tristan zur Seite, ehe sie die Wand in Richtung des Decks einschlug und nach draußen katapultiert wurde.
Tristan bäumte sich nach vorne und erbrach auf den Boden. Er hatte das Gefühl, jemand schlüge ihm unentwegt in die Magengrube. Ein weiteres quäkendes Geräusch von den Winden ließ ihn durch einen Tränenschleier das nächste herannahende Unheil begutachten. Die restlichen Taue würden in Kürze ebenfalls ihre malträtierten Befestigungspunkte herausreißen. Abgesehen davon, dass das Schiff dann gänzlich manövrierunfähig wäre, würden ihn die schweren Holzrollen und die Stahlketten womöglich totschlagen.
Er robbte nach draußen, erbrach sich ein weiteres Mal und sah nach oben, nachdem ein Geräusch berstenden Holzes ankündigte, wie sich das Achterdeck zur Seite neigte. Tristan stand zwischen den Flammen am Bug und dem absackenden Achterdeck am Heck des Schiffs. Selbst sein eisernen Wille vermochte es kaum noch, seine Glieder zu bewegen.
Aus der Ferne vernahm er geisterhaft einen lieblichen Gesang. Er kroch zum Rand des Schiffs und lugte in die Tiefen. Zwischen zwei Wellenbergen sah er sie: Die Nixe, die er gesucht hatte, die Arme zu ihm emporgereckt und einen Gesang auf den Lippen, der ihn zu verhöhnen trachtete. Er fühlte sich davon nicht einmal angezogen. Entweder sein Hass machte ihn immun oder der Wind, der das Lied schrill verzog, schützte ihn vor der Wirkung.
Ein keuchendes Lachen entstieg seiner Kehle. Sollte er am Ende ihr Opfer werden? War dies das grausame Schicksal, das die Weberin ihm auferlegt hatte? Wurde er für seinen Übermut bestraft oder dafür, dass er andere betrogen hatte, um sein Ziel mit aller Gewalt zu erreichen?
Mit einer Hand auf seinem pulsierenden Bauch stemmte er sich in die Höhe und wankte die Treppe zum Steuer hinauf. Noch hielt das Deck stand, doch es bog sich schwer unter seiner Last und der fehlenden Stütze von unten. Die Rah wehrte sich mit aller Kraft gegen den Zug des Steuerrads, doch er schaffte es, sie so auszurichten, dass er grob auf das Land zusteuerte. Ein erschöpftes Grinsen legte sich auf seine Lippen. Er griff nach dem Höhenhebel, plante, weit aufzusteigen, um nötigenfalls die Klippen zu überfliegen. Doch als er daran zog, tat sich nichts.
Das ganze Schiff erbebte und schüttelte sich. Es fühlte sich an, als wäre er auf Grund gelaufen, obwohl er doch in der Luft schwebte. Die Segel bäumten sich unter der Kraft des Windes auf, zogen und zerrten an dem Mast, der sich unter ihrer Kraft bog. Tristan sah das nächste Unheil auf sich zukommen: Welche Macht auch immer ihn an Ort und Stelle hielt, der Mast würde unter der Last des Windes brechen. Er stierte in die Flammen am Bug, die sich mittlerweile bis zu ihm vorgearbeitet hatten und ihm keine Möglichkeit ließen, irgendeinen weiteren Einfluss zu nehmen. Sie leckten bereits nach dem Segel, das gräulich rauchte und am unteren Ende zu schwelen begann.
Er schrie seine Wut und Pein hinaus und fiel auf die Knie. Ihm fiel nichts mehr ein, was er noch tun konnte, außer mit aller Kraft am Höhenhebel zu ziehen, der keine Reaktion zeigte.
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