Verlassen

Gor stand mir einem breiten Grinsen am Eingang der Höhle. In jeder Hand hielt er ein kurzes, poliertes Messer das er geschickt zwischen seinen Finger kreisen ließ.

"Das hättet ihr nicht gedacht, was? Erstaunlich, dass ihr es hierhin geschafft habt. Respekt."

Er musterte die Sucher und zeigte mit einer der Klingen auf Kira: "Hör auf zu schreiben Kindchen. Mit den Dingern hier kann ich umgehen, glaub mir."

"Ist ja gut." Mit vor Furcht geweiteten Augen starrte sie abwechselnd ihre Gefährten und Gor an, legte alles auf den Boden und verschränkte die Arme.

"Warum bist Du uns gefolgt?," fragte Jack, dessen Wut und Enttäuschung aus seinen Gesichtszügen ablesbar waren.

"Ist das nicht offensichtlich? Ihr seid doch schlau und kommt da nicht drauf?"

"Du steckst mit den Entführern unter einer Decke, nicht wahr?," vermutete Kira.

"Ganz richtig. Weil sich niemand aus der Stadt hier so gut auskennt wie ich, habe ich meine Dienste angeboten. Ich musste die Fürstin nicht mal schleppen und hab eine Menge Gold kassiert. Ein lohnenswertes Geschäft."

"Ganz toll," murmelte Ingwer und deutete auf Quinias gefangenen Leib: "Was habt ihr mit ihr gemacht? Es ist schlimm, sie so zu sehen."

Gor zuckte mit den Schultern. "Ehrlich gesagt habe ich keinen blassen Schimmer. Gestern habe ich ihr etwas zu essen gebracht und hab sie so gefunden. Da hat jemand unsere Pläne durchkreuzt denn unter dieser Blase kann sie kein Wort von sich geben. Zu dumm auch."

"Pläne, was für Pläne?"

Kira hatte das Gefühl, dass zuviele Fragen ihnen nicht helfen würden, und gab Ingwer zu verstehen, ruhig zu bleiben.

Gor, der die Handzeichen gesehen hatte, fuchtelte bedrohlich mit der scharfen Klinge vor Kiras Gesicht herum: "Soso. Einen auf Anführerin machen, was? Ich sage euch was ihr zu tun habt. Los. Legt eure Sachen hierhin. Und wehe ihr tut irgendwas, von dem ich denke, es könnte mir nicht gefallen. Einen von euch erwische ich sicherlich. Ihr macht mir keine Angst."

Die Sucher legten ihre Rucksäcke und andere lose Gegenstände auf einen Haufen. Kira bemerkte, dass sich Jack viel Zeit ließ. Ob er einen Plan schmiedete? Schnell spielte sie einige Möglichkeiten im Kopf durch. Gor stand zu weit entfernt, um ihn gefahrlos überwältigen zu können. Außerdem hatte er seine Messer und war ihren Gebrauch gewöhnt. Die Beine in die Hand nehmen und fliehen wäre keine gute Idee, da er sie im Moor einholen würde. Vielleicht konnte Jack das Wurzelwerk wachsen lassen und ihn gefangen nehmen!

"Los, schneller. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, Jack. Beim Torfabbau hast Du auch nicht getrödelt."

Jack errötete und beeilte sich.  Währenddessen zog Gor aus einer Rückentasche ein schmales, dicht gewebtes Seil, teilte es in drei identische Stücke und gab Kira und Ingwer je eines.

"Fesselt euch, erst die Beine, dann die Hände, dann beide miteinander verknoten. Jack hilft euch sicher gern dabei, nicht wahr?"

"Ganz sicher, Gor. Was bist Du für ein Mensch?" Jack spuckte verächtlich auf den Boden.

"Halt den Rand. Du hast doch keine Ahnung Grünschnabel."

Kira bedeutete Jack, sie zuerst zu fesseln. Als er nah war, flüsterte sie "Wurzeln" und blickte an die dunkle Höhlendecke. Er nickte kaum merklich und sah an Gor vorbei auf einige fadendicke Stränge. Langsam knotend konzentrierte er sich und kurz darauf schoben sich mehrere der wurmähnlichen Baumfortsätze wild zuckend auf Gors Rücken zu, auf ihrem Weg wurden sie dicker und dicker.
Jack liefen erste Schweißperlen von der Stirn. Kira sah, dass seine Hände krampften.

"Was glotzt Du so? Habe ich Ausschlag oder was? Sieh zu, dass Du fertig wirst. Hier, fang."

Eine Sekunde war Jacks Aufmerksamkeit gebrochen, als er das kleine Fläschen reflexartig fangen wollte. Ingwer holte tief Luft, als sich eine der Wurzeln zurückbildete und um sich schlug. Obwohl sie Gor nur leicht berührte, duckte sich dieser instinktiv und sah nach oben.

"Was zur Hölle ist das?"

Wutentbrannt sprang er auf Jack zu, holte aus und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Jack taumelte und war kurz benommen. Gor baute sich hasserfüllt vor ihm auf und hielt ihm die Messerspitze an die Kehle.

"Gib mir nur einen verdammten Grund Dich nicht abzustechen, Bürschchen."

Kira erschrak zu Tode, als etwas Blut aus der Stelle sickerte, auf der die Dolchspitze ruhte: "Tu ihm nichts, Gor! Er ist ein guter Mensch."

"Hm. Ist er das, ja? Naja, ein bisschen ist dran. Aber wer nur nett ist, kommt nicht weit. Los, jetzt das Fett."

Er bedeutete Jack die Fesseln der beiden Sucherinnen einzuschmieren, damit sie sich nicht befreien konnten. Anschließend führte der Torfstecher die gleiche Prozedur mit Jack durch und verband ihm zudem die Augen.

"Ich gehe Verstärkung holen. Ihr werdet früh genug erfahren, was wir mit euch anstellen. Vielleicht bekommen wir ja ein dickes Lösegeld. Das wär doch was. Fliehen dürfte nicht mehr klappen." Er grinste breit, entblößte seine fauligen Zähne, warf sich hastig ihre Taschen über den Rücken und verschwand schlurfend in der Dunkelheit.

Kira wand sich so gut sie konnte. Keine Chance. Die Fesseln gaben keinen Zentimeter nach und schnitten sich in ihr Fleisch. Sie sah zu Ingwer hinüber, die Tränen in den Augen hatte.

"Wir werden einen Weg finden, Ingwer. Für sie und für uns."

"Du machst Witze, ja? Wir sollen wir uns befreien? Und selbst wenn das gelänge, wissen wir nicht, wie wir der Fürstin helfen können. Es ist zum heulen."

Jack versuchte, die Augenbinde mit Hilfe seiner Schulter zu lösen, scheiterte aber kläglich.

"Seid froh, dass ihr noch etwas sehen könnt. Ich höre nur Stimmen. Was soll ich sagen?"

"Warte mal." Kira robbte näher heran und versuchte, die Binde mit ihren Zähnen zu lösen. Gor hatte sie zusätzlich um Jacks Hals gebunden so dass sie nach wenigen Minuten aufgab.

Eine Weile herrschte Totenstille. Kira spürte die Kälte und Feuchte des Bodens unter sich. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sich Quinia hingesetzt hatte und den Kopf langsam zu den Seiten drehte, als suche sie etwas.

"Ob sie weiß, dass wir hier sind?"

Ingwer nickte heftig: "Bestimmt tut sie das. So lange ich sie kenne hat sie ein Gespür für Stimmungen und was um sie herum vorgeht."

"Deshalb ist sie wohl auch Fürstin geworden," bemerkte Jack. "Denkt was ihr wollt. Uns bleibt nichts übrig als auf Hilfe zu warten. Johan ist manchmal ziemlich pingelig und nervig, aber jetzt wünschte ich, er wäre niemals anders."

Kira versuchte sich zu strecken und spürte, wie eine bleierne Schwere sich ihrer Gedanken und ihres Körpers bemächtigte. Sie mussten warten, denn sich selbst befreien war unmöglich. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Lichter in der Höhle mal heller und mal dunkler schienen, so als ob der Hügel atmete und dafür sorgte, dass die Helligkeit sich im Rhythmus seines Luftstroms veränderte.

Irgendwann wachte sie auf. Winzige Strahlen fahlen Lichts hatten ihre Weg in die Höhle gefunden. Jack lag zusammengerollt neben Ingwer, beide zitterten vor Kälte.

Als Kira sich hochdrücken wollte und ihre tauben Glieder ihr nicht gehorchten, lauschte sie. Nichts rührte sich, nur der Wind pfiff heiser durch den Höhlengang. Sie hob ihren Kopf und sah in Richtung des Eingangs. Das Pfeifen wurde lauter und sie wusste dass es Stimmen sein mussten, die sich langsam näherten.

"Hey ihr zwei, wacht auf. Sofort. Es kommt jemand."

Mit viel Mühe setzte sie sich gerade hin. Ingwer sah sich verschlafen und mit zusammengekniffenen Augen um. Ihre Haare waren zerzaust und vor Dreck dunkler als gewöhnlich:

"Das war die schlimmste Nacht seit langem. Mir tut der Schädel weh."

Sie drehte ihren Kopf seitlich, um besser hören zu können: "Unsere Rettung oder unser Verderben. Bitte Götter lasst es nicht Gor sein. Einen solchen Hass könnt ihr doch nicht haben."

Die Stimmen wurden lauter. Kira schätzte, dass es ein halbes Dutzend Personen waren. "Sie müssen hier sein, kein Zweifel. Seht. Da ist Licht. Schneller."

Die Sucher waren erleichtert als sie erkannten, wer sie gefunden hatte. Ein dürrer, aber freundlich aussehender junger Mann mit überlangem, rotem Kinnbart war der erste, der die Höhle betrat. Mehrere Wachleuchte aus Arwan folgten dichtauf. Sie alle trugen dünne Panzerungen, kurze Bögen und Speere, mit denen sie die Sumpflandschaft durchquert hatten. Eine der Wachen hielt ihre Rucksäcke in Händen.

"Ihr habt Glück, dass irgendjemand eure Rucksäcke hat liegen lassen. Ohne sie hätten wir euch vielleicht nicht gefunden. Oh, verzeiht. Mein Name ist Kilian, ich bin Jäger, ehemalig0er Hauptmann der Wache und ein guter Freund der Fürstin. Johan schickt mich."

In Windeseile waren die Fesseln entfernt. Ingwer reichte ihm, nachdem sie sie an ihrer Hose gesäubert hatte, ihre Hand: "Habt Dank Kilian. Wir sind froh, dass ihr hier seid. Gor hat uns überrascht und gefesselt. Er sagte, dass er mit Verstärkung zurückkehren würde." Die Taubheitsgefühle in Kiras Händen verschwanden allmählich.

"Habt ihr das gehört Männer? Zwei von euch postieren sich am Eingang. Auf eine Überraschung hab ich zu so früher Stunde keine Lust."

Sein Blick fiel auf Quinia, die zu schlafen schien. "Ihr habt sie gefunden. Wer hätte das gedacht. Was ist das für eine Kugel? So etwas habe ich noch nie gesehen."

Kira ging an Kilian vorbei und drückte gegen das geheimnisvolle Gefängnis: "Wir wissen nicht, was es ist. Glaubt man Gors Worten, so waren es weder er noch die anderen Entführer, die sie dort eingesperrt haben."

"Das hätten sie auch kaum hinbekommen." Der Jäger beugte sich herunter. Kira fiel auf, dass er tättowiert war. Lange schwarze Streifen bedeckten die Haut über den Handknochen und liefen in einem stilisierten Auge zusammen.

Jack war hungrig, biss in einen Apfel und legte einen zweiten innerhalb der Kugel ab. Quinia griff sofort danach und nickte dankend. Ihre Bewegungen waren gespenstlich langsam und unsicher.

"Man kann Gegenstände durch sie hindurch bewegen, aber Hände und nur eine Armlänge tief ein. Wahrscheinlich sieht sie uns kaum und kann die Kugel nicht aus eigener Kraft verlassen. Immerhin kann sie essen und atmen."

"Hat einer von euch so etwas schon gesehen?" Kilian sah die Wachen fragend an, nachdem er die Hülle untersucht hatte. Alle schüttelten einhellig den Kopf.

"Gut. Das bedeutet, dass wir sie hier lassen müssen, bis wir einen Weg gefunden haben, sie da rauszuholen. Das schmeckt mir nicht. Aber ich habe bereits eine Idee. Kyle, Eran, ihr bewacht die Fürstin, die anderen bleiben im Eingangsbereich. Wir müssen jederzeit damit rechnen, ungeliebten Besuch zu bekommen."

Die Männer bezogen wortlos Stellung.

"Sucher, habt ihr Waffen?"

"Wir haben lange Messer und… noch anderes." Kira deutete auf Jacks Seitentasche und einen kleinen Beutel, in dem sie die Feuerlampe verstaut hat.

"Sehr gut. Möge Yus dafür sorgen, dass wir sie nicht einsetzen müssen. Kommt. Wir gehen zurück nach Arwan um Hilfe zu holen. Es gibt einen kürzeren und weniger gefahrvollen Weg dorthin, als den, den ihr genommen habt."

"Gor der verdammte Hund hat uns absichtlich quer durchs Moor gescheucht um uns loszuwerden. Wenn ich den erwische…"

"… kannst Du helfen, ihn zu überwältigen, genau." Kilian lächte freundlich. "Ich bewundere Euren Mut und euren Einsatz, aber manchmal ist es besser, einen klaren Kopf zu bewahren."

Der Jäger und die Sucher machten sich auf den Weg. Weit kamen sie nicht.

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