Traurige Gewissheiten

"Nein!" Ingwers gellender Schrei fuhr Kira durch Mark und Bein. Sie war als erste aufgewacht und hatte sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte.

Ein bitterer Geruch legte sich auf ihre Brust, alles um sie herum drehte sich. Die Wachen lagen reglos auf dem Boden, der Körper des Hauptmanns verdeckte Jack halb. Auch er schien ohnmächtig, reagierte aber auf ihre Versuche, ihn zu wecken, so dass sich beide einen Überblick über die Lage verschaffen konnten.

Johans Geschenk hatte sich als nützlich erwiesen. Wie lange ihnen Zeit für die Flucht blieb, war ein offenes Geheimnis.

Nachdem klar war, dass Jack noch atmete, sahen sie nach der Fürstin. Die Hülle die sie gefangen hielt war verschwunden und offenbarte einen furchtbaren Anblick. Ihre Haut hatte ihre gesunde Farbe vollkommen verloren und schimmerte leichenblass. Statt lebhafter Augen starrten schwarze Pupillen durch die halboffenen Lider an einen Punkt an der Höhlendecke. Kira erschrak, nachdem sie sie berührt hatte. Alles an ihr fühlte sich kalt und klamm und tot an.

"Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?" Zitternd tastete Ingwer über den leblosen Körper, so als ob sie das Leben nur finden und wieder wachklopfen müsste, um ihre Tante zurückholen und die alte Welt wiederherstellen zu können. Doch nichts geschah.

Durch die Tränen hindurch suchte sie halbherzig Fragmente des Spürsteins. Vergeblich. Eine imaginäre Hand umklammerte ihr eigenes Herz, drückte und presste es, drehte es genüsslich hin und her.

Der Schmerz ließ sie vergessen, dass sie sich in einer gefährlichen Situation befanden. Kira tröstete die junge Sucherin und flüsterte: "Wir müssen hier weg. Schnell."

Ingwer wischte sich die feuchten Strähnen ihrer wirren Mähne aus dem Gesicht. Ihre Mimik verfinsterte sich schlagartig: "Und sie einfach hierlassen? Wir müssen sie begraben. Was bist Du für ein Mensch?"

Eine Bewegung am Rande des Blickfeldes schreckte Kira auf. Es war Jack, der sich über eine der Wachen gebeugt hatte und das Schwert an sich nahm. Mit dessen Spitze deutete er in Richtung Höhlenausgang. "Kommt jetzt. Wir haben keine Wahl." 

Kira nickte im zu und reichte Ingwer die Hand. "Jack hat recht. Wir drei sind bald ziemlich tote oder verbannte Menschen, wenn wir bleiben. Was glaubst Du, was sie mit uns machen, wenn sie uns finden? Einen Orden verleihen?"

Ingwer sah ihre Freundin an. Sie schien etwas sagen zu wollen, brachte aber keinen Ton hervor. Sie beugte sich zum Leichnam ihrer Tante herunter und schloss ihre Augenlider. "Hoffentlich hat sie noch Frieden finden können. Oh Gott, wie ich diese Welt hasse."

Ruckartig drehte sie sich weg und hastete an Jack vorbei. Dieser hatte Mühe zu ihr aufzuschließen und bemerkte beim hinausgehen kurzatmig: "Findet ihr es nicht merkwürdig, dass sie keinen Kratzer abbekommen hat?"

"Was spielt das für eine Rolle, Jack? Selbst wenn ich es nicht war, habe ich sie verloren. Weißt Du, was sie zu mir gesagt hat, wenn ich Mist gebaut habe? 'Was einmal stirbt ist tot und wird nicht wieder lebendig'. Eine furchtbare Wahrheit."

Kira nutzt die Chance und versuchte sie abzulenken: "Du hast mal Mist gebaut?"

Ingwer boxte sie heftig und rannte los. Kira war die einzige, die ihr einigermaßen dicht durch das Moor folgen konnte. Jack hatte da ungleich mehr Mühe, strauchelte oft und fiel noch öfter. Seine Kleidung transformierte sich in eine schwere, erdige Schicht, die die sich windende, matschige Strecke unendlich lang erschienen ließ.

Völlig erschöpft und mit brennenden Beinen erreichten sie das Sturmfenster am späten Nachmittag. Johan war nicht dort und so warteten sie. Jack ging währenddessen auf und ab, sah aus dem Fenster auf die leeren Straßenzüge, aß etwas, sah hinaus. Wachen waren nicht zu sehen. Wieviel Zeit ihnen noch blieb?

"Wo bleibt er denn?"

Ingwer erhielt auf ihre Frage eine prompte Antwort, als der Schatten ihres Patrons im Eingang der Torfschenke auftauchte. Kurz darauf stand er vor ihnen und hörte aufmerksam zu. Als Kira Quinias Tod erwähnte, schlich sich ein Ausdruck in sein Gesicht, den sie so nicht kannten. Furcht.
Sekunden lang starrte er ins Nichts und flüsterte: "Das ist nicht gut. Ich... habe schon viel erlebt, während ich das hier mache. Aber das. Bei allen Göttern."

"Was sollen wir jetzt tun?" Kira biss sich auf die Lippen. Am liebsten würde sie die Zeit zurückdrehen.

"Wie lange haben wir noch?", fragte Jack.

"Die Wirkung des Schlafmittels hält drei Stunden an. Trödeln sollten wir nicht. Wartet hier. Ich habe in der Torfschenke mit Detektor Vier gesprochen. Wie ich ihn kenne, wird er noch dort sein. Er hat meist gute Ideen. Wenn er auch gerne mal einen über den Durst trinkt."

Johan hatte Glück. Vier begrüßte sie bei seiner Ankunft herzlich, aber die Sucher sahen ihm an, dass die Nachricht von Quinias Tod in tief getroffen hatte. Ingwer konnte ihm kaum in die Augen sehen, wusste sie doch, dass er und seine Tante lange Jahre befreundet waren.
Er fing sich aber rasch, hörte aufmerksam zu, holte sich einen Schnaps und sagte dann etwas, dass sie alle auf dem falschen Fuß erwischte.
"Früher oder später wäre das ohnehin passiert."

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