Totenmoor

Nachdem das Klappern der Hufe verstummt war, machten die drei sich auf den Weg. Mit einigem Abstand zum Handelszug folgten sie der tief durchfurchten Straße eine knappe halbe Stunde lang. Der Boden wurde spürbar weicher und morastiger, je mehr sie sich den
ausgedehnten Torffeldern näherten.

"Die Hütten der Arbeiter liegen in einer Mulde im Waldstück dahinten." Jack deutete auf eine Baumgruppe einige hundert Schritte vor ihnen.
"Ein paar von ihnen kenne ich. Sie sind misstrauisch und mögen Städter nicht. Wenn sie einen kennen, sind sie nett und lassen dich kaum gehen, ohne Schnaps oder Käse angeboten zu haben."

Ingwer lächelte schnippisch: "Ich weiß wo das ist, Mister neunmalklug. Vermutlich war ich säschon häufiger dort, als Du."

"Kennst Du Gor, Jack?" Kira zog ihren Umhang fester.
"Nie von ihm gehört. Vielleicht will er seine Ruhe haben und ist lieber allein."

Kira nickte nachdenklich. Gemeinsam bogen sie in das Waldstück ab. Die Hütten der Torfstecher machten einen heruntergekommen Eindruck. Sie waren einfachster Machart und bestanden aus nicht mehr als aus einem Dach und vier erdig aussehenden Seitenwänden. Viele waren mit Brettern notdürftig geflickt, manche hatten Risse oder sahen morsch aus.

Da sie nicht wussten, wo Gors Behausung stand, stattete Jack einigen seiner Bekanntschaften einen Besuch ab. Wenige Türen später kehrte er mit leicht rotem Kopf zurück.

"Da hinten ist es. Kommt mit, ich zeige es euch."
"Hast Du was getrunken?" Kira stemmte die Arme in die Hüften.
"Klaro. Sonst hätte er mir nix gesagt."

Das besagte Haus wurde von einer ausladenden Weide überragt. Die Tür befand sich auf der dem Baum zugewandten Seite und schien vor kurzem neu gestrichen worden zu sein. Der Geruch nach Farbe lag schwer in der Luft. Jack klopfte.

"Wersn da?" Die Tür öffnete sich einen Spalt.
"Bist Du Gor?" Ingwer streckte die Hand zum Gruß hin.
"Wern sonst? Was wollt ihr? Ich bin müde."
"Laya schickt uns. Wir brauchen für kurze Zeit einen Unterschlupf. Sie sagte, Du seist hilfsbereit." Kira konnte sein Gesicht kaum erkennen und kniff die Augen zusammen.

"Jaja, hilfsbereit stimmt schon. Und ich schuld ihr was. Jaja, gut dass ihr hier seid. Ihr könnt bleiben, aber nur wenn ihr mit anpackt."

Er trat vor die Tür. Eine Schönheit war er wirklich nicht. Seine kleinen Ohren passten nicht zu der Größe seines Kopfes und die spitze Nase bog sich leicht zur Seite. Schwarzes, strähniges Haar hing ihm in sein unrasiertes Gesicht. Er trug dicke und saubere Lederkleidung.

Sekunden lang sagte er kein Wort und sah die drei der Reihe nach an. Dann, endlich, die Antwort:

"Kommt rein. Aber ich warne euch. Viel Platz ist nicht. Ich kann noch ein paar Strohmatten besorgen. Teller und Tassen auch. Mal sehen. Bin gleich wieder da. Wehe ihr steckt etwas ein."

Gor stapfte an ihnen vorbei und verschwand zwischen den Bäumen. Kira fiel ein Stein vom Herzen: "Er scheint nett zu sein. Wir sollten ihm helfen so gut es geht."

Ingwer schob sich wortlos an ihr vorbei und sah sich drinnen um. Nur wenige Einrichtungsgegenstände waren vorhanden, sahen aber gepflegt und sauber aus. Ganz anders als ihr Besitzer. Helle Holzdielen verliehen dem Häusschen eine gewisse Gemütlichkeit.

"Oh man." Jack warf einen Blick auf den steinernen Kamin in der rechten Ecke des Raumes. Direkt davor war Gors Schlafstelle, bestehend aus Decken und einer Strohmatratze.

"Das wird eng."

"Hör auf zu meckern. Ich bin froh, dass wir hier ein paar Tage Ruhe haben. Mir geht das alles auf die Nerven." Ingwer setzte sich direkt vor den Kamin, der noch etwas Restwärme ausstrahlte.

"Du machst Dir sicher große Sorgen." Kira tat es ihr gleich und hielt ihre Hand. "Wir werden sie sicher finden. Warte nur ab."

Ingwer sank schluchzend auf einen Schemel fauchte: "Und was, wenn nicht? Was, wenn sie verschwunden bleibt? Wenn ihr etwas furchtbares zugestoßen ist? Vielleicht lebt sie nicht mehr. Ich habe sonst niemanden, versteht ihr."

"Du hast uns."

Jack, der betreten zugehört hatte, nickte beifällig. "Sobald sich die Lage beruhigt hat, machen wir uns auf die Suche. Das liegt uns sprichwörtlich im Blut. Also muss es klappen."

Ingwer lächelte und wischte sich eine Träne mit dem Handrücken weg.

"Das ist lieb von Dir. Und absolut logisch. Ich hoffe sehr, dass ihr nichts passiert ist."

Kurze Zeit später kam Gor zurück, einen klapprigen Handkarren mit Matratzen hinter sich herziehend. Sie richteten sich so gut es ging ein. Als alles vorbereitet war, winkte ihr Gastgeber die Sucher zu sich.

"Kommt mit. Ich muss euch was zeigen. Es ist bei einem Freund."

Sie stiefelten los und kamen an eines der größeren Häusschen. Auf einem Schaukelstuhl davor schlief ein alter Mann, die Hände gefaltet, tief ein und ausatmend.

"Kripp. Alter Sack. Der Tag ist noch lang."

Gor wartet kurz. Der angesprochene öffnete langsam zunächst das rechte, dann das linke Auge.

"Endlich. Ihr seid da," röchelte er, drückte sich schwerfällig hoch und reichte allen die Hand. "Ich habe schon auf gewartet. Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass ihr kommen würdet. Ich hoffe, ihr habt einen robusten Magen. Kommt."

Hinter dem Haus stand ein hoher Werkzeugschuppen mit kleinen Fenstern. Kira beschlich ein ungutes Gefühl, als sie sich näherten.

Kripp öffnete die Tür und sofort schlug ihnen ein metallischer Geruch entgegen. Zusammengekrümmt lag dort ein Mensch, dürftig zugedeckt. Der Boden unter ihm war tiefrot gefärbt.

"Im Namen der Götter. Ist er tot?" Jacks Pupillen weiteten sich.

"Das ist er." Kripp hockte sich neben den Leichnam.
"Gor fand ihn im Wald nicht weit von hier. Hatte ein Messer im Balg und blutete wie ein Schwein. Sprechen konnte er nicht, weil ein Teil seiner Zunge fehlt. Armer Kerl. Er muss höllische Schmerzen gehabt haben."

Kira zitterte am ganzen Leib. Nicht etwa, weil sie noch nie einen Toten gesehen hatte, sondern weil ihr der Mantel, in den der Fremde gehüllt war, bekannt vorkam.

Ingwer fürchtete sich nicht und strich dem Toten die Haare aus dem Gesicht.

"Er trug etwas bei sich. Schätze, ihr solltet euch das ansehen. Könnt ihr lesen?"

"Blöde Frage," murmelte Gor und rieb nervös seine Hände.

"Ja, können wir. Was habt ihr?" Ingwer sah Kripp erwartungsvoll an.

"Das hatte er bei sich." Der alte Mann hielt ihr einen blutverschmierten und sorgsam gefalteten Zettel hin. "Ich kann nicht lesen, aber unser Vorarbeiter meinte, dass dies hier," er deutete auf eine wächserne Gravur in einer Ecke des Blattes, "das Fürstensymbol sei. Wenn ihr mir verratet, was drinsteht überlasse ich euch das Teil."

Ingwer sah ihre Gefährten an, die beide nickten. "Okay. So machen wir es."
Sie faltete das feuchte Dokument auseinander. Die Schriftzeichen waren kaum zu entziffern. Entnervt gab sie Kira den Brief. "Versuch Du es. Ich kann das Gekritzel nicht lesen."

Kira las langsam und liess sich Zeit. Ab und an schüttelte sie den Kopf, so als ob sie damit das Durcheinander vor sich ordnen könnte.

"Ich habs geahnt! Wir kennen den Mann. Erinnert ihr euch an den Vermummten, der uns in der Stadt geholfen hat, als wir überfallen wurden? Ich denke, das ist er. Der Umhang kam mir gleich bekannt vor."

Jack sah sich die Gestalt genauer an und nickte schließlich heftig. "Jetzt wo Du es sagst. Aber erzähl endlich und mach es nicht so spannend."

"Lieber Zodiak,

Du warst mir immer ein guter Freund und verlässliche Hilfe. Wenn ich Dir auch sicher den einen oder anderen Gefallen schulde, so möchte ich Dich trotzdem noch einmal in einem dringenden Fall um Unterstützung bitten. Mir bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit, mich selbst darum zu kümmern.
Seit heute sind drei neue Sucher in meine Dienste getreten. Du erinnerst Dich sicher an unser letztes Gespräch. Details darf ich nicht preisgeben. Was ich sagen kann ist, dass sie über Kräfte verfügen, die in den falschen Händen Furchbares anzurichten imstande sind. Zum Glück wissen die drei noch zu wenig, als dass sie einschätzen könnten, wie stark sie sind. Aber sie lernen schnell...

Es wäre wunderbar, wenn Du dich an ihre Fersen heften und auf sie acht geben könntest. Ich vertraue da ganz Deinem Instinkt und Deiner Erfahrung. Du wirst wissen, was zu tun ist. Sorge dafür, dass den Suchern nichts geschieht, ja? Ich wäre Dir auf ewig dankbar.
                                          Grüße, Quin"

"Das erklärt Einiges", sagte Ingwer, nachdem Kira zu Ende gelesen hatte. "Ich wüsste gerne, wovor er uns beschützen sollte. Oder vor wem. Tun kann er das jetzt nicht mehr. Sind wir in Gefahr? Das macht mir Angst..."

"Halunken gibt es überall, Kinder. Gewöhnt euch dran." Der alte Kripp bedeutete den Anwesenden, mit tragen zu helfen. "Wir sollten ihn begraben. Hier kann er nicht bleiben. Lockt Getier an und obendrein stinkt er ziemlich."

Gemeinsam begruben sie ihn an einer ruhigen Stelle abseits der Wege. Jack sprach ein Abschiedsgebet. Kira überraschte, dass er passende Worte für das Geschehene fand, obwohl er sich gerne mal vulgär ausdrückte. Danach schwiegen sie, um dem Toten zu gedenken. An diesem Tage fielen nicht mehr viele Worte. Jeder hing seinen Gedanken nach. Gor teilte ihnen hin und wieder Aufgaben im Haushalt zu und gab sich Mühe, diese zu erklären. Das lenkte die drei ein wenig ab, bis sie das Grauen der Furcht am frühen Abend in den Schlaf trieb.

Sie blieben insgesamt vier Tage. Weder von den Priestern noch von Johan kam in dieser Zeit ein Lebenszeichen. Die Zeit nutzten sie, um die Hütte etwas auszubessern. Gor ging tagsüber über seiner Arbeit nach, bei der Jack ihm half. Abends war er meist erschöpft und freute sich, wenn er das Essen nicht selbst zubereiten musste.

Am Morgen des fünften Tages beschlossen die Sucher, nach Arwan zurückzukehren. Die Ungewissheit machte vor allem Ingwer wahnsinnig, die am liebsten sofort alles getan hätte, um ihre Tante wiederzufinden. Aber das ging nicht. Noch nicht.

Gor schlug vor, sie getarnt in einem Zug mit Brennmaterial durch die Tore zu schleusen. Nachdem die Sucher eingewilligt hatten, verschwand er, um Gespräche mit Freunden zu führen. Am frühen Nachmittag dann lagen die drei Sucher verborgen unter einem Stapel wasserdichter Öltücher und traten über die gleiche unebene Straße die Rückreise an. Als sie endlich wohlbehalten in Arwan ankamen, wurde es langsam dunkel.


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