Ringe, Bücher und ein Auftrag

"Jeder Neuling bekommt einen metallenen Ring, in den das Symbol der Sucher eingraviert ist."
Sie nahm vorsichtig eines der Schmuckstücke heraus. Ein Zettel war daran festgebunden. Kira konnte ihren Namen lesen. Der Ring war schlicht, dünn und von mattschwarzer Farbe. Ein fein gearbeitetes Auge mit einem merkwürdigen Zeichen befand sich auf seinem Rücken.

"Sobald ihr den Ring aufsetzt wird er enger und verbindet sich untrennbar mit eurem Finger. Ihr könnt ihn danach nicht mehr entfernen."
Ingwer beugte sich vor. "Wo ist mein Ring? Gib ihn mir bitte." Quinia entnahm einen Ring und gab ihr diesen.
"Es wird kurz wehtun. Erschreckt euch nicht."
Als Jack sein Exemplar überreicht bekam, zögerte er. Kira drehte ihn langsam hin und her, als ob sie ihm dadurch ein Geheimnis entlocken könnte.
Einen Sekundenbruchteil später zuckte sie heftig zusammen, als Ingwer aufschrie. Diese hatte den Ring aufgesetzt und rieb mit verzerrtem Gesicht ihren geröteten Finger. Das dünne Metall war fast vollständig mit ihm verschmolzen. Nur die Linien des Auges waren als Erhöhung noch gut zu sehen. Der Geruch von verbrannter Haut lag schwer in der Luft.

Ingwer lief eine Träne die Wange herunter. Sie griff nach ihrer Tasse und kippt Flüssigkeit auf die schmerzende Stelle: "Du hättest mir sagen können, dass es wie Feuer brennt!"
"Wozu soll das gut sein? Reicht es nicht, wenn wir eine Kette mit dem Auge tragen? Damit sieht jeder, wer wir sind."
"Unter normalen Umständen würde das reichen, Jack. Darf ich?" Sie bedeutete Kira ihr den Ring zu geben.

"Dieser Ring ist nicht nur ein Erkennungsmerkmal. Auf euren Reisen werdet ihr in die Situation kommen, euch Dinge kaufen zu müssen. Ihr besitzt kein Geld und könnt mit dem Ring bezahlen. Um das zu tun, drückt ihr das Symbol auf die Rechnung, die ihr bekommt."
Die Fürstin ahmte eine Stempelbewegung nach. "Dort erscheint ein Abdruck des Auges. Der Wirt legt dem Beiwart des Schatzmeisters diese vor und bekommt sein Geld erstattet. Einen Stift benötigt ihr nicht."

Quinia gab Kira ihren Ring zurück. Diese hatte aufmerksam zugehört, nahm das Schmuckstück entgegen und biss die Zähne zusammen. Zögerlich streifte sie ihn über. Sofort kroch stechende Hitze durch die Adern ihrer Hand und es zischte kurz.

Als es vorbei war, ertastete sie die Stelle, an der der Ring saß. Es fühlte sich merkwürdig kühl an. Erleichtert sah sie Ingwer an, die überrascht schien, dass sie ruhig geblieben war. "Halb so wild." Ihr fiel auf, dass sich etwas Plumpschneckenschleim an ihrem Finger befand. Vielleicht hatte das die Verbrennung abgeschwächt.

"Jack?" Seine Finger zitterten, als er aufsah. "Was gibts?"
"Du musst Dich nicht fürchten. Hier. Probier das." Sie reicht ihm die Dose mit dem Schleim. Jack rümpfte angewidert die Nase. "Das riecht ja ekelig. Was ist das?"
Quinia beugte sich neugierig vor, entnahm ein wenig von dem Inhalt und verrieb die zähe Flüssigkeit in ihrer Hand: "Das ist Plumpschneckenschleim, Jack. Er kühlt und lindert Verbrennungen. Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen? Das war ein guter Einfall, Kira. Hast Du ihn stets dabei?"
"Ja. Aber er ist schwer zu bekommen."
"Ich kenne einen Händler am Markt der ihn verkauft. Er heißt Minco. Du findest ihn an Markttagen nahe des Wachstandes."
"Kann ich bei ihm mit dem Ring bezahlen?"
"Das ist kein Problem. Er verkauft übrigens auch hervorragenden Tee."

Jack schmierte seinen Finger ein, steckte den Ring an und verzog trotz der Schmerzen keine Miene: "So geht das!"
"Gut, ihr drei. Kommen wir zu den Regeln, die für alle Sucher gelten."
Sie holte aus der Box drei handgroße Holztafeln, auf denen etwas geschrieben stand, hervor und verteilte sie.
"Das hier ist der Kodex der Sucher. Jeder von euch muss diesen Regeln folgen. Sie sind überaus wichtig. Ich weiß, dass ihr nicht gut lesen könnt, daher lasst mich zusammenfassen, was darauf steht."

Sie nippte an ihrer Tasse bevor sie mit ernster Miene fortfuhr: "Das Wichtigste ist, dass ihr lernt, eure Kräfte zu beherrschen. Nur so könnt ihr verhindern, dass ihr euch oder anderen schadet. Sicher ahnt ihr, was ich damit meine. Das gilt immer und auch dann, wenn ihr glaubt, alles zu können. Junge Sucher neigen dazu, sich zu überschätzen."
Sie warf Jack einen kurzen Blick zu, der verlegen auf den Boden sah.
"Ihr dürft eure Kräfte nie nur zum persönlichen Vorteil einsetzen, es sei denn, euer Leben ist bedroht. Ihr dürft anderen nie Schaden zufügen, es sei denn, ihr verteidigt euch oder andere vor Unrecht. Soweit klar?"

"Das ist leicht Tante! Findet ihr nicht? Warum sollten wir jemandem weh tun?" Ingwer setzte sich im Schneidersitz auf den Sessel und sah neugierig in die Runde.

Kira hatte auf die Holztafel gestarrt und sah kurz auf: "Sich das zu merken ist nicht schwer. Es wird anstrengend sein, sich daran zu halten. Manchmal wenn ich meine Kraft eingesetzt habe, fühle ich mich gut und möchte am liebsten weitermachen, auch wenn es Schaden anrichtet."
"Genau darum geht es. Wer stark ist neigt dazu anderen zu zeigen, wie stark. Kira, möchtest Du versuchen, die übrigen Regeln zu lesen und uns von ihnen zu erzählen?" Kiras Wangen röteten sich. "Sicher, aber ich werde Zeit brauchen."
"Das ist gar kein Problem."

Geduldig warteten alle, bis Kira am Ende der Tafel angelangt war. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich. "Was ich verstanden habe ist, dass wir anderen Suchern helfen sollen. Die Vorteile die wir als Sucher haben, dürfen wir nicht ausnutzen und...", sie las den letzten Abschnitt erneut "wir sollen unsere Kräfte sparsam einsetzen, um uns selbst zu schützen."

"Sehr schön. Habt ihr alle Regeln verstanden?" Ingwer nestelte nervös an ihren Haarspitzen. "Nein, Tante. Warum sollen wir unsere Kräfte nur selten benutzen?"

Jack hatte eine Idee: "Meinem Vater habe ich geholfen, indem ich das Getreide wachsen ließ. Unsere Ernte war üppiger auch in schlechten Jahren. War es falsch, das zu tun?"
"Mach Dir darüber keine Sorgen. Noch nicht." Quinia bekam einen kurzen, heftigen Hustenanfall. Als er vorbei war, erläuterte sie: "Warum diese letzte Regel wichtig ist, erfahrt ihr früh genug. Hauptsache, ihr vergesst sie nicht."

Die Fürstin erhob sich und holte vom großen Tisch drei in Leder eingebundene, dicke Bücher, die so groß waren wie zwei nebeneinander gelegte Hände. Auf dem Rücken standen ihre Namen. Sie überreichte Jack, Kira und Ingwer ein Exemplar nebst mehrerer Stifte in einem schwarzen Etui. Das Leder fühlte sich weich und kühl an.

"Ich habt euch sicher gefragt, welche Aufgaben ein Sucher hat und was ihr in der nächsten Zeit tun sollt. Im ersten Jahr gilt es drei Dinge zu beachten. Erstens, ihr müsst lesen und schreiben lernen."
Jack verdrehte die Augen und schüttelte langsam den Kopf: "Um den Schreibkram hat sich mein Vater gekümmert. Wenn er mal da war. Ich verstehe diese Zeichen einfach nicht." "Das werden wir schaffen Jack." Ingwer sah ihn zuversichtlich an: "Es soll nicht schwer sein, wenn man sich Mühe gibt."
Die Fürstin nickte zustimmend. "Zweitens, was ihr erlebt, schreibt in das Buch. Das ist nur möglich, wenn die Zeichen und Wörter richtig zu gebrauchen versteht. Wir nennen es nahfernes Tagebuch, denn was ihr dort hineinschreibt, kann ich lesen. Kommt mit."

Sie ging hinüber zum Schreibtisch und zog die oberste Schublade heraus. Darin befanden sich drei Bücher, die genauso aussahen, wie die drei gezeigten. Das linke, Kiras Name stand neben einem Rautensymbol auf dem Rücken, entnahm sie, legte es auf den Tisch und schlug die erste Seite auf. Sie war leer.
"Kira. Nimm diesen Stift und schreibe etwas in das Buch, das ich Dir gerade gegeben habe."
"Irgendetwas?"
"Igendetwas."
Kira überlegte und schrieb besonders langsam, um beobachten zu können, was in Quinias Exemplar geschah. Wie von Geisterhand erschienen dort die gleichen Buchstaben. Wie ein perfektes Abbild. Sie strahlte.

"Das ist ja unglaublich! Wie ist das möglich?" Jack und Ingwer staunten ungläubig.
"Die Herstellung dieser Bücher ist gefährlich und dauert lange. Mehr kann ich euch nicht sagen. Gebt gut auf sie acht. Alles was euch beschäftigt und ängstigt, alles, was euch in Gefahr bringt, schreibt hinein. Ihr werdet vieles über das Land und über euch erfahren. Manchmal ist es zuviel, um es sich zu merken, daher notiert es."
Jack blätterte langsam in seinem Exemplar. Kira spürte, dass ihn etwas störte: "Ihr werdet die Sachen nicht weitererzählen?"
"Nein, Jack. Was nur für meine Augen bestimmt ist bleibt bei mir."

Sie räumte ihr Exemplar ein und nahm Platz. "Ich möchte, dass dieses Buch in einem Jahr voll ist. Es sieht viel aus, aber vertraut mir, es füllt sich schnell. Und ihr bekommt ein neues, wenn ihr es braucht."
"Das schaffe ich nie" lamentierte Jack. "Erst schreiben lernen und dann noch das?"
"Es sagt niemand, dass Du winzig klein oder schön schreiben sollst." Ingwer grinste und malte mit einem Stift ein lachendes Gesicht in ihr Buch.
Quinia beendete die Aufzählung: "Drittens sollt ihr eure Kräfte kennenlernen. Das ist die schwierigste Aufgabe. Damit sie gelingt, müsst ihr euch selbst kennenlernen. Alles Gute, aber auch alles Dunkle und Böse tief in euch."

Kira hatte gespannt zugehört: "Ich habe zwar noch nicht soviele Menschen getroffen, aber ich bin mir sicher, dass jeder von uns etwas Dunkles in sich trägt. Was, wenn man dafür nichts kann? Eigentlich will ich nicht wissen, was das ist. Vielleicht bin ich gar nicht die Kira, die die Natur liebt und gerne für sich ist, sondern ein Feuerteufel, der alles in Brand steckt, was er anrührt."

"Um das herauszufinden seid ihr hier. Nicht alles, was ihr erfahrt, wird spannend und schön sein. Sucher sind nicht bei allen Menschen des Landes beliebt. Die meisten Menschen wissen, dass es weise wäre, euch in Ruhe zu lassen, aber das tun nicht alle. Viele mögen Sucher nicht, weil sie Privilegien haben, kostenlos essen und Unterkunft bekommen und direkt von einem hochrangigen Mitglied des Stadtrates betreut werden. Neid wird euch begegnen und Angst, weil die Kräfte der Sucher sehr stark und furchteinflössend sind."

Jack wirkte gelöster als zu Beginn des Gespräches und hatte sich zurückgelehnt: "Ihr wart doch Sucherin. Welche Kraft besitzt ihr?"
Ingwer hatte die Antwort auf den Lippen, wurde aber von der Fürstin mit einem Fingerzeig daran gehindert, zu sprechen. Beleidigt starrte diese in ihr Glas.
"Wonach glaubt ihr riecht es hier?"
Kira und Jack sahen sich verwirrt an, konzentrierten sich dann aber auf die Gerüche in der Luft. Kira meldete sich zuerst: "Die Kerze dort hinten verströmt Brombeerduft. Ein bisschen Lavendel ebenfalls. Das riecht sehr gut."
"Ihr könnt Kerzen herstellen?" Jack konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Welch scharfe Beobachtungsgabe, Jack. Nein, die Kerze habe ich nicht hergestellt, das können andere besser. Der Duft ist mein Werk und meine Kraft. Ich kann Gerüche mit starken Wirkungen herstellen. Manche machen wacher, betäuben oder erhöhen den Appetit. Sie können auch töten. Keine Angst. Ihr müsst nicht die Luft anhalten, aber versprecht mir, dass ihr das niemanden erzählt. Verstanden?"
"Geht klar. Wir schweigen wie ein Grab."
Jack schwitzte leicht: "Was ist, wenn wir Mist bauen und in Gefahr sind?"
"Ihr seid auf euch gestellt. Als Sucher solltet ihr lernen, Gefahren zu vermeiden. Wenn etwas zu riskant ist oder ihr aus eurem Schlamassel nicht herausfindet, helfe ich, wenn ich davon etwas mitbekomme. Also immer fleissig schreiben."

Sie lächelte spitzbübisch. "Denkt nicht, dass eure Handlungen folgenlos sind, nur weil ich eure Mentorin bin. Ich muss allen Einwohnern der Stadt gegenüber neutral sein. Geht weise mit euren Möglichkeiten um und lernt, verantwortlich für euch zu sein."
Jack holte tief Luft und seufzte. "Irgendwie habe ich mir das anders vorgestellt. Irgendwie... weniger gefährlich." Abwehrend hob er die Arme. "Nicht dass ihr denkt, ich wäre feige."

Ingwer setzte sich gerade auf und verschränkte die Arme vor der Brust: "Wir werden das schaffen. Wenn das nicht möglich wäre, hätte man uns kaum ausgewählt, oder Tante?"
Die Fürstin schwieg. Sie wirkte auf einmal sehr ernst.
"Euer erstes Jahr beginnt heute. Am Ende der ersten zwölf Monate sehen wir uns wieder und ich werde entscheiden, ob ihr klug und reif genug für das zweite Jahr seid."

Kira hörte diese Worte nur halb. Sie dachte an ihre Familie. Was wäre, wenn sie nie wieder nach Hause kommen würde? Das klang alles anstrengend und gefährlich und wer weiß, wohin das alles führt? Kira bekam große Angst, ihre Finger zitterten unkontrolliert. Sie blickte aus dem Fenster. Der Abend hatte die Stadt in ein dunkles Wolkentuch gehüllt. Obwohl vieles für sie neu war, fühlte sie sich sicher zwischen all den Mauern und Wachen. Der Fürstin vertraute sie und allmählich machte sich in ihren Adern ein Gefühl der Zuversicht breit.

Ohne die anderen anzusehen sagte sie mit fester Stimme: "Ich glaube, wir alle haben Angst. Unsere Familien sind nicht hier und wir stehen vor einer großen Aufgabe. Mich verunsichert das. Aber wir haben Leute, die zu uns halten und uns vertrauen. Dafür sollten wir dankbar sein und uns anstrengen."
"Kira hat Recht", fuhr es aus Ingwer heraus. "Wir drei bekommen das hin, egal was passiert. Wir sind Sucher! Ich glaube an uns. Auch wenn ich euch kaum kenne." Sie sprang auf und umarmte Jack und Kira herzlich. Quinia erhob sich ebenfalls.

"Es ist spät. Ihr solltet aufbrechen. Zwei Wachen werden euch zum Sturmzimmer begleiten. Dort werdet ihr wohnen. Alle, die hier ausgebildet wurden, haben dort gelebt. Ab und zu kommen ältere Sucher vorbei. Hört ihnen gut zu, wenn ihr die Gelegenheit dazu habt." Die Fürstin holte hinter ihrem Sessel drei lederne Rucksäcke hervor.

"Verstaut eure Sachen darin, sie sind wasserdicht. Johan wird euch im Zimmer willkommen heißen. Er ist ein netter Mensch den ich lange kenne und er wird euch lesen und schreiben beibringen. Manchmal kocht er auch. Wenn ihr euch ein Gericht wünschen dürft, probiert seinen Entenbraten. Der ist unglaublich gut."

Ingwer umarmte ihre Tante zum Abschied. Jack und Kira sahen sich währenddessen an, schüttelten einvernehmlich den Kopf und gaben der Fürstin förmlich die Hand. "Ich bin stolz auf euch drei. Gebt mir keinen Grund, es nicht mehr zu sein."

Die drei verließen in Begleitung zweier Wachen das prunkvolle Haus und machten sich auf den Weg. Kira zog ihren Umhang enger, es hatte sich merklich abgekühlt. Tausende Gedanken gingen ihr durch den Kopf, ohne hilfreich zu sein. Obwohl sie nicht mehr so angespannt wie zu Beginn ihres Besuches war, sehnte sie sich nach einem Bett. Irgendwie war ihr nicht mehr nach reden zumute. Jack und Ingwer sahen das ähnlich und schwiegen den ganzen Weg über.

Zehn Minuten später erreichten sie ein helles, steinernes Haus.
"Wir sind da", sagte der Wachmann, der sich als Prigg vorgestellt hatte. "Johan ist sicher noch wach. Wir wünschen eine erholsame Nacht." Beide salutierten und gingen fort.

Die drei Sucher sahen sich fragend an. Feiner Regen bedeckte das graue Pflaster der Straße.
Das Haus besaß keine Tür.

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