Hinterhalt
Gerade als sie den Eingangsbereich der Höhle erreicht hatten und das grelle Licht der Morgensonne sie blendete, blieb Ingwer urplötzlich stehen. Kira, die dicht hinter ihr gegangen war, stoppte abrupt und konnte nur knapp einen Zusammenstoß verhindern.
"Was ist los?"
"Irgendetwas stimmt nicht."
Sie griff nach ihrem Messer, kniff die Augen zusammen und ließ den Blick durch die nahe Umgebung wandern. Hohe Gräser, vereinzelte Sträucher und merkwürdig knöchern wirkende Bäume mit ausladendem Geäst erschwerten die Sicht.
Kilian, der neben ihr stand rührte sich nicht. Ein Ast in der Nähe knackte laut. Wie vom Blitz getroffen sahen die Sucher und ihr Begleiter zu der Baumgruppe, von der her das Geräusch kam. Ein in eine rote Lederkluft gehüllter Mann trat hervor. In der Hand hielt er einen kleinen Bogen aus dunklem Holz. Rasend schnell griff er in seinen Köcher, zog einen Pfeil und zielte.
Kilian schaltete am schnellsten.
"Los. Zurück in die Höhle! Das ist ein Hinterhalt!"
Kira sah aus den Augenwinkeln immer mehr Personen, die ihre Verstecke verließen. Ihr Herz raste. Sollte alles jetzt schon zu Ende sein? Sie dachte an ihre Eltern und Marko, als ein Pfeil sie um Haaresbreite verfehlte und sich tief in den Hügel bohrte.
Die übrigen Wachen stürmten an den Suchern vorbei, Schilde schützend erhoben. Diese waren an den Unterarm gebunden, so dass sie ihre Bögen nutzen konnten. Sofort eröffneten sie das Feuer auf die Angreifer.
"Ihr bleibt hier, verstanden?" Kilian sah die drei ernst an während er einen Pfeil auflegte und nach draußen sprintete.
Gellende Schreie ertönten. Jack nahm ein paar schwarze Kastanien aus seiner Hüfttasche: "Seid nicht feige. Wir können sie nicht allein kämpfen lassen. Sie sind wegen uns hier."
Kiras Magen zog sich zusammen und sie umklammerte instinktiv die Feuerlampe. "Du hast Recht. Wir werden uns am Eingang postieren und angreifen. Vielleicht kann ich Kilian unterstützen. Ich hab bereits eine Idee. Benutze Du deine Kastanien und versuche, ihre Beine zu fesseln."
"Gleichzeitig kann ich das nicht."
"Probiere es einfach. Kommt."
Kira hielt die Lampe in ihrer Hand und rannte los. Sie sah Kilian vor der Höhle, wie er auf einen der Angreifer zielte, der hinter einem Baum stehend in Deckung gegangen war. Die Soldaten hatten vor der Höhle Stellung bezogen und schossen in alle Richtungen. Befehle gingen hin und her, alle waren in Bewegung. In ihren Schilden steckten bereits zahlreiche Pfeile, die, wären sie nicht durch das stabile Holz aufgehalten worden, für schlimmere Verletzungen oder Tote gesorgt hätten.
Kira sah, dass einer der jüngeren Soldaten vor Schmerzen das Gesicht verzog. Aus seiner linken Schulter ragte ein abgebrochener Pfeilschaft heraus. Blut sickerte den Arm hinunter und färbte seine Rüstung tiefrot.
"Es sind verdammt viele! Da!" Ingwer deutete auf einen dichtgewachsenen Schattenbusch. "Drei Stück von ihnen."
Kilian hatte die Sucher erst jetzt bemerkt und schnell begriffen, dass er sie nicht wieder wegschicken konnte.
"Bleibt hinter den Schilden!" Ein weiterer Pfeil verfehlte ihn knapp und schleuderte ihn zur Seite.
Kira eilte zu ihm: "Kniet euch hin."
"Was? Im Ernst?"
"Ein Pfeil, schnell!"
Kira zückte die kleine Feuerlampe, betätigte den feucht gewordenen Zündmechanismus und nach wenigen Versuchen tanzte eine Flamme im Wind hin und her. Sie hielt den Pfeilschaft über das Feuer und konzentrierte sich, was ihr angesichts
des Tumultes nicht leicht fiel. Schnell wuchs die Flamme und entzündete schließlich den Pfeil.
"Schießt auf den vorderen Teil des Busches!"
Währenddessen hatte Jack begonnen, mit den kleinen Kastanien auf die Angreifer zu zielen. Als Kilians Männer merkten, dass die Kastanien während des Fluges zu handgroßen Geschossen heranwuchsen, nickten sie ihm anerkennend zu. Einen der Fremden traf er am Bein und setzte ihn kurzzeitig außer Gefecht.
Kilian zuckte mit den Schultern und blickte verwirrt, trat aber vor und nahm den besagten Busch ins Visier. Der Pfeil flog wie an einer Schnur gezogen und schlug geräuschlos in die ersten Verästelungen ein.
Ingwer schaltet blitzschnell: "Wir müssen sie schützen!"
Der Jäger winkte zwei der Soldaten heran, die sich vor der Sucherin aufbauten.
Kira fixierte die Flammen und spürte, wie die Wärme trotz der Entfernung ihren Körper durchflutete. Ihre Hände verkrampften bis es schmerzte, aber es gelang ihr mit Mühe und nach einer gefühlten Ewigkeit, den Busch in eine hell lodernde Feuerwand zu verwandeln. Dichter Rauch entstand, der die Sicht auf die Angreifer einschränkte.
Kilian wies drei der Soldaten an, über die linke Flanke anzugreifen. Die übrigen nutzten das Überraschungsmoment und schossen auf die abgelenkten fremden Angreifer. Zwei von ihnen wurden schwer getroffen und sackten mit verzerrtem Gesicht auf den Boden.
Kira bekam all das nur noch halb mit. Das Blut in ihren Adern kochte, alles war verschwommen und undeutlich, geriet aus den Fugen. Sie hörte jemanden dumpf ihren Namen rufen, spürte Hände, die sie stützten, Schreie in der Ferne, eine Welt, die sich drehte. Dann wurde alles dunkel.
"Kira!" Benommen öffnete sie die Augen und sah Ingwer und die anderen über sie gebeugt. Das Gesicht ihrer Mitsucherin war voller Furcht, die aber Erleichterung wich, als sie sah, dass nichts Schlimmeres passiert war.
Kira versuchte sich aufzustützen und holte Luft. Ihre Gliedmaßen gehorchten ihr nicht gleich. Ein beißender Geruch von verbrannten Pflanzen lag in der Luft, irgendwo knisterte etwas leise vor sich hin.
"Mein Kopf fühlt sich an, als ob ich gegen einen Baum gerannt wäre. Was ist passiert?"
Kilian half ihr hoch: "Was Du getan hast, war sehr beeindruckend, meine Liebe. Ich dachte erst, das geht schief, aber mit Deiner und Jacks Hilfe konnten wir die Angreifer überwältigen und gefangen nehmen. Zumindest die meisten."
Kilian senkte betroffen den Kopf und deutete auf zwei reglose Körper, die etwas abseits neben einem toten Baum lagen.
"Sind sie tot?" Kira biss sich auf die Lippen. Eigentlich kannte sie die Antwort bereits.
Jack nickte. "Das sind sie. Hätten uns ja in Ruhe lassen können. Gor war nicht unter ihnen, der feige Hund. Wenn ich den erwische."
"Seien wir froh, dass keiner unserer Leute heute gestorben ist und nicht noch mehr von denen. Viel Blut wäre vergossen worden, wenn Du und Kira sie nicht abgelenkt hätten. Ich verstehe nicht, warum sie dieses Risiko auf sich genommen haben. Sie hätten wissen müssen, dass Arwans Wachen gut ausgebildet sind. Erkennungszeichen tragen sie keine, es dürften also Söldner sein. Der da", Kilian deutet auf einen Mann mittleren Alters und langem Zopf, "besaß einen Wächterbogen, den nur die höheren Ränge der Stadtwache erhalten. Diese Waffen sind leicht und perfekt balanciert, so dass man damit auf großen Entfernungen zielsicher schießen kann. Er könnte ihn gestohlen haben, vielleicht gehört er ihm auch. Wenn wir zurück in der Stadt sind werde ich mich schlau machen. Vielleicht bekommen wir heraus, ob Arlon dahintersteckt."
Kira sah, dass Kilian fasziniert auf Johans Geschenk gestarrt hatte.
"Hier. Schaut es euch an." Sie reichte dem Jäger die Feuerlampe.
Eine Weile war er in die Mechanik der Apparatur versunken, hin und wieder nickte er kaum merklich: "So ein Ding habe ich noch nie gesehen. Das wäre das ideale Utensil für Jäger. Stellt euch das vor, nie wieder elend lange Zeit brauchen, bis ein Feuer brennt. Ganz erstaunlich. Wer immer das erdacht hat, muss außergewöhnliche Fähigkeiten besitzen. Gebt gut darauf acht. Es ist sicher ein Vermögen wert."
Ingwer schnaubte, als sie das hörte. "Immerhin hat sie etwas bekommen. Gefreut hätte ich mich über ein Geschenk auch. Nicht böse sein, Kira. Ist schon ein verdammt praktisches Ding. Bin nur etwas enttäuscht aber auch froh. Ohne das Teil bzw. Dich hätte es uns übler erwischt."
Kira winkte ab. "Nun hört schon auf. Ist nicht der Rede wert." Sie merkte, dass sie errötete. So viel Lob hatte sie noch nie bekommen, vor allem nicht für etwas, das andere bereits in Gefahr gebracht hatte. Wenn es ihr gelänge, ihre Kraft noch besser zu lenken, könnte sie sie vielleicht noch effektiver einsetzen.
Angst machte sich in ihr breit. Was, wenn der Preis für diese zerstörerische Macht das war, was sie hat ohnmächtig werden lassen? Zwar spürte sie, dass sie wieder zu Kräften kam, aber wie lange würde das gut gehen?
Nachdem sich alle erholt hatten, hoben sie mit vereinten Kräften Gräber für die Toten aus, bestatteten sie und sprachen andächtig Gebete. Jack wirkte die ganze Zeit über, ihn schien das Geschehene sehr mitzunehmen. Immer wieder blickte er auf die Leichname. Kira vermutete, dass er einen der beiden getötet hatte. Sie musterte die Körper und erschrak zutiefst. Der jüngere hatte eine riesige Wunde an der linken Kopfseite. Irgendetwas hatte offensichtlich den Schädelknochen gebrochen, Blut sickerte langsam in das Erdreich.
Kilians Stimme riss sie aus ihren Gedanken: "Lasst uns aufbrechen. Ich glaube nicht, dass ein zweiter Trupp hier auftaucht und vermutlich wissen ihre Entführer ebenfalls nicht, wie sie die Fürstin transportieren sollen. Es wird reichen, wenn zwei meiner Männer hier bleiben und nach dem Rechten sehen. Die übrigen nehmen die nördliche Route durch den angrenzenden Wald. Das dauert zwar länger, ist aber nicht so beschwerlich, vor allem nicht für unsere Gäste. Wir wollen ja nicht, dass einer versehentlich in den verborgenen Wasserlöchern des Moores ertrinkt."
Der Jäger und zwei seiner Leute gingen voran, die Gefangenen in der Mitte, stets beobachtet von den Suchern und den anderen zwei Wachen. Die Rückreise war weniger anstrengend als der Weg hin und sie erreichten Arwan gegen frühen Mittag. Nachdem sie die Angreifer abgeliefert hatten, trennten sich ihre Wege. Kilian beabsichtigte, sofort den Rat über die Geschehnisse zu unterrichten, nicht ohne die drei persönlich im Sturmfenster abzuliefern.
Johan freute sich überschwenglich und bestand darauf, dass sie ihm alles erzählten, was sie wussten. Mit seiner ruhigen Art gelang es ihm, dass die Sucher die Ereignisse des letzten Tages etwas vergessen konnte, was Jack deutlich schwer fiel. Kira traute sich nicht, ihn auf den Toten anzusprechen und hoffte, dass er das von sich aus irgendwann kundtun würde.
Für den nächsten Tag hatte Johan sich eine Überraschung einfallen lassen und Kiras Eltern zum Essen eingeladen. Diese ahnte nichts davon und war völlig perplex, als gegen Mittag Marko vor der Tür stand (die er nicht gleich gefunden hatte) und ihr direkt in die Arme fiel. Kiras Herz machte einen Hüpfer und sie war die Zeit ihrer Anwesenheit einfach nur glücklich.
Es sprudelte nur so aus ihr heraus, so dass es ihre Gäste nicht leicht hatten, zu Wort zu kommen. Ihre Mutter hatte ihr Lieblingsbrot mitgebracht und gemeinsam aßen sie und genossen das Wiedersehen. Kira spürte, dass das Haus und alles, was damit zusammenhing, neu für ihre Mutter und ihren Vater waren, die ein wenig unsicher wirkten, vor allem immer dann, wenn Johan Getränke brachte.
Nach einem anschließenden Marktgang, den Kira nutzte, um kleine Geschenke zu kaufen, brachte sie es kaum übers Herz, ihre Familie gehen zu lassen. Sie verabredeten ein baldiges Wiedersehen, auf das sich alle freuten.
Jack hatte am gleichen Tage seinen Vater besucht, dem es gesundheitlich nicht mehr so gut ging. Marta, eine ältere Bauerswitwe half ihm bei der Arbeit, so dass der Hof erstaunlich aufgeräumt wirkte. Lange blieb er nicht, auch wenn die neue Haushälterin nett und sein Vater ausnahmsweise mal nüchtern war. Irgendwie war seine Familie zwar hier aber irgendwie auch woanders.
Mit diesem merkwürdigen Gefühl machte er sich auf den Weg zu Kira und Ingwer. Sie hatten sich verabredet, um den Spielmannszug zu besuchen, der Halt in der Stadt machte. Eine gute Idee wie er fand, da Ingwer allein war und auch nicht immer Lust hatte, mit dem ollen Johan zu sprechen.
Die nächsten beiden Tage verliefen ohne Zwischenfälle. Gerüchte machten die Runde, dass ein Abgesandter aus Khoor in den nächsten Tagen die Ämter der Fürstin übernehmen würde, solange sie gefangen war.
Jene, die die Sucher attackierten, wurden zu Strafarbeit und langer Gefangenschaft verurteilt. Es handelte sich um ehemalige Mitglieder der Stadtwache, die die Gier in das Söldnertum getrieben hatte. Einer von ihnen schwärzte Arlon an und versicherte, dieser habe sie beauftragt und auch bezahlt. Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen.
Von Gor und dem Geflüchteten fehlte jede Spur. Die Hütte des Torfstechers wurde durchsucht, vergebens. Einige der Gegenstände, an die sich die Sucher erinnern konnten, fehlten, so dass der Hauptmann der Wache davon ausging, dass er das Stadtgebiet verlassen hatte.
Am vierten Tag nach ihrer Rückkehr bekamen sie Besuch von Carl Windfall. Dieser wurde vom Rat beauftragt, die Bewachung eines Händlertrosses, der wertvolle Seide in die westlichen Regionen transportierte zu koordinieren und hatte Kilian an seiner Statt entsandt, da ein größerer Teil der ranghöheren Soldaten mit ihm gegangen war. Seine Geschichte machte Ingwer neue Hoffnung, die Fürstin doch noch befreien zu können.
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