Alpträume

Am nächsten Morgen begleiteten sie Johan auf den Markt und halfen, die Einkäufe zu tätigen. Aus Zufall trafen sie auf Lea, die sich erkundigte, wie es ihnen ginge und aufmerksam zuhörte. Kira fühlte sich in ihrer Nähe wohl. Lea schien ein ehrlicher und herzlicher Mensch zu sein. Vor allem ihre Direktheit gefiel Kira ihr. Auch Ingwer und Jack freuten sich über das Zusammentreffen und alle tratschten über dies und das.

Auf dem Rückweg erzählten sie Johan von ihrer ungewöhnlichen abendlichen Begegnung. Wer derjenige war, der sie gewarnt hatte, wusste Johan nicht. Auch seine Kleidung konnte er nicht zuordnen. Er riet den dreien, wachsam zu bleiben und in der Öffentlichkeit nicht über ihre Fähigkeiten zu sprechen. Damit war das Thema erledigt.

Gemeinsam kochten sie einen köstlichen Eintopf, aßen in Ruhe und lernten anschließend. Am Nachmittag beschlossen sie, Quinia zu besuchen. Vom Eintopf war noch einiges übrig und weil Ingwer zu berichten wusste, dass ihre Tante nicht immer zum essen kam, hatten sie eine große Portion eingepackt. Als sie am Fürstensitz ankam teilten die Wachen ihnen mit, dass Quinia nicht da sei und sie den Weg umsonst auf sich genommen hatten. Enttäuscht kehrten sie um, nicht ohne den Wachen das Essen zu überlassen.

In einer kleinen Gasse parallel zum Marktplatz sahen sie einen angetrunkenen Mann, der große Probleme hatte, sich auf den Beinen zu halten. Er trug saubere und geschmackvolle, für die Jahreszeit etwas zu dicke Kleidung.

Eine nicht minder stilvoll angezogene Frau gleichen Alters hatte sich eingehakt. Bei näherem Hinsehen stützte sie ihn, damit er nicht fiel. Der Mann schüttelte immerzu den Kopf, riss die Hände in den Himmel und schlug alle paar Meter kraftlos gegen eine Hauswand.

Als die drei sich näherten bemerkten sie, dass sein Blick glasig und seine Kleidung schon bessere Tage gesehen hatte. Sie war schmutzig und voller roter Flecken. Krächzend klagte er:
"Alles ist weg! Einfach alles. Man sollte es in den Abgrund stoßen dieses Diebespack."
Kurzzeitig fand er sein Gleichgewicht, verlor es aber wieder und taumelte auf die drei zu.
Die Frau winkte hektisch herüber. "Helft mir".
Ingwer nahm den Arm des Mannes und verzog das Gesicht. Starker Alkoholgeruch lag in der Luft. "Ihr solltet weniger trinken."
"Ihr habt keine Ahnung, was er durchgemacht hat. Da hinten steht eine Bank. Wir bringen ihn dort hin."
Der Mann schien dazu wenig bereit zu sein. Er ruderte wild mit den Armen und fiel beinahe über seine eigenen Beine. Erst als Jack mithalf, gelang es ihnen, seinen schweren Körper in eine aufrechte Lage zu bringen.
Sekunden rührte er sich nicht. "Danke."

Die Frau band ihre lockigen hellen Haare zusammen und streckte die Hand aus. "Geld haben wir keines. Mehr als einen Händedruck zum Dank kann ich euch nicht geben."
Ihr Magen knurrte hörbar.
Ingwer reichte ihr als erste die Hand. "Gern geschehen. Habt ihr Hunger?" Jack räusperte sich überlaut, bevor er es ihr gleich tat.
"Das wäre..." Die Fremde brachte den Satz nicht zu Ende. Mit einer geschickten Bewegung drehte sie Jacks Handrücken nach oben und befühlte die Wölbung des Ringes.
"Was glotzt Du, Miriam?," jammerte der Fremde und lehnte sich nach vorne. "Guck mal Torn. Das sind Sucher. Leibhaftige."
"Sieh einer an." Urplötzlich schnellte seine Hand vor und krallte sich um Jacks Handgelenk, so dass dieser erschrak.

"Lasst ihn los!" Kira Stimme überschlug sich. Hilfe war nirgends zu sehen. Wo sind die blöden Wachen, wenn man sie brauchte? Beherzt zerrte sie am Arm des Fremden und merkte, dass sie dessen eisenharten Griff nichts entgegenzusetzen hatte. Plötzlich blitzte in der linken Hand der Frau ein langes Messer auf.
Einen Atemzug später zeigte die dünne Spitze auf Ingwers Hals.
Kira wagte es nicht, sich zu rühren. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Miriam an. "Eine dumme Bewegung, und das Mädchen hatte ein Leben. Ein beneidenswertes zumal."

Torn nestelte unbeholfen an seinem Gürtel herum und zog ein stumpfes Messer aus einer kleinen Höhlung. Grinsend setzte er die gebogene Klinge an Jacks Fingergelenk an. Dieser ahnte, was ihm drohte. Voller Panik sah er zwischen Ingwers angsterfülltem Gesicht und seinem noch vorhandenen Ring hin und her.
"Das könnt ihr nicht machen!" Jacks Lippen bebten. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte und wenig Zeit, darüber nachzudenken. Der Druck des kalten Stahls wurde immer unerträglicher. Warmes Blut trat hervor.

Kira entdeckte einen kleinen Jungen, der alles aus sicherer Entfernung beobachtete. Sein Mund stand weit auf und er rührte sich nicht. Als er merkte, dass sie ihn ansah, rannte er los.
"Ihr solltet den Jungen loslassen, wenn ihr eure Hand nicht verlieren wollt." Torn unterbrach sein Werk und sah auf.
In einem tiefen Hauseingang zwanzig Schritt entfernt stand ein Mann, die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Er hielt einen kleinen Bogen gespannt und rührte sich nicht.
"Unglaublich." Kira atmete tief ein und spürte, wie ihre Anspannung weniger wurde. Das musste der Mann sein, der sie gestern Abend gewarnt hatte. Obwohl sie die Person nur einmal gesehen hatte, fühlte sie sich sicherer.
"Wer bist Du, großer Unbekannter?" Torn kniff die Augen zusammen. "Ich kaufe Dir was Du möchtest, wenn Du verschwindest."
"Bemüh Dich nicht. Ich benötige nichts als deinen Kopf, solltest Du nicht tun was ich sage." Der Mann spannte den Bogen und hielt ihn auf Kopfhöhe.
Miriam senkte den Dolch und zischte: "Komm Torn. Das bringt nichts. Wir holen sie uns ein anderes Mal."
Plötzlich zog Torn erneut an Jacks Finger, setzte an, stieß aber, bevor er weiterschneiden konnte, einen gellenden Schrei aus. Ein schmaler Pfeil hatte die Hand durchbohrt, die Jacks Finger gehalten hatte. Dieser riss sich los, stieß seinen Peiniger weg und wich nach hinten.
Torn begann jämmerlich zu wimmern und starrte ungläubig auf die klaffende Wunde.
"Halt die Klappe." Miriam warf den dreien einen hasserfüllten Blick zu. "Wir sehen uns noch."
"Ich hoffe nicht." Ingwer stemmte die Hände in die Hüften. Ihre Furcht war verflogen, obwohl ihre Gesichtsfarbe etwas anderes verriet.

Kira sah Miriam an, die völlig verunsichert wirkte. Sie versuchte, Torn zu beruhigen und zugleich seinen Körper zu stützen, was ihr kaum gelang.
"Ihr solltet zusehen, dass die Wunde versorgt wird." Nachdem Kira das gesagt hatte, sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Der Fremde ließ seinen Bogen sinken und wandte sich um.
"Wartet. Wir möchten euch danken."
Langsam drehte er sich um und legte zwei Finger zum Gruß an sein Herz.
"Es war mir eine Freude Sucher. Passt auf eure Finger auf. Es gibt Menschen, die dafür töten."
"Wie heißt ihr? Nun sagt schon!" Jack, der seinen verletzten Finger drückte, machte Anstalten, hinter ihm herzurennen, sah aber ein, dass es aussichtslos war. Er war viel größer und Jack würde ihn nicht einholen können.

Miriam und Torn schlichen davon. Ingwers Knie zitterten und sie stützte sich bei Jack ab: "Langsam habe ich die Nase voll. Das Leben habe ich mir anders vorgestellt."
"Ich denke wir müssen uns Mühe geben, nicht erkannt zu werden. Johan hat uns gewarnt. So wie es aussieht, gibt es Menschen, die uns ausnehmen wollen und die es nicht interessiert, in wessen Auftrag wir unterwegs sind." Kira sah ihre Gefährten an.
Beiden schauten betreten zu Boden. "Du klingst wie meine Mutter, als sie noch lebte, Kira. Hoffentlich findet sie in den Armen Admirs Frieden." Jack blickte auf seinen Finger. Die Blutung ging zurück.
Ingwer legte ihre Hand auf Jacks Schulter. "Sie war sicher ein guter Mensch."
"Wenn wir zurück sind, mache ich Dir einen Verband aus Heilkräutern damit es sich nicht entzündet."
"Das klingt gut. Es brennt ein wenig. Was machen wir mit den beiden? Sollen wir den Wachen Bescheid geben?"
"Lasst sie. Die haben ihre Lektion gelernt und ich bin gespannt was Tante sagt, wenn ich das aufschreibe. Begeistert wird sie nicht sein. Hätten wir unsere Klappen gehalten."
"Gute Idee. Die zwei werden wir hoffentlich nicht wiedersehen. Lasst uns auf den Markt gehen. Johans Auswahl an Kräutern ist überschaubar, wir sollten noch welche besorgen."

Mit wackeligem Beinen kehrten sie eine Stunde später ins Sturmzimmer zurück und notierten die Geschehnisse in ihren nahfernen Büchern. Kira half Jack indem sie schrieb, was er ihr sagte. Johan erzählten sie nach längerer Diskussion von ihrem Treffen mit Miriam und Torn. Mehr als eine hochgezogene Augenbraue hatte er für ihre Geschichte nicht über und ließ sie deutlich spüren, wie unvorsichtig sie gehandelt hatten. Bei der Versorgung von Jacks Hand half er den Suchern und versprach sich umzuhören, wer der Fremde sei. Da er sehr gut schießen konnte, wäre es möglich, dass er Jäger war oder eine militärische Ausbildung genossen hatte.

Am nächsten Tag wollte Johan sich beim Hauptmann der Wache über ihn erkundigen, musste den Suchern aber versprechen, diesem nichts von Miriam und Torn zu erzählen. Alles kam anders.

Nach Einbruch der Dämmerung hatten sich die Sucher auf ihre Zimmer zurückgezogen. Der Zwischenfall hatte alle sichtlich mitgenommen und Johan empfahl ihnen, sich auszuruhen, nachdem sie die Schreibübungen beendet hatten.
Kira blätterte lustlos in ihrem Tagebuch. Schwermut überkam sie. Ob es richtig war, mitzugehen? Zuhause war nicht alles gut und oft langweilte sie sich, weil alle sie für gefährlich hielten. Aber es war zuhause. Konnte dieser Ort hier jemals so sein, sich so anfühlen?

Viele Menschen, die Arwan bewohnten waren herzlich aber misstrauisch. Viele Fremde kamen hierher um zu handeln, Unbekannte, die seltene Waren anboten und deren Sprache ungewohnt hart klang. Manche stammten aus Tagaria, dem Reich der Krieger im Süden. Kira wusste nicht viel darüber, außer, dass dort wundersame Kräuter wuchsen. Eines davon, den gelben Pilarwurz, hatte sie heimlich in Jacks Tee gegeben. Der Markthändler sagte, es würde die Wundheilung fördern.

Sie streckte sich und schaute in Richtung Fenster. Das warme Licht der Straßenlampen, die vor wenigen Minuten entzündet wurden schien hinein. Schon am ersten Abend war Kira die enorme Helligkeit dieser hässlichen Konstrukte aufgefallen. Jack hatte erzählt, dass die eckigen Ölbehälter mit kopischem Glas verkleidet waren, um die Leuchkraft zu verstärken.
Als Kira vor Erschöpfung langsam wegzudämmerte, nahm sie eine Bewegung war.

Kira schreckte hoch. Ein dünner dunkler Schatten schob sich langsam tänzelnd am Rande des Fensters nach oben. Wie ein grotesker überlanger Finger tastete er sich vor und wuchs mit enormer Geschwindigkeit.

Aus Ingwers Zimmer nebenan ertönte ein Schrei, Gegenstände fielen um und zerbrachen. Mit einem Sprung war Kira auf den Beinen. Zu ihrem Entsetzen presste sich schwarzer Rauch unter ihrer Tür hindurch. Was in aller Welt passierte hier?

"Hilfe!" Kira riss die Tür auf. Der Rauch hatte sich auf dem gesamten Flur verteilt und bildete einen undurchsichtigen, wabernden Teppich. Vereinzelt ragten Hände aus der dunklen Schicht hervor, die nach allem griffen, was sich bewegte.

Ingwer stand kreidebleich mitten im Gang, als Jack hinausstürmte: "Was ist das für ein Zeug?"
Immer höher stieg der Rauch und es war unmöglich zu sehen, woher er kam. "Lauft herunter. Sofort!" Johans Stimme klang leicht dumpf. Ohne zögern rannten die drei Treppe zu den unteren Räumen herunter und stolperten fast übereinander.
"Hier, in die Küche. Macht schnell."
Johan stand schwer atmend und zeigte wortlos auf ein Loch im Boden. Dort, wo eigentlich ein Ecktisch mit Schneidwerkzeugen stand, lehnte eine Klappe an der Wand und gab den Blick auf eine Leiter frei.

"Was ist das für ein Rauch, Johan?" Während Kira ihre Frage stellte, lugte Jack in den Gang.
"Ich weiß nicht was hier vor sich geht. Das ist kein normaler Rauch sondern das Werk der Kraft.
Hört zu. Ihr geht da runter und folgt dem Gang 400 Schritte lang. Das Ende mündet in eine kleine Höhle westlich der Stadt. Bleibt dort, bis ich euch hole. Ihr findet dort auch Vorräte und Decken." Er drückte allen eine schmale Öllampe in die Hand. "Damit dürftet ihr ausreichend sehen. Los. Macht euch um mich keine Sorgen."
Die Mädchen stiegen zuerst hinab, Jack folgt ihnen hastig. Johan schloß behutsam die Falltür. Seine Schritte entfernten sich schnell.

"Habt ihr das gesehen? Der Nebel hatte Arme und Finger und lebte!" Ingwer war sehr aufgeregt.
Jack drehte seine Lampe heller und leuchtete in die Dunkelheit vor ihnen. Kein Geräusch war zu hören. Modriger Geruch durchzog den Gang, der flüchtig in das Erdreich gegraben wurde, aber genug Platz bot um aufrecht zu gehen.
Jack drehte sich um und kletterte ein Stück der Leiter hinauf. Seinen Kopf legte er auf die Seite: "Pssst. Seid ruhig. Vielleicht hören wir etwas."
"Los. Kommt. Ihr habt doch gehört, was Johan gesagt hat." Kira begann den Gang hinunter zugehen und machte keine Anstalten, auf die beiden zu warten.
Ingwer nickte bestätigend. "Wir sollten keine Zeit verlieren. Es gefällt mir hier nicht. Lasst uns zum Ausgang gehen."

Die drei machten sich auf den Weg. Eine halbe Ewigkeit liefen gerade aus. Ab und an hatten sich Teile der Decke gelöst und waren mitten auf den Gang gefallen. Wenige Minuten später bog der Gang nach unten ab. Kira merkte dies als erste.
Irgendwann erreichten sie eine hölzerne Tür, die einen Durchgang verdeckte. Nachdem Jack sie beiseite gehoben hatte, merkten die drei, dass das Holz auf der Innenseite mit Ästen ausgekleidet war. Die Höhle war überraschend geräumig und sauber. Sie lag leicht erhöht, so dass Regenwasser nicht hineingelangen konnte.

Bunte Wolldecken lagen aufgestapelt an einer der Wände, die Schlafstätten war klein aber ausreichend. Die drei fanden mehrere Portionen Pökelfleisch, Becher waren ebenfalls vorhanden.
"Ich glaube ich weiß, wo wir sind," sagte Jack. "Das ist die alte Zuflucht. Als die Anderen Arwan vor langer Zeit angriffen, floh der Fürst mit seiner Leibwache hierhin, um einer Entführung zu entgehen."
"Sind wir hier sicher?" Ingwer ließ sich auf einen der Stühle plumpsen.
"Ich denke schon. Hoffentlich müssen wir nicht lange bleiben."
Kira deutet auf einen weiteren Gang: "Kommt. Wir sehen nach, wo er hinführt."

Die Sucher erreichten nach einigen Schritten einen zweiten Raum. Knorriges Wurzelwerk bildete eine bizarre aber stabil scheinende Decke. Es war feucht hier unten und der erdige Geruch noch eine Spur intensiver als zuvor. Eine hölzerne Leiter stand festgekeilt inmitten der Höhle und endete in einem massiven ausgehöhlten Stamm. Licht fiel kaum hinein.
"Bleibt ihr hier. Ich werde mich oben umsehen." Kira reichte Ingwer ihre Lampe und stieg die Leiter hoch, die erstaunlich stabil war. Kurze Zeit verschwand ihr Körper, nachdem sie sich durch einen Spalt im Stamm gezwängt hatte, nur um eine Minute später wieder in der Höhle zu stehen.

"Die Stadt ist nicht weit entfernt. Wir befinden uns auf einem kleinen Hügel. Als ich mit Vier hierher gereist bin, sind wir in der Nähe vorbei gegangen. Euer Haus ist auch nicht weit entfernt, Jack."
Dass das Haus von Jacks Vater erleuchtet war, erwähnte sie nicht.
"Wir sollten hier warten," sagte Jack. Er wirkte müde. Kira und Ingwer nickten zustimmend. Die drei richteten ihre Schlafstätten ein und beschlossen, eine Wache aufzustellen.
Kira war zuerst dran. An den Laternen war der Ölstand ablesbar und so war es leicht festzustellen, wie lange eine Wache zu dauern hatte.
Kira hatte ihr Lampe auf den Boden gestellt, sich in eine der warmen Decken gehüllt und saß mit dem Rücken an einer der Wände, von der aus sie alles bequem überblicken konnte. Sie fror, holte sich eine weitere Decke und ertappte sich mehrfach dabei, fast einzunicken. Es gelang ihr dennoch wach zu bleiben. Jacks Schnarchen half ihr dabei. Nur das säuselnde Heulen des Windes oberhalb der Höhle war zu hören.
Einen Reim auf all das konnte sie sich nicht machen. Woher kam der Rauch? Sie hatte so etwas noch nie gesehen. Ein Test konnte es kaum sein, dafür war Johans Gesichtsausdruck viel zu ernst gewesen. Er schien selbst etwas verunsichert gewesen zu sein.

Kira zitterte. Es war unbequem und feucht hier unten. Nachdem sie Jack für die zweite Wache geweckt hatte, schloß sie die Augen. Ihre Kleidung klebte am Körper fest und die Kälte stahl sich in ihren Körper und blieb, trotz aller Decken. So kamen bis zum Morgengrauen nur wenige Stunden Erholung zusammen.
Die letzte Lampe glomm unruhig, als Ingwer die beiden weckte. Sie aßen gemeinsam und beratschlagten, wie es weitergehen könnte.
Jacks Einfall erschien allen am plausibelsten und am wenigsten gefährlich: "Lasst uns durch das Osttor gehen. Die Wachen dort wissen meist Bescheid, wenn etwas passiert ist. Eine davon kenne ich gut. Vielleicht haben die eine Idee, was geschehen ist."

Zurück durch den Tunnel zu gehen war keine Option, zumal Johan sich nicht hat blicken lassen. Die Sucher sorgten daher für Ordnung und brachen auf. Der nächtliche Regen hatte den Boden aufgeweicht und der Abstieg vom üppig bewachsenen Hügel wurde zur Rutschpartie.

Einigermaßen sicher aber durchnässt und dreckig kamen sie am Fuß des Hügels an.

Die frühe Morgensonne durchbrach die dichte Wolkendecke kaum. Händler waren nicht zu sehen, als sie die Hauptstraße erreichten. Sie passierten mehrere Höfe, auf denen bereits geschäftiges Treiben herrschte.

Kira dachte an ihre Eltern. All das hier war ihr vertraut und doch fremd. Immerhin konnte sie Zuhause in einem warmen Bett schlafen und musste nie in einer feuchten Höhle übernachten. Sie streckte sich kurz aus und sah sich um. Ihr Magen knurrte. Bis zur Stadt war es nicht mehr weit.

Ingwer deutete auf eine Baumgruppe in der Nähe. Ein Junge stand dort und winkte auffällig.
Ingwer hatte ihn bereits gesehen: "Da möchte uns jemand etwas sagen."
"Das ist Ruban. Seinen älteren Bruder kenne ich gut. Die Eltern sind Torfstecher und wohnen nördlich der Stadt. Er kann mich nicht leiden, wollte bei uns Getreide klauen. Habe ihn aber erwischt und ihm die Ohren langgezogen." Jack grinste. "Kommt."

Ruban war etwa zwölf Jahre alt. Mittellange nasse Haare hingen ihm halb ins Gesicht, so dass er eines seiner ziemlich groß wirkenden Augen zukneifen musste. Schmatzend saß er auf einem abgeholzten Baumstamm und wippte ausgelassen mit den Füßen.

Als die Sucher näher kamen, nickte er Jack zu: "Hey Fiesling. Wo hast Du denn die beiden Hübschen aufgegabelt?"
Ingwer band ihre Haare zu einem Zopf, ließ beiläufig ihren Blick durch die nahe Umgebung schweifen und sah Jack mit spitzbübischem Lächeln an: "Fiesling? Ist das dein Spitzname?"
"Red nicht Ingwer. Und Du Ruban mach gefälligst keine schlechten Witze. Wir sind befreundet, mehr nicht. Drückst Du dich vor Arbeit?"
"Sicher nicht. Ich warte auf ein Mädchen. Aber ihr drückt euch ganz schön, was? Aber was solls. Ich werd schon nix sagen."
"Wovon redest Du? Sag schon!" Kira ging einen Schritt auf ihn zu. Ruban wich sofort zurück.
"Ihr wisst es noch nicht? Die Fürstin ist spurlos verschwunden. Ratet mal, wem man die Schuld gibt."
Kiras Herz klopfte wie wild: "Uns?"
"Genau. Wie kommt es, dass ihr das nicht wisst?"
Jack ballte seine Hände zur Faust, bis sich seine Fingerknöchel röteten. "Egal. Hör zu. Wer sagt mir, dass Du uns nicht verarschst? Grund dazu hättest Du."
Ruban verschränkte die Arme. "Ihr habt wirklich keine Ahnung, was? Und ihr wollt Sucher sein? Seht her."
Er zog aus seiner Hosentasche einen mitgenommen Zettel hervor, der an mehreren Stellen eingerissen war.
"Die hingen in der ganzen Stadt verstreut. Hab den als Andenken mitgenommen. Scheiße gelaufen, was Jack?"
Langsam faltete er ihn auf und hielt ihn hoch. Die Köpfe der Sucher waren auf dem Blatt erstaunlich gut zu erkennen. Der oder die Zeichnerin verstand ihr Handwerk. Unterhalb des Bildes standen einige Worte.
"Entführer gesucht. Hohe Belohnung garantiert."
Kiras Hände zitterten. "Das ist eine riesige Sauerei. Jemand will uns was anhängen."

Ingwers starrte fassungslos auf das Blatt. Vorsichtig zeichnete ihr Finger die Konturen ihrer Abbildung nach. Sie schüttelte den Kopf und sank kraftlos zu Boden. Leises Schluchzen ließ ihr Schultern beben.
"Das gibt es doch nicht. Warum hat uns Johan nichts gesagt? Er muss es doch wissen."
Kira griff nach dem Blatt, doch Ruban zog es in letzter Sekunde zurück. Ihr Griff ging ins Leere. Wut kochte in ihr hoch und auch Jack schien um Fassung zu ringen: "Was machen wir jetzt? Wir können nicht einfach so in die Stadt marschieren. Die Leute werden uns lynchen."
"Wie wärs, wenn ihr mir ein kleines Geschenk macht, damit ich nicht aus Versehen ausplaudere, dass ich euch hier gesehen habe? Das wäre nett." Ruban steckte das Blatt wieder ein und verschränkte die Arme.
"Du mieses Früchtchen! Den Hals werde ich Dir umdrehen." Jack machte einen großen Schritt und versuchte, den hochgewachsenen Jungen festhalten. Dieser entkam dem Griff mühelos und war nach wenigen Schritten in Sicherheit.

"Das werdet ihr büßen! Hoffentlich buchten sie euch ein, ihr Schmarotzer." Er machte auf dem Absatz kehrt und sprintete los. Jacks Hand schnellte nach vorne. Einen Wimpernschlag später schoss das Gras unter Rubans Füßen in die Höhe und umklammerte seine Knöchel. Arme nach vorne schlug er wie ein nasser Sack hart auf dem Boden auf.
"Ruban!" Eine piepsige Mädchenstimme ertönte hinter ihnen.
Der unsanft Gelandete spuckte aus. "Mist! Wie peinlich." Er warf Jack einen bitterbösen Blick zu, sprang auf und klopfte sich hastig den Dreck ab.
"Wir sehen uns noch."
Er rannte an Kira und Ingwer vorbei. Über das angrenzende Feld näherte sich ein Mädchen in ihrem Alter. Als sie und Ruban sich umarmten bedeckte ihr strohblondes Haar seine Schultern. Sie war adrett und sauber gekleidet. Ein hellblaues Tuch lag locker um ihren Hals.
Ingwer, die sich etwas gefangen hatte, stand auf. "Lasst uns gehen bevor mir schlecht wird. Das ist Melory Enver, die größte Ziege auf Erden."
"Du hast recht. Lasst uns gehen. Er wird nichts sagen." Kira umarmte sie kurz. "Ihr kennt euch?"
"Nur ein wenig. Und das ist bereits zuviel."
"Ich bin sicher, ob er nicht doch plaudert. Am liebsten würde ich ihm die Zunge herausschneiden. Solange er einen Vorteil hat, würde er auch seine Großmutter verpfeifen. Faul und hinterhältig ist er."
Nachdem er Ruban eine abfällige Geste hinterhergeschmissen hatte machte er sich ohne ein weiteres Wort zu verlieren auf den Weg.
Kira fühlte sich sonderbar leer und stolperte mehrfach ungewohnter Weise über ihre Füße. Hilflosigkeit machte sich breit aber sie hatte nicht vor, diesem Gefühl allzuviel Raum zuzugestehen. Wo immer die Fürstin sein mochte, sie würden sie finden. Das war sie ihr schuldig. Sie fürchtete, was in der nahen Zukunft passieren könnte aber noch mehr ängstigte sie sich davor, sich eingestehen zu müssen, nicht alles versucht zu haben.

Zurück in der Höhle blieb jeder eine Zeit lang für sich bevor sie aufbrachen. Der Gang wirkte düsterer als zuvor, als verkünde er das Nahen einer neuen Weltordnung, die an seinem Ende Wirklichkeit würde. Kurz bevor der letzte Tropfen Öl verbraucht war, erklommen sie die Leiter und klopften an die Falltür.

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