Abschied
"Hallo Kira. Es freut mich sehr, Dich endlich aus der Nähe betrachten zu können."
Der Mann streckte ihr eine langfingrige, leicht versengte Hand entgegen. Ein dicker Silberring mit einem kreisförmigen schwarzen Symbol prangte am Zeigefinger. Kira kam das sehr bekannt vor. Trotz der verbrannten Haare an Kopf und Kinn wirkte er freundlich und gepflegt. Zögerlich reichte sie ihm die Hand. Als sich ihre Finger berührten, zuckte sie zusammen. Sie waren warm und irgendwie kalt zugleich. Hatte das Symbol nicht kurz aufgeleuchtet?
"Darf ich vorstellen?" Regher bot dem Neuankömmling einen Stuhl an, während er sprach. "Das ist Detektor 4. Er ist im Auftrag des Fürsten von Koohr gekommen und hat eine wichtige Mitteilung für uns."
Daher also das Symbol! Es war das Emblem des Fürsten. Warum war ihr das nicht sofort eingefallen? Über Koohr hatte Kira nur Geschichten gehört, meistens von Wanderern, die sie während ihrer Aufenthalte im Wald traf. Einmal sprach sie in der Nähe des kahlen Berges mit einer alten Händlerin, die bunte, geschliffene Steine verkaufte. Beide verstanden sich gut und für ein paar Beeren und Brot erzählte sie Kira, was diese wissen wollte. Weit weg und gefährlich soll die Stadt sein. Tausende Menschen leben dort, viele sind arm, aber es wohnen in seinen Vierteln auch sehr reiche Einwohner. Direkt am Meer gelegen, gäbe es dort Dinge, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Seltsame Tränke, schwere Stoffe und Gewürze.
Für Kira klang das wie ein Abenteuer und sie fragte die alte Frau ziemlich lange aus. Ihre Neugier ließ sie die Zeit vergessen und sie kehrte erst sehr spät zurück nach Hause.
Langsam legte der Fremde seinen dunklen Rucksack in eine Ecke und wandte sich Kira zu: "Du weißt, warum ich hier bin?"
Ein Schauer durchfuhr sie, als seine tiefe Stimme den Raum füllte. "Ich denke schon", brachte Kira stammelnd heraus. "Sie wollen mich mitnehmen, nicht wahr? Aber damit Sie es gleich wissen: ich gehe nicht weg. Nicht freiwillig und schon gar nicht mit Ihnen!"
Sacht legte ihre Mutter ihr die Arme um die Schulter als wollte sie sie schützen.
"Nenne mich Vier, wenn Du magst." Ruhig beugte er sich zu seinem Rucksack herunter und zog ein vergilbtes, zusammengerolltes Stück Papier hervor.
"Dein Vater hat mir ein wenig von Dir erzählt, unter anderem, dass Du lesen kannst. Das ist eine seltene und nützliche Fähigkeit. Ich habe hier einen Brief für Dich. Magst Du versuchen, ihn vorzulesen?"
Kira zögerte. Lesen konnte sie in der Tat. Ihre Mutter hatte ihr vor drei Jahren ein schweres Buch geschenkt. Es roch wunderbar und fühlte sich wertvoll an. Mit farbigen Bildern versehen erzählte es die Geschichte eines Mädchens, dass nach Jahren der Suche ihre Eltern wiederfand. Zunächst verstand sie die verwirrenden Zeichen nicht, aber nach und nach und mit der Hilfe ihres Onkels konnte sie einzelne Worte und später auch ganze Sätze lesen. Darauf war sie sehr stolz.
"Ich kann es versuchen... Vier." Was für ein merkwürdiger Name! Immerhin war er hier nicht so furcheinflößend, wie sie ihn in den Wäldern draußen kennengelernt hatte. Sie lächelte ihm aus Verlegenheit kurz zu, brach das Siegel und rollte das Dokument auf. Es enthielt ziemlich viele Sätze:
Liebe Kira,
mein Name ist Quinia. Ich bin die Regionalfürstin von Arwan, einer großen Stadt westlich Deiner Heimat. Vielleicht hast Du schon von ihr gehört, eventuell warst Du sogar schon dort.
Ich möchte Dich herzlich einladen, zu mir in die Stadt zu kommen. Detektor 4 hat mir viel über Dich erzählt. Du mußt wahrlich ein ganz besonderes junges Mädchen sein und Deine Eltern sind sicher sehr stolz auf Dich.
Kira spürte den Druck der Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter. Langsam las sie weiter. Es ging besser, als erwartet:
In Arwan wirst Du lernen, Deine Stärken, die andere bedrohlich oder gefährlich finden, kontrollieren und gezielt einsetzen zu können. Du wirst besser verstehen, wer Du bist und was Du sein könntest.
Was Du dazu benötigst sind Mut und Neugier. Mut, weil Du die verlassen musst, die Du liebst und Neugier, weil die Welt in der Du und ich leben, kompliziert ist und Du deinen eigenen Weg finden musst. Auch wenn das bedeutet, sich auf Unbekanntes und Ungewohntes einzulassen.
Kira hielt inne. 'Mutig bin ich auf jeden Fall... Neugierig erst recht.' Ihr Vater musste sie schon häufig aus brenzligen Situationen befreien. Einmal blieb sie bei einem ihrer Ausflüge in den Wald in einer Bärenfalle hängen. Ein anderes Mal probierte sie hellblaue Beeren, woraufhin ihr speiübel und schwindelig wurde, weil sie giftig waren. Vor wenigen Tagen erst bekam sie heftigen Ausschlag, weil sie nicht glauben wollte, das Pockenblätter wirklich auf der Haut brennen und Fieber verursachen.
Bei all diesen Vorfällen war immer jemand da. Was, wenn nicht? Leises Murmeln drang an Kiras Ohr. Ihre Mutter starrte auf das Papier, die Lippen bildeten unsicher die Worte, die mit schwarzer Tinte auf dem Pergament geschrieben standen. Weiter stand dort ein letzter Satz:
Wenn Du erfolgreich bist, erhält Deine Familie eine Unterkunft in der Stadt und Arbeit - und Du eine Aufgabe, die Dich erfüllt und herausfordert.
Kira ließ sich auf den Stuhl sinken und sah zwischen den Anwesenden hin und her. Vier nahm ihr langsam die Rolle aus der Hand, verstaute sie und verschränkte die Arme.
Geduldig wartete er einige Augenblicke: "Und? Wie entscheidest Du dich, Kira?" Seine dunklen Augen strahlten Ruhe aus. Er schien es nicht eilig zu haben. "Du kannst Dir Zeit lassen, wenn Du möchtest."
"Ihr könnt gern bei uns bleiben, Detektor. Solange, bis Kira sich entschieden hat." Regher nickte zur Bekräftigung seines Angebotes knapp. "Das Angebot ehrt mich Regher. Ich denke aber, das wird nicht nötig sein."
Kira zuckte bei den Worten zusammen. Sie hatte in der Tat schon öfters darüber nachgedacht, wie es woanders war. Was sollte sie schon hier? Zu oft gingen in ihrer Gegenwart Dinge in Flammen auf. Nicht nur, dass sie deswegen nicht mehr mit aufs Feld durfte. Auch wenn Besuch da war, blieb sie meist allein, manchmal im Schlafraum, manchmal auf dem Dachboden.
Ihr Vater musste schon häufiger Gegenstände bezahlen oder ersetzen, die sie zerstört hatte. Dafür konnte sie nichts und ihre Eltern waren ihr auch nicht böse, aber umso verzweifelter weil sie ihrer Tochter nicht helfen konnten.
Ohne Familie? Nur sie und die Welt. Wie es wohl hinter dem Erlenwald aussah? Aber woher wusste Vier von ihren Gedanken? Ob ihre Eltern gekränkt wären, wenn sie mitginge? Warum war alles nur so kompliziert?
Eine Weile hing sie ihren Gedanken nach. Alle schienen gespannt, wie ihre Antwort ausfallen würde. Mutter kochte in der Zwischenzeit einen ihrer berühmten Kräutertees und schenkte ein. Nur Marko lehnte ab. Seine ansonsten lebensfrohen Augen waren gerötet, es ging ihm nicht gut.
"Ich... nun ja... ich würde mitkommen. Auch wenn ich mich fürchte. Und auch, wenn ihr", sie sah ihre Familie an, "mir unendlich fehlen werdet." Kira blieb die Stimme im Hals stecken. Auf einmal wurde ihr schwindelig und hielt sich, ohne das die anderen es merkten, am Tisch fest.
"Ich habe aber eine Bedingung."
Vier hob aufmerksam den Kopf. "Was ist das für eine Bedingung?"
"Sie müssen mir garantieren, dass ich jederzeit gehen kann, egal ob ich einen Grund habe, oder nicht. Und wenn ich das tue, möchte ich hierhin zurück gebracht werden. Egal wie." "In der Sache müsste ich eigentlich erst mit der Fürstin sprechen. Aber wie ich sie kenne, wird sie nichts dagegen haben." Er klopfte Kira auf die Schulter: "Das ist eine mutige Entscheidung, die Respekt verdient. Deine Eltern werden stolz auf Dich sein."
"Du kommst doch wieder, oder?" Marko schluchzte leise und verbarg sich hinter seiner großen, selbst geschnitzten Tasse. Hastig wischte Kira sich eine Träne aus dem Gesicht und umarmte ihren Bruder.
"Sicher komme ich wieder, Marko. Pass auf Mama und Papa auf, ja? Nicht, dass sie irgendeinen Mist machen, den sie hinterher bereuen."
Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück. "Klar mache ich das! Warte mal. Hier!" In der nächsten Sekunde hielt sie Luna in der Hand.
"Das kann ich nicht annehmen!" Er hielt ihr die Figur direkt vor das Gesicht. "Du musst! Sie wird Dich beschützen, genauso wie sie auf mich aufpasst."
Vier erhob sich. "Ich schlage vor, wir warten bis zum Morgengrauen. Es ist bereits fast dunkel und Nachts sollte man ruhen, nicht reisen. Am besten, Du packst schon jetzt ein paar Sachen ein. Wir haben einen weiten Weg vor uns und sollten keine Zeit verlieren."
Die nächste halbe Stunde herrschte bedrückendes Schweigen. Kira packte, aber sie besaß nicht viel. Außer ihrer Kleidung verstaute sie in ihrer Umhängetasche ihr Buch, Luna und einen kleinen Dolch, den ihr Vater ihr geschenkt hatte. Der Tiegel mit Plumpschneckenschleim durfte natürlich auch nicht fehlen.
Zuguterletzt legte ihre Mutter ihr eine dunkle Kette mit Holzkugeln in ihre Tasche. Sie war schwer und roch nach Wald.
"Ich habe sie nie getragen, mein Schatz. Sie stammt von meiner Mutter. Einst erzählte sie mir, dass eine flüchtige Bekanntschaft aus den Eisfeldern sie ihr zum Dank schenkte. Dir steht sie viel besser. Möge sie Dir Glück bringen."
Der Abend fand ein ruhiges Ende. Alle waren erschöpft und schliefen schnell ein. Nur Kira starrte gegen die Decke und bekam kein Auge zu. Ihre Gedanken verselbständigten sich immer wieder aufs neue. Irgendwann, es war stockfinster, schlief auch sie ein, müde vor Aufregung und beruhigt durch das Flackern des Kaminfeuers.
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