Kapitel 8

Kalopeia saß grübelnd auf der versifften Matratze. Ihr Magen knurrte, sie war todmüde. Diese kahlen Betonwände schlugen ihr aufs Gemüt, und die Sehnsucht nach ihren beiden Tierchen marterte sie.

Sie verabscheute zwar Süßes schon ihr ganzes Leben lang, aber sie sollte bei Kräften bleiben. Also knabberte sie mit Todesverachtung ein paar Kekse, spülte mit reichlich Wasser nach.
Bisher hatte sie wenig getrunken, damit sie diesen grässlichen Eimer so lange wie möglich nicht benutzen musste.

Aber in ihrem Alter sollte sie ausreichend trinken. Das war ihr schon klar.

Sie ließ sich zurückfallen, lag auf dem Rücken, die Tränen liefen in ihre Ohren.
Das war ein schreckliches Gefühl.

Was hatte Marten denn dazu getrieben, sie hier einzusperren?
Sie waren einmal Freunde gewesen!

Natürlich hatten sie sich im Lauf der Zeit weniger gesehen. Aber sie hatten ja schließlich auch eigene Leben gehabt.

Er als Weiberheld, den das Morgen wenig interessierte, sie als einsame Hexe, der die Menschen so sehr am Herzen lagen.

Die einfach nicht wegsehen konnte bei all dem Leid, den Kriegen, den Verletzungen, die diese dummen Geschöpfe einander immer und immer wieder zufügten.

Ihre Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit.
Sie war als Nesthäkchen 1841 geboren, als siebte Tochter.

Ihre Eltern, Hexer Uberis und Hexe Noherna stammten beide aus angesehenen Familien, hatten es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht. Die Töchter wurden zu Hause unterrichtet, nicht nur in der Hexenkunde, sondern auch lesen, schreiben und rechnen durften sie lernen sowie Grundkenntnisse in Biologie, Geografie und Geschichte erwerben.
Ihre Schwestern heirateten alle Hexer, gründeten neue Familien.

Ariana, die mittlere der sieben, hatte es nicht leicht gehabt. Sie hatte sich in einen Nicht-Magier verliebt und er sich in sie. Obwohl die ganze Familie auf die Beiden eingeredet hatte, hatten sie nicht voneinander lassen können. Heimlich hatten sie geheiratet. Doch sie hatten nicht wahrhaben wollen, dass er nach Menschen-Art altern würde, während Alinas Schönheit von Jahr zu Jahr mehr aufgeblüht war. Hexen begannen erst ab 150 Jahren langsam älter zu erscheinen.

Damit hatte Karl nicht fertig werden können, hatte sich von Ariana getrennt. Doch nach ihm hatte sie doch noch ihr wahres Glück gefunden, mit dem Hexer Hilmar, hatte ihm zwei wunderschöne Töchter geschenkt und einen frechen Hexenbuben.

Kalopeia hatte es vorgezogen, alleine zu bleiben. Sie war von klein an ein rebellischer Geist, der schon immer seinen eigenen Weg gehen wollte. Und da war natürlich auch Marten, der sich in ihrem Kopf und in ihrem Herzen mehr eingenistet hatte, als sie es sich und vor allem den anderen je eingestanden hätte.

Ihre Familie war von Jahr zu Jahr gewachsen, Hexen-Nichten und Hexer-Neffen waren geboren worden. Immer hatte sie eine Möglichkeit gehabt, bei dem einen oder anderen Paar unterzukommen, wenn sie ermattet und ausgelaugt von ihren freiwilligen Einsätzen auf den Schlachtfeldern und in den Katastrophengebieten auf ihrem Erdteil Zuflucht gesucht hatte.

Doch immer wieder hatte es sie auch wieder hinausgezogen, dorthin, wo man ihre Hilfe gebraucht hatte, wo jede helfende Hand willkommen gewesen war.

Niemand hatte je Fragen gestellt, wenn Soldaten, die nahezu tödlich verwundet zu sein schienen, innerhalb weniger Tage geheilt waren.

Wenn sie junge Männer betreut hatte, die mit siebzehn in den letzten großen Krieg hatten ziehen müssen, noch halbe Kinder, die ihre Eltern oder ihre ersten Lieben so sehr vermissten, die noch keine Leben gehabt hatten, hatte sie auch manches Mal Wege gefunden, die Kerle nach Hause zu bringen.

Dort konnten sie sich verstecken, bis die Kapitulation endlich Wahrheit geworden war.
Sie hatte sich so verausgabt manches Mal, wenn sie Essen gehext hatte, damit die Soldaten in den Schützengräben um Stalingrad wenigstens nicht auch noch an Hunger sterben mussten.

Oft waren Berge von warmen Decken aufgetaucht, die sicher viele vor dem Erfrieren bewahrt hatten. Aber all das hatte an ihren Kräften gezehrt.
Dann gab es viele Jahre Frieden, sie konnte sich ihrem Hauptprojekt, ihrem Lebensinhalt widmen.

Nun gab es wieder Krieg in Europa, ein größenwahnsinniger Diktator hatte beschlossen, ein unabhängiges Land anzugreifen - ohne ersichtlichen Grund, einfach weil er es konnte. Ihre zahlreichen Nichten und Neffen, Großnichten und Großneffen, Urgroßnichten und Urgroßneffen waren seitdem ununterbrochen im Einsatz, hexten bis zur Erschöpfung, um die Menschen zu unterstützen, die durch die Willkür eines Mannes in tiefste Not gestürzt worden waren.

Sie selbst musste in ihr Häuschen zurück, sie musste dringend zu Ende bringen, was sie begonnen hatte, war so dicht davor.

Was hatte Marten denn dazu getrieben, sie hier einzusperren?
Was hatte er denn davon?
Sie verstand den Sinn seines Handelns nicht im Geringsten.
Wenn er mit ihr gesprochen hätte, hätten sie sich doch zusammentun können!
Ihr Werk nützte ihm doch gar nichts.

Außer, er wollte um alles in der Welt verhindern, dass sie ihr Ziel erreichte.
Aber warum?

Langsam begann sie zu zweifeln, dass der Übeltäter wirklich ihr Freund aus jungen Jahren gewesen war.
Sie war eine sehr logisch denkende Hexe, und Marten passte eigentlich gar nicht in das Bild eines Entführers aus niedrigen Beweggründen.

Aber er wer war es dann gewesen?

Es musste ein Zauberer sein, der gewissenlos alle Regeln der Magier ignorierte. Der auch sehr viel dadurch riskierte. Sie war nicht mehr sonderlich informiert, wer dem alten Zirkel noch angehörte, hatte sich in den letzten Jahren mehr und mehr in ihre Hexenküche zurückgezogen. Sie musste es schaffen, alles fertig zu bringen, hatte auch einen bösen Rückschlag hinnehmen müssen, weil sie in die falsche Richtung gedacht hatte.

Unruhig ging sie auf und ab. Wenn sie wenigstens ihr Amulett hätte!

Aber natürlich war ihr Entführer nicht dumm.
Sie hatte so viel Hoffnung auf Rosie, Xasabra und Arosa gesetzt, aber wie sollten die drei sie denn finden?

Blöderweise hatte sie ihre geliebten Tiere in ihrem Brief auch noch vor Marten gewarnt! Da war sie wahrscheinlich total übermüdet gewesen, hatte nur gefühlt, dass die Aura eines Zauberers zu nah an ihre Hütte gekommen war, und er war nun mal der Einzige, der in ihrer Nähe wohnte.

Hoffentlich kam sie bald wieder nach Hause. Ihre Pflanzen, die sie zwar gut gewässert hatte, bis auf die ganz kleinen, die sie an dem verhängnisvollen Abend noch hatte gießen wollen, würden etwa eine Woche ganz gut überleben können. Würde sie innerhalb dieser Zeit nicht befreit, wäre die Arbeit von Jahren zerstört.

Wut stieg in ihr hoch.
Sie donnerte ihre Faust gegen die schwere Holztüre. „Lass mich raus, du Satansbraten!", brüllte sie lauter als je in ihrem Leben.

Ein Lachen auf der anderen Seite ließ ihr Herz für einen Augenblick gefrieren. Denn dieses Lachen kannte sie nur zu gut.

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9750 Wörter bis hier
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