Kapitel 6

Rosies Magen zog sich zusammen. Ihre Erfahrungen mit Zauberern gingen gegen Null.
Als Kind hatte sie die eine oder andere Geschichte gelesen, aber das war schon etwas anderes, als leibhaftig mit einem zu tun zu haben.

Das wurde ihr eben so richtig bewusst.
„Scheiße!", stieß Arosa hervor.
„Wo sie recht hat, hat sie recht!", stimmte Xasabra zu – was den Ernst der Lage sehr deutlich machte. Wenn die Krähe dieses Wort unkommentiert stehen ließ, würde das alles wohl nicht ungefährlich sein.

Rosie versuchte sich zu sammeln, logisches Denken zuzulassen. Die Tiere waren zwar sehr klug, aber sie waren viel zu persönlich involviert.
Ihre rechte Hand kraulte die Katze hinter den Ohren, die linke strich vorsichtig über die Federn der Krähe. Sie musste die beide beruhigen – und sich auch.

Schließlich fand sie wieder zu ihren Gedanken zurück, die sie auch gleich aussprach.

„Also! Kalopeia hat euch vor Marten gewarnt, in diesem Brief. Sie hat irgendetwas befürchtet. Das ist die eine Seite." Als kein Widerspruch kam, fuhr sie fort: „Andererseits sitzt dieser Marten seelenruhig drüben im Sessel und hält ein Nickerchen. Das würde er doch nicht tun, wenn er Kalopeia etwas angetan hätte!"

Die Katze sah sie bewundernd an, die Krähe nickte zögerlich, aber zustimmend.

Dann hob sie den pechschwarzen Kopf, ihre Perlenaugen funkelten tatendurstig. „Ich fliege zu ihm und frage ihn!", gab sie mit aufgeplusterter Brust von sich. „Ich kann ihm am leichtesten entkommen, wenn du dich täuschst!"

Rosie dachte eine Weile nach, hatte aber keinen besseren Plan.
„Okay!" stimmte sie zu. „Aber du schreist ganz laut, wenn du in Gefahr bist!" Im Stillen hoffte sie, dass Marten das Problem Krähe nicht mit einem Zauberspruch löste.

Jetzt bereute sie, dass sie nie Lust gehabt hatte, Harry-Potter-Bücher zu lesen oder wenigstens die Filme zu gucken. Hätte sie das getan, wäre sie sicher etwas informierter über Magier und das, was sie zu tun vermochten.

Sie ließ den Vogel, der ihr schon so sehr ans Herz gewachsen war, mit einem gewaltigen Magengrummeln zur Haustür hinaus. Arosa drückte sich fest an sie, wollte auf den Arm genommen werden.

*

Xasabra flog schnell über die Straße zu der Hütte, die ihr Zuhause war. Marten saß noch immer auf dem Sessel, war etwas mehr in sich zusammengesunken, die Lehne weiter hinuntergerutscht.

Als die Krähe nicht gerade sanft auf seinen Oberschenkeln landete, erschrak er bis ins Mark, konnte sich gerade noch an die Armlehmen klammern, um nicht hart auf dem Boden zu landen.

Xasabra krallte sich fest, um nicht abzustürzen, krächzte ihn, so laut sie konnte, an: „Was willst du hier? Wo ist Kalopeia? Was hast du mit ihr gemacht?"
Marten brauchte eine Weile, bis er sich von dem Schock erholt hatte. „Ich, ich, weiß nicht. Ich habe auf sie gewartet! Ich dachte, sie sei mit euch ausgegangen!" stammelte er schließlich. „Aber die Türe war nicht verschlossen, da habe ich gedacht, ich passe auf das Haus auf."

Xasabra ließ sich überzeugen. Der Zauberer wirkte ehrlich auf sie. Sie machte es sich auf der Kommode gegenüber gemütlich, dachte nach. Dann beschloss sie, ihm in groben Zügen alles zu erzählen: Von Kalopeias Brief, ihren Befürchtungen, von Rosie und ihren gemeinsamen Bemühungen, ihn zu finden.

„Sie hat wirklich Angst vor mir gehabt?" Marten sah die Krähe traurig an. „Sie hat nie verstanden, wie gern ich sie hatte, all die Jahre. Aber sie war immer zu beschäftigt damit, die Welt zu retten. Da konnte niemand mithalten!" Es wirkte fast, als würde er ein Selbstgespräch führen. Doch plötzlich streckte er sich durch, Tatendrang durchflutete ihn.

„Kann ich mit hinüber zu dieser Rosie?", fragte er vorsichtig. „Wir müssen alle zusammenhalten, wenn wir Kalopeia finden wollen!"

Xasabra dachte kurz nach. Sie nahm Marten seine Worte ab, aber sie war nur eine Krähe – wenn auch eine ausnehmend kluge.

„Ich frage mal drüben nach!", erklärte sie schließlich und war schon zur Türe hinaus.
Rosie und Arosa waren ziemlich besorgt, seit die Krähe das Haus verlassen hatten und mehr als froh, sie unversehrt wieder zu sehen.

„Er ist in Sorge um Kalopeia!", berichtete Xasabra hastig. „Er hat sie nicht entführt, er will uns helfen. Darf er herüberkommen?"

Rosie war schon wieder einmal kurz vor einem Lachkrampf. Das Surreale der ganzen Situation drohte sie zu überschwemmen.
„Klar!", brachte sie trotzdem heraus. „Hol ihn rüber!"

Eine verschwundene Hexe, eine sprechende Katze, eine siebengescheite Krähe – warum also nicht auch noch ein Zauberer?

Wäre dann doch noch Platz für eine paar Elfen, einen kleinen, süßen Drachen und so Zeug, oder?

Nur Vampire oder Werwölfe würde sie nicht bei sich aufnehmen. Die mochte sie nämlich gar nicht.

Als Marten den Flur betrat, war Rosie dann ziemlich überrascht. Irgendwie hatte sie einen hochgewachsenen Herrn mit langen weißen Haaren und einem ebensolche Bart erwartet, einem langen golddurchwirkten Mantel und vielleicht auch noch einem schultütenförmigen Hut.

Aber vor ihr stand, eher schüchtern als furchteinflößend, ein älterer Herr, kaum größer als sie selbst, gekleidet in einen feinen dunklen Anzug. In den Händen hielt er einen bunten Blumenstrauß.

Seine Augen blitzten freundlich, ein Lächeln lag auf seinen Lippen. „Dankeschön, dass ich eintreten darf", erklärte er höflich mit einer sanften, melodischen Stimme.

„Gerne, kommen Sie doch näher", antwortete Rosie beeindruckt. Er ließ sich auf einen Esszimmerstuhl fallen, sie schenkte ihm ein Glas Wasser ein, das er durstig leerte.

Dann sah er, dass drei Paar Augen ihn fixierten, und seufzte auf.
„Erzählt ganz genau, was passiert ist!", bat er.

Abwechselnd erzählten die drei, und Xasabra konnte es sich sogar verkneifen, Arosa ständig zu verbessern.

Marten dachte eine Weile nach. „Ich muss den Rat befragen!", erklärte er dann. „Ich brauche bitte ein großes Blatt Papier, einen roten Stift und sieben Kerzen - rote, wenn möglich."

Rosie rannte los, das Gewünschte zu holen. Das Blatt machte keine große Schwierigkeit, sie zeichnete gern, hatte Blöcke in verschiedenen Größen, die sie anschleppte. Einen dicken, roten Filzstift hatte sie vor ein paar Tagen in der Küchenschublade gesehen.

Aber Kerzen? Wer hatte heutzutage noch Kerzen im Haus?
Da fiel ihr zum Glück die alte Weihnachtskiste auf dem Dachboden ein, aus einer Zeit, als die Familie noch Zeit gefunden hatte, zusammen zu feiern.

Sie lief zwei Stockwerke hoch, fand den alten Karton, begann fieberhaft zu suchen. Und tatsächlich entdeckte sie eine Schachtel mit dicken roten Kerzen, wie man sie für einen Adventskranz verwendet. Sie war noch verschlossen, enthielt acht Stück.

Mama hatte sie wohl gekauft, bevor sie erfahren hatten, dass beide Elternteile ein Mandat bekommen hatten. Sie hatten immer zwei Kränze, einen in der Küche und einen in der Diele. Keinen im Wohnzimmer, weil ihr Vater bei brennenden Kerzen Atemprobleme bekam.

Während diese Erinnerungen durch ihren Kopf schwirrten, lief sie die Stufen wieder hinunter, präsentierte stolz ihren Fund.

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