Kapitel 4

Marten dehnte sich genüsslich in seinem breiten Polsterbett. Das war wieder einmal eine heiße Nacht gewesen!
Sie wurden langsam seltener, die leidenschaftlichen Abenteuer, aber schließlich ging er auf die 190 zu.

Eigentlich war er schon 191, aber er hatte beschlossen, nicht mehr weiter zu zählen als 190.

Was waren denn schon Zahlen!

Heute hatte er es gerade noch rechtzeitig geschafft, das Bett seiner Gespielin zu verlassen und nach Hause zu gehen. Wenn er seinen Körper verschönerte, hielt das genau zwölf Stunden. Danach wurde er wieder zu dem mittelgroßen, in die Jahre gekommenen Mann.

Aus diesem Grund war es ihm auch nicht möglich, eine Beziehung einzugehen. Welche der Damen wollte schon neben einem Adonis einschlafen und neben einem Greis erwachen?

Seine Gedanken gingen zurück in die Zeit, als er noch wirklich jung gewesen war. Zwar war er nie der Bestaussehende gewesen, aber er hatte sich nicht immer verwandeln müssen.
Mit Kalopeia hätte er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen können, damals.

Doch er wusste auch, dass diese Zukunft von seiner Seite aus sicher nur kurz gewesen wäre. Zu unstet war er in diesen Dingen. Dann hätte er sie verletzt, die Freundschaft aufs Spiel gesetzt.

Er hatte es immer sehr gemocht, Zeit mit der ruhigen, ernsthaften Hexe zu verbringen.
Dafür, dass sie ihm so bei seiner Prüfung geholfen hatte, war er ihr sehr dankbar gewesen.
Wahrscheinlich war sie auch ein wenig verliebt in ihn gewesen, aber er hatte gewusst, dass er nicht gut genug für sie wäre.

Er war ein Luftikus, der die Frauen zu sehr liebte.
Den Spaß am Leben.
Das Lachen.
Die Leichtigkeit des Daseins.

Deshalb hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen im Lauf der Zeit auch verändert. Sie war ständig beschäftigt, den Menschen zu helfen, hatte Zusatzausbildungen gemacht – für all das war er zu bequem gewesen.
Da man sowieso nicht allen Menschen helfen konnte, erschien ihm der Einsatz zu hoch, für das Wenige, das sie erreichen konnten.

Ihre Meinung, dass jeder kleine Schritt zählte, konnte und wollte er nicht teilen.

Doch, wenn er ehrlich war, musste er in seinen alten Tagen immer öfter über ihre Worte nachdenken. Wenn er in fünfzig oder sechzig Jahren in den Magier-Himmel einging – was würde von ihm bleiben?
Spuren würde er keine hinterlassen, zumindest keine guten.

Bei Kalopeia würde das anders sein. Jede Wunde, die sie hatte heilen können, jedes Stück Brot, das sie verteilt hatte, würde sie in den Erinnerungen der Menschen am Leben halten. Man würde sich Geschichten erzählen über eine gute Frau.

Die Geschichten über ihn würden ganz anders klingen. Sie würden von einem gutaussehenden Bastard handeln, der nach ein paar erregenden Stunden verschwunden war.

In den letzten Tagen war er immer wieder als junger Mann um das Häuschen der Hexe geschlichen, hatte erfahren wollen, was sie denn heute so trieb. Doch nie hatte er den Mut gefunden, zu klopfen, sich bemerkbar zu machen.

Durchs Fenster ihrer Hexenküche hatte er nur ein paar Pflanzen erkennen können. Vielleicht hatte sie sich ja von der Hexerei zurückgezogen, betätigte sich lieber als Gärtnerin?

Er sollte wieder einmal vorbeischauen, in seiner wirklichen Gestalt. Womöglich hatte sie Lust darauf, ein wenig zu plaudern über alte Zeiten.
Es könnte auch sein, dass sie sich über seinen Besuch freute.
Da sie so einen Spaß an Pflanzen hatte, würde er ihr einen schönen Blumenstrauß mitbringen.

Erst aber musste er kräftig frühstücken, seine Kräfte aufladen. Sein Kühlschrank war wie immer gut gefüllt mit allerlei Leckerbissen. Finanziell litt er keine Not, auch wenn er für seine persönlichen Bedürfnisse ein festes Budget hatte, das er an Geldmitteln täglich zaubern durfte.

Aber hin und wieder hatte er in den vielen Jahren seines Lebens Glück beim Kartenspiel gehabt – etwas, was die Oberen nicht unbedingt wissen mussten. Noch dazu, da er immer ganz ehrlich gespielt hatte – oder zumindest fast immer.

Er besaß eine große Wohnung im Zentrum der Stadt, das Haus hatte sein Onkel vor 200 Jahren gebaut, ihm ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt. Sein Heim lag ausgesprochen günstig, schnell war er mitten im städtischen Leben, wenn er Lust darauf hatte, unter Menschen zu sein. Ruhe konnte er in den weitläufigen Parks finden, die er mal als hübscher Jüngling, mal als alter Mann aufsuchte.

Das war ein interessantes Spiel für ihn. So konnte er die verschiedenen Reaktionen erleben. Lüsterne Blicke der Frauen und hin und wieder auch Männern, mitleidige, hilfsbereite, die dem Greis galten. Für jede Hilfe, die ihm zuteilwurde, reichte er seine dankbare Hand, und der Helfende fand später eine kleine Goldmünze in einer Tasche seiner Kleidung.

So, wie auch alle Ladys, die ihm seine Nächte versüßten. Lächelnd, in Erinnerungen versunken, aß er sein Krabbenbrötchen auf, spülte es mit einem Glas Champagner hinunter. Beides regte seinen Kreislauf an, er fühlte sich ausgesprochen munter.

Nach einer erfrischenden Dusche schlüpfte er in seinen elegantesten Anzug. Heute würde er den Mut haben, an ihrer Türe zu klopfen.
Er nahm den Bus, der ihn in das kleine Dorf brachte, in dem sie schon immer wohnte. Vor Jahren war der Ort eingemeindet worden, der öffentliche Nahverkehr erschloss ihn gut.

Der Fahrer half ihm nach innen, eine junge Frau stand auf, um ihm ihren Sitzplatz anzubieten. Zwei Goldstücke fanden an diesem Tag neue Besitzer.
Am Ziel verließ er lächelnd den Bus.
Vielleicht hatte Kalopeia doch recht: Die Menschen waren es wert, dass man ihnen half. Wahrscheinlich nicht alle, aber mehr, als er gedacht hatte.

Er sollte sich mit der Hexe zusammentun, möglicherweise konnte er doch noch die eine oder andere Spur in seinem Leben hinterlassen, möglicherweise würde es auch von ihm Geschichten geben, die man sich erzählte.

Summend, voller guter Vorsätze ging er die letzten Meter zu ihrem Haus. Auf der Straße blieb er stehen, betrachtete das Gebäude, das nicht viel mehr als eine Hütte war.

Sie könnte in einem Palast wohnen wie ihre Kolleginnen. Hätte sich einen gewissen Luxus hexen können, in einem bestimmten Rahmen natürlich. Auch Hexen war es nicht erlaubt, sich uferlosen Reichtum zu verschaffen durch ihre Fähigkeiten.

Doch sie hauste seit Jahrzehnten in dieser Bude am Rand der Stadt. Alle paar Jahre hatten sie sich getroffen. Sie war zwar äußerlich gealtert, aber ihr Geist war jung und frisch und voller Tatendrang geblieben.
Er hätte sie gerne öfter gesehen, doch sie hatte zu wenig Zeit, war immer sehr beschäftigt gewesen.

Stets hatte sie versucht, ihn für ihre wohltätigen Zwecke zu gewinnen, aber er hatte jedes Mal abgewehrt. Heute tat ihm das direkt ein bisschen leid.
Womöglich war ihr Weg der bessere gewesen.

Wahrscheinlich sogar.
Vielleicht konnte sich noch ändern?
Frauengeschichten und lockeres Leben eintauschen gegen etwas, das wirklich zählte?

Vielleicht konnte er sie überzeugen, dass er sich – spät, aber nicht zu spät - geändert hatte, oder sich zumindest ändern konnte?

Er atmete tief durch, streckte seinen leicht gebeugten Körper, ging die wenigen Schritte über die Straße und klopfte an ihre Tür.

Seltsamerweise schwang die auf, knarzte in den Angeln. Mit einem mulmigen Gefühl trat er ein. Eisige Kälte umfing ihn, ließ ihn schaudern. Das Häuschen schien leer, leblos zu sein.
„Kalopeia?", rief er panisch.
Doch keine zeternde Stimme antwortete ihm, kein Schnauben kam zurück.
Nur tödliche Stille.

Er ließ sich auf den Sessel in der Diele fallen, versuchte nachzudenken. Niemals würde Kalopeia ihre Hütte unverschlossen zurücklassen!
Sie war nicht mehr die Jüngste, aber sie war geistig voll auf der Höhe.

Und wo waren ihre Tiere?
Die kratzbürstige Katze und die schnippische Krähe?

Er drehte an seinem Armband, drückte ein paar der Edelsteinköpfe. So konnte er immer mit Kalopeia in Kontakt treten. Ihr Amulett würde ihr melden, dass er mit ihr sprechen wollte. Diese Verbindung hatten sie vor Jahrzehnten eingerichtet.

Hexen und Zauberer brauchten diesen modernen Schnickschnack wie Handys und Telefone oder gar Internet nicht. Seit Jahrhunderten kommunizierten sie auf ihre ganz besondere Weise.

Doch es kam keine Antwort.
Nun gab es zwei Möglichkeiten. Entweder sie hatte das Amulett nicht angelegt – was er bezweifelte – oder man hatte es ihr weggenommen. Dann war sie in ernsthafter Gefahr.

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