Kapitel 9
Ein schmerzhafter Schlag an seiner Schulter riss Aristides aus seinen glückseligen Bücherträumen. Wieder einmal hatte er alles um sich herum vergessen, während er am Lesen war. Dieses Mal hatte ihn kein Mensch erschreckt, sondern der miese Markus mit seinem Schockergriff.
„Statt zu lesen, könntest du dich ein klein wenig nützlich machen", knurrte der rötlich schimmernde Geist.
„Äh ... nützlich machen?"
„Ja, wir teilen uns auf. Du nimmst das rechte Rohr, ich das linke. Und wer ankommt, der holt den anderen."
„Äh ... aufteilen? Den anderen holen?"
„Gut, abgemacht. Ich lasse die Bücher hier. Die stören nur. Bis gleich."
Schon war Markus weg und Aristides starrte ihm fassungslos hinterher. Der rote Schimmer verflog recht schnell und alles war wieder dunkel. Aristides schluckte nervös. Sein Blick glitt zu den Büchern, zwei Stapel. Wie sollte er die allein transportieren? Außerdem wusste er gar nicht, nach was er suchen sollte. Markus glaubte doch nicht allen Ernstes, dass er allein dem berüchtigten Jack the Ripper gegenüberstehen wollte? Er war tausend Jahre alt und nicht lebensmüde! Oder, nun, vielleicht ein klein wenig existenzmüde, aber darum musste er doch nicht Jack the Ripper begegnen wollen. Jack the Ripper!
Seufzend widmete er sich beiden Stapeln. Dabei bemerkte er noch lauter seufzend, dass die Bücher von Markus' Stapel reichlich mitgenommen aussahen. Irgendwie gelang dem immer, etwas zu zerstören, was eigentlich unzerstörbar war. Ihn sollte man aus jeder Bibliothek meilenweit verbannen! Wahrscheinlich hatte der Aufsichtsrat recht, wenn er Markus nur noch in der Wüste Urlaub machen lassen wollte. Der Geist war ja gemeingefährlich!
Vorsichtig strich er über eingedellte Ecken, schob ganz sanft ein Blatt zurück ins Buch, das halb herausgerissen hervorlugte und wischte einige Dreckklümpchen weg. Wo auch immer Markus die her hatte. Er war so vertieft in seine fürsorglichen Bemühungen, dass er mit einem Schrei zusammenfuhr, als Markus vor ihm auftauchte.
„Hier ist nichts, warst du ..." Markus brach ab und seine Augen blitzten unheilvoll auf. Nicht wirklich rot, aber auch nicht golden, irgendwie so ein orange-rot-goldenes Blitzen.
Vorsichtshalber wich Aristides ein wenig zurück, schaute auf die Bücher und erstarrte. Dann nahm er all seinen Mut zusammen. Die musste er schützen! So ein Funkenregen aus den Augen von Markus konnte sie vielleicht in Geisterflammen aufgehen lassen. Hastig schwebte er wieder vorwärts und kauerte sich vor die Bücher. Nicht sehr eindrucksvoll. Aber das Rohr war nun einmal nicht so groß, dass man sich aufrecht hinstellen konnte, wenn man nicht mit dem halben Körper oben im Erdreich stecken wollte. Er verschränkte die Arme vor der Brust, um seinen Kampfeswillen zu verdeutlichen.
„Was soll das werden?" Markus runzelte die Stirn. „Hast du etwa Babysitter für die Bücher gespielt, statt das rechte Rohr zu durchsuchen?"
„Und wenn?"
„Was und wenn? Du solltest prüfen, wohin das rechte Rohr führt. Nichts anderes! Die Bücher kommen auch ein paar Minuten ohne dich zurecht."
„Ach ja? Wer ist hier der Ältere? Ich! Also kann ich selbst entscheiden, ob ich auf die Bücher aufpasse, die ich ausgeliehen habe."
„Ausgeliehen? Du hast sie geklaut!"
„Ausgeliehen!", hielt Aristides energisch dagegen.
„Wo ist denn die Ausleih-Quittung?"
Die beiden Geister funkelten sich zornig an. Aristides versuchte wirklich, dem mörderischen Blick von Markus standzuhalten. Aber der konnte so durchdringend schauen, dass es einem durch den gesamten Geisterkörper fuhr und man nur noch zurückweichen wollte. Und genau das tat Aristides. Er wich zurück. Nicht sehr weit. Hinter ihm war ja der Bücherstapel. Er plumpste hin und schon lag er hinter dem Stapel auf dem Boden, eines seiner Beine auf den Büchern, das andere daneben.
Er kam sich richtig dämlich vor. Gut, dass ihn niemand hier so unwürdig liegen sah.
„Hast du es endlich kapiert? Ich bin der Anführer! Das hat gar nichts mit Alter zu tun, sondern mit Führungsqualitäten. Die habe ich! Ich bin stärker, ich bin wendiger und ich kann mich besser durchsetzen."
„Ja, ja, ja", brummelte Aristides beleidigt vor sich hin.
War ja klar. Die Jugend hatte einfach keinen Respekt mehr vor den Alten. Immer mussten sie allen ihren Willen aufzwingen. Er warf noch einen sehnsüchtigen und entschuldigenden Blick zu den Büchern hin, danach schwebte er schlängelnd durch das rechte Rohr. Ganz sicher musste er nicht bis zum Ende schweben, falls es überhaupt eins hatte. So ein paar Meter reichten. Markus prüfte sicher nicht nach. Also hielt Aristides an, als er glaubte, dass Markus ihn nicht mehr sehen konnte. Er legte sich hin und starrte nach oben. Da gab es zwar nichts zu sehen, aber wohin sollte er denn sonst starren? Zu lesen hatte er nichts. Die Bücher lagen verlassen einige Meter von ihm entfernt. So zählte er leise vor sich hin, um sich zumindest irgendwie die Zeit zu vertreiben. Er hätte auch das Alphabet aufsagen können. Oder neue Adjektive für Markus ersinnen: müde, makaber, merkwürdig, missgelaunt. Aber er hatte sich für das Zählen entschieden. Als er bei hundert angekommen war, erhob er sich und schwebte zurück.
„Das mittlere ist es!", erscholl triumphierend Markus' Stimme. „Komm!"
Aristides beeilte sich, aus seinem Rohr herauszuschlittern. Hoffentlich kamen sie endlich dort an, wo Markus hin wollte. Dann brauchte er sich nicht mehr herumscheuchen lassen, sondern konnte in aller Ruhe lesen. Denn nur dazu war er nach London gekommen. Um zu lesen.
Markus wartete schon bei den Stapeln. Kaum sah er Aristides, schnappte er sich seinen Stapel und glitt in das mittlere Rohr hinein. Wieder einmal zeigte er in seiner Ungeduld keinerlei Rücksichtnahme. Hastig schnappte sich Aristides seinen eigenen Stapel und eilte Markus hinterher.
Alle paar Meter wurde das Rohr größer und führte schließlich zu einem Schacht, vor dem sich ein Gitter befand. Ein unangenehmes Grummeln breitete sich in Aristides' Geistermagen aus. Markus würde doch nicht ...
Doch, er würde. Ohne seinen Begleiter zu befragen, schob er sich durch das Gitter und war mal wieder verschwunden.
Aristides warf einen wehleidigen Blick auf seine Bücher, danach auf das Gitter. Hoffentlich nahmen die Bücher keinen Schaden. Vorsichtshalber beugte er den Kopf, sodass er wenigstens ein klein wenig vom Einband abdeckte. Anschließend drückte er sich ab und schwebte durch das Gitter Markus hinterher. Es war gar nicht so schlimm, wie er erwartet hatte. Das Eintauchen in die Erde und der Anblick der winzigen weißlichen Würmchen war viel schlimmer gewesen. Erleichtert atmete er auf.
Was ihn nicht erleichterte, Markus war schon wieder aus seinem Sichtfeld verschwunden. Das war so unhöflich. Wieso hatte der ihn überhaupt mitgenommen, wenn er jetzt immerzu allein herumstreifte? Da hätte er ihn auch im Keller zurücklassen können. Dort hätte er wenigstens lesen können.
Es dauerte einige Meter, bis Aristides sich an den unangenehmen Menschen erinnerte, der mit dem Sicherheitsdienst gedroht hatte. Weitere Meter konnte er nicht mehr nachdenken, denn mit einem Mal plumpste er nach unten. Wie auch immer das passieren konnte. Immerhin war er ein Geist! Aber der Schacht hatte einfach aufgehört. Da er auf Krabbelmodus eingestellt war, nun kein Rohr mehr unter ihm war, stürzte er hinunter und schlug ziemlich unsanft auf dem Boden eines riesigen Tunnelsystems auf. Vor sich einen golden strahlenden Markus.
„Wir haben es geschafft!", jubelte der. „Genau hier ist irgendwo Jack the Ripper. Jetzt ist es nicht mehr weit."
„Na hoffentlich", brummte Aristides.
Er blickte auf seine Bücher, dann auf den Stapel von Markus und stellte fest, dessen Bücher hatten noch ein paar Dellen und Risse mehr bekommen. Wenn sie nicht bald ankamen, wo auch immer das sein sollte, blieb von Markus' Büchern nicht mehr viel übrig. Wie er das den Bibliotheksgeistern später erklären sollte, wusste er echt nicht.
„Das hier ist ein Teil der städtischen Kanalisation", erklärte Markus. „Das perfekte Versteck für einen meistgesuchten Kriminellen."
Er hörte gar nicht mehr auf zu strahlen. Als ob die Nähe eines kriminellen Geistes etwas so Beglückendes wäre. Da konnte Aristides sich Schöneres vorstellen. Jetzt zum Beispiel ganz bequem in einem Liegestuhl sitzen, die Brandung des Meeres belauschen und mit kleinen Wasserfontänen die kreischenden Möwen abschießen. Dabei bekam er ein zufrieden-trotteliges Grinsen, was natürlich Markus gleich auffiel.
„Hey, schon wieder am Einschlafen?" Ein kräftiger Stromstoß-Stupser gegen die Schulter brachte Aristides zurück in dieses dunkel-muffige Abwassersystem. „Wir haben keine Zeit für Träume! Wach bleiben, es sind noch ein paar Meter."
Markus drehte sich weg und schwebte auf ein riesiges Rohr zu, das wenig vertrauenerweckend aussah. Hoffentlich kam nicht gerade jetzt ein Schwung Toilettenwasser da durch. Das war wirklich das Letzte, was sich Aristides wünschte. Allmählich gestaltete sich diese Suche als eine endlose Aneinanderreihung von ekligen, nervenaufreibenden Geschehnissen. So hatte er sich die Suche nach seiner Erlösung nicht vorgestellt.
„Komm, wenn mein Informant nicht gelogen hat, müsste uns dieses Rohr zum Ziel bringen."
„Hoffentlich", murmelte Aristides erneut und schlüpfte hinter dem Geist hinein.
Sie krabbelten, schwebten und glitten einige Meter in halb aufrechter Position. Es ging sanft, aber gleichmäßig nach oben. Dann kamen sie zu einer Stelle, wo sich ein schimmerndes Dreieck mit leuchtendem Ausrufezeichen befand.
„Hier", flüsterte Markus und leuchtete so grell golden, dass Aristides seinen Neid nicht mehr beherrschen konnte. Immer trumpfte der mondäne Markus mit allem auf. Nie konnte er einfach nur normal sein. Unglaublich!
„Was hier?", fragte er deshalb mit beleidigtem Tonfall.
„Hier müssen wir durch. Dahinter ist das Versteck."
„Und warum flüsterst du, wenn du am Ziel bist?"
Markus verengte die Augen und das goldene Schimmern ließ nach. Oh, das war wohl der falsche Hinweis gewesen. Aristides huschte vorsichtshalber etwas zurück. Doch verwirrenderweise entspannte sich Markus wieder und ein Grinsen huschte über sein Geistergesicht.
„Ich bin so ergriffen."
Aristides klappte die Kinnlade nach unten. Daran erinnerte sich der mürrische Markus noch? Dass er das beim ersten Betreten der British Library gesagt hatte? Vielleicht unterschätzte er ihn manchmal ein klein wenig.
„Na schön, worauf wartest du?", fragte Aristides gönnerhaft freundlich. „Dann schweb los. Auf den Augenblick hast du doch die ganze Zeit gewartet."
Markus nickte. Er straffte die Schultern und bemerkte die Bücher. Irgendwie passten die nicht zu seinem perfekten ersten Auftritt.
„Na, gib schon her", erklärte Aristides ungewöhnlich hilfsbereit, „ich schaff für den kurzen Moment auch zwei Stapel."
Sofort drückte ihm Markus den Stapel auf den anderen, sodass Aristides nichts mehr sehen konnte. Na ja, wenn er ein Mensch mit menschlichen Büchern gewesen wäre. So konnte er ja durch die Bücher hindurchsehen.
Markus verschwand und Aristides drückte sich seufzend ebenfalls durch das Rohr hindurch. Er hoffte, er begegnete keinen winzigen weißlichen Würmchen.
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