Kapitel 7

Aristides war absolut sicher, dass es sich um einen Irrtum handelte. Niemals stand da ein Mensch vor ihm. Er halluzinierte. So einfach war das. Sicherlich waren ihm irgendwelche Dämpfe aus den Zauberbüchern ins Gehirn gedrungen. 

„Wenn das eine dumme Ausrede sein soll, um nicht den Ausweis vorzeigen zu müssen, dann wirkt sie nicht", sagte der Mensch mit kühler Stimme und hob eine Augenbraue. „Also, wo ist er?" 

„Ich ... äh ... ähm", stotterte Aristides und starrte ungläubig. Wo war eigentlich Markus, wenn man ihn brauchte? 

„Aha, hätte ich mir denken können. Wer bleibt schon freiwillig nach Schließung hier unten? Also, Name?" 

„N... N... Name?" 

„Ich George Brown ", der Mensch zeigte auf sich, „du ...?" Nun zeigte er auf Aristides. 

„Aristides", sagte der automatisch. 

„Gut, geht doch. Nachname?" 

„Keiner." 

Wieder hob der Mensch eine Augenbraue. „Aristides Keiner? Na gut, andere Länder, andere Sitten. Wobei wir beim Land sind. Land?" 

„Chorinia." 

„Chorinia?" 

„Eine kleine Inselmonarchie vor Frankreich." 

„Nie davon gehört. Aber gut." 

Der Mensch notierte alles fleißig und blickte zufrieden. Wahrscheinlich, weil die Befragung endlich problemlos klappte. Nun, zumindest bis jetzt. 

„Adresse?" 

Aristides geriet fast ins Schwitzen. Natürlich nur fast, da Geister nicht schwitzen können. Was sollte er antworten? Erstens hatte er keine Adresse und zweitens fürchtete er, dass er abgeschoben wurde, wenn er „Anorchena" antwortete. Das Grinsen verflog und die Augenbraue seines Gegenübers wanderte erneut nach oben. 

„Adresse?" 

„Ich habe keine", sagte Aristides genervt. „Außerdem passiert das hier alles nicht wirklich. Du kannst mich nicht sehen. Kein Mensch kann mich sehen. Das ist völlig unmöglich." Er stutzte und blickte den Menschen genauer an. „Oder bist du gar kein Mensch?" 

Ein mächtiger Schwall Hoffnung strömte in ihn. Vielleicht war das vor ihm ein Wesen, das ihn ins ewige Nichts führte? In die wunderbare, nie aufhörende Ruhe, zur ewigen Erlösung vom unendlichen Geisterleben? Natürlich, so musste es sein! Er hatte sich mit seiner beharrlichen Suche endlich den Übergang verdient. Die Nicht-Existenz war nahe. 

So ein Ärger! Ausgerechnet jetzt trieb sich Markus sonst wo herum. Dabei hätte er gerade ihm so gern gezeigt, dass seine Idee, nach London zu reisen, absolut brillant und richtig gewesen war. Hier in London war einfach alles möglich. Und Bathilde hätte es auf jeden Fall auch verdient, Teil dieser grandiosen Reise ins Nichts zu sein. Selbst wenn der Flug alles andere als luxuriös gewesen war, so hatte sie es ihm ermöglicht, hierher zu gelangen. Und nun handelte es sich nur noch um Minuten, Sekunden ... 

Misstrauisch beäugte er den Menschen, der ihn ebenfalls misstrauisch beäugte. Irgendwas stimmte da nicht. Nur was? 

„Mir sind schon die dümmsten Ausreden aufgetischt worden", sagte der Mensch schließlich und zog dieses Mal beide Augenbrauen hoch. „Aber Ihre ist absolut einmalig. Vielleicht sollte ich die für die schlagfertigste Ausrede vorschlagen." 

So ein unangenehmes, überaus ungewolltes Gefühl schlich sich in Aristides' Magen hinein und die glückselige Hoffnung verpuffte irgendwo in dem dumpfen Druck da drinnen. Wenn der Begleiter in die erlösende Nicht-Existenz so sonderbar war, vielleicht war er gar kein Begleiter in die erlösende Nicht-Existenz? 

„Also, zeigen Sie mir nun den Bibliotheksausweis oder Ihren Reisepass?" Der Mensch tappte ungeduldig mit dem rechten Fuß auf den Boden. „Oder muss ich den Sicherheitsdienst rufen?" 

Aristides überlegte, ob er einfach flüchten sollte. Sicherheitsdienst klang gar nicht gut. Jetzt hatte er es bis hierher geschafft und nun sollte ihm irgendein selbstgerechter Mensch die Auswanderungsbehörde auf den Geisterhals hetzen? Der Typ war ja fast so schlimm wie Bathilde! 

Er linste zu den Büchern auf dem Tisch. Dann verzog er kläglich das Gesicht, als er daran dachte, dass die Bücherregale noch voll mit magischen Schriften waren, die sich rund um Fragen nach dem jenseitigen Jenseits beschäftigten. Ja, nicht nur Menschen forschten nach dem Jenseits, Geister taten das ebenfalls. Wobei die Menschen wohl eher nach der Art von Jenseits forschten, in der sich Aristides seit eintausend unerträglich langen Jahren befand. Vielleicht sollte er mal ein Buch schreiben, damit die Menschen kapierten, so toll war das Leben, äh, das hatten wir doch schon ... So toll war die Existenz nach dem Leben auch nicht. 

Aristides war so in sein Selbstmitleid versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie der Mann ein schwarzes Teil hervorholte, das zuvor seitlich am Gürtel seiner dunkelblauen Hose geklemmt hatte. 

„Du glaubst es nicht!" 

Der freudig-enthusiastische Schrei weckte Aristides aus seinen melancholischen Gedanken auf und er starrte überrascht auf Markus, der schon wieder golden glänzte und übermäßig vergnügt angeschossen kam. 

„Ja, hier ist Brown. Ich habe hier einen ..." 

Aristides sah aus den Augenwinkeln, wie der Mensch sich zur Seite wegdrehte und etwas leiser in das Gerät sprach. Wollte er etwa nicht, dass er lauschte? 

„Ich habe Jack the Ripper gefunden!", rief Markus und baute sich vor Aristides auf. „Zumindest fast. Los komm, wir haben keine Zeit zu verlieren, sonst ist er weg!" 

Aristides' Blick huschte zwischen dem Menschen namens George Brown und Markus hin und her. Markus folgte irritiert dem Blick, zuckte dann mit den Achseln und streckte die Hand nach Aristides aus. 

„Bist du übergeschnappt?", kreischte Aristides. „Ich lasse mich doch nicht von dir anfassen!" 

Der Mensch drehte sich stirnrunzelnd zu ihm um, starrte einen Moment intensiv und drehte sich danach wieder weg, um noch energischer in das Gerät zu flüstern. Das klang gar nicht gut. Sicher war der Sicherheitsdienst mitsamt Geistereinwanderungsbehörde und Resublimierungsgerät in den nächsten Minuten hier. 

Aristides' Geisterherz zog sich schmerzvoll zusammen. Würde er wieder hierher kommen können? Er sah auf die Bücher, danach zu Markus und zuletzt zu George Brown. Und dann stand es für ihn fest. Er würde mit Markus flüchten! 

Hastig griff er nach dem Stapel, der seiner Meinung nach am wichtigsten war. Dann sah er Markus auffordernd an. 

„Hey", sagte der fassungslos und verlor etwas von seinem goldenen Schimmer, „seit wann stiehlst du? Ist das nicht eher mein Job?" 

„Gut, dass du es sagst", meinte Aristides, atmete erleichtert auf und drückte prompt Markus seine Bücher in die Arme. Er selbst schnappte sich den zweitwichtigsten Stapel. Jetzt hatte er Lesefutter für ein paar Stunden, vielleicht sogar ein paar Tage. „Können wir los?" 

Markus nickte heftig. Auf noch mehr Bücher hatte er ganz offensichtlich keine Lust. Zumindest drückte das sein besorgter Blick aus, der auf die vier anderen Bücherstapel auf dem Tisch fiel. Eilig schwebte er voran, durch die Regale hindurch bis zu einem Rohr, das nach unten führte. 

Nach unten? Aristides verzog nachdenklich die Stirn, während er Markus folgte, nur dass er in Schlangenlinien um die Regale schwebte, nicht durch. Sie waren hier bereits so tief unten, dass es kaum noch tiefer ging. Wohin plante Markus, ihn zu entführen? Und was noch wichtiger war: Wie kamen sie mit den Büchern heil durch das Rohr? 

Die beiden Geister waren so sehr mit ihrer Flucht beschäftigt ... Wobei es für Markus gar keine Flucht war. Für ihn war es eine erfolgversprechende Suche. Es war ja nur für Aristides eine Flucht. Na, auf jeden Fall waren sie so mit dem Wegschweben beschäftigt, dass sie gar nicht mitbekamen, wie der Mensch George Brown sein Gespräch beendete, sich zu dem Tisch umdrehte und fassungslos ... Fast so fassungslos wie wenige Augenblicke zuvor noch Markus! ... genau dorthin starrte, wo eben noch Aristides gestanden hatte. 

„Äh ... was ... wie ... Das gibt's doch gar nicht!", stieß der Mensch aus, machte einen Schritt zur Seite und lehnte sich mit offenem Mund gegen eines der Metallregale. Vorsichtshalber blickte er sich im Raum um. Doch das Endergebnis blieb gleich. 

Aristides Keiner aus Chorinia war vor seinen Augen spurlos verschwunden! 


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