Kapitel 5
Geister schlafen nicht. So wie sie auch nicht essen oder trinken. Sie sind immer wach und munter, immer satt und niemals durstig.
Aber so ein Geist wie Aristides, der schon tausend Jahre alt war, der wurde doch hin und wieder ein klein wenig ... Wie soll man es am besten ausdrücken, ohne ihn zu verletzen? Nun, mit dem Alter kommt die geistige Erschöpfung und die verlangt dann nach einer kleinen, geistigen Pause.
Genau das passierte Aristides. Er war von all dem Wirbel und der Aufregung so erschöpft, dass er sich eine wirklich sehr kleine Pause gönnte. Sein geisterhafter Geist brauchte etwas Erholung. Nur ganz kurz. Die Pause war so klein, dass er fast sofort aufschreckte, als sich ein rot glühender Kopf neben ihn in die Metallbox drückte.
Um bei der Wahrheit zu bleiben: Genau genommen reagierte Aristides erst, als ihn die zu dem Kopf und Körper gehörende Hand an der Schulter durchschüttelte und ihm einen heftigen Schmerz verpasste. Da war er auf jeden Fall sofort wach ... oder, äh, absolut munter und geistig frisch.
„Hilfe! Sag mal, macht dir das Spaß?", fuhr Aristides zornig den Übeltäter an.
„Was glaubst du denn?" Markus grinste und leuchtete noch ein Stückchen mehr Rot, wenn das überhaupt möglich war. „Ich habe eine halbe Ewigkeit nach dir gesucht. Die andere halbe Ewigkeit habe ich damit zugebracht, dich wachzukriegen."
„Wachzukriegen?!" Aristides fuhr empört hoch und durchstieß damit den Metallbehälter. Er stemmte die Geisterarme in die Seiten und zeigte überaus deutlich seine Empörung. „Ich schlafe nie, absolut niemals nie!"
Nun ja, Aristides war wohl etwas sehr empfindlich, wenn es um solch eine Kleinigkeit wie Müdigkeit ging. Dabei hatte gerade er alles Recht des Universums, auch mal müde zu sein. Immerhin war er mit tausend Jahren so alt wie noch kein Geist vor ihm.
Wobei da wieder das Problem auftauchte, dass es Aristides einfach nicht gelang, seine ewige Ruhe zu bekommen. Andere Geister vor ihm hatten die doch auch problemlos erhalten. Wieso er nicht? Und wieso kam kein einziger Geist freundlicherweise kurz zurück, um zu berichten, wie er es geschafft hatte, aus dem endlosen Dasein zu verpuffen?
Alles klar, Aristides' Lebensgeister – oder sein Geisterleben – waren vollends geweckt. Er musste dringend einen Weg in Londons berühmte Bibliothek finden und dort die Zauberbücher studieren. Sicherlich hatten sie eine eigene Abteilung nur für solche magischen Schriften. Endlos lange Regalreihen mit Büchern, Schriftrollen, vielleicht sogar Steintafeln ... Aristides' Geisterherz schlug vor Aufregung etwas schneller.
„Statt zu schlafen, hättest du mal lieber nach Bathilde gesucht", knurrte Markus.
„Statt mich mit Geisterschlägen aus meinen würdevollen Gedanken zu reißen, hättest du mal lieber nach ihr gesucht", konterte Aristides, hob verärgert den Kopf und schwebte ein wenig nach hinten in Sicherheit. Nicht, dass Markus noch auf die dumme Idee kam, erneut zuzulangen. Solange er in dem feurigen Rot schimmerte, war dem boshaften Markus einfach nicht zu trauen.
„Ich fürchte, sie haben sie geschnappt."
„Wen geschnappt?" Aristides blickte misstrauisch.
Sprachen sie etwa immer noch über Bathilde? Auch wenn er sie für belehrend, rechthaberisch, kleinlich und was sonst noch alles hielt, so eine Resublimierung wünschte er ihr nicht. Vielleicht schmerzte die ja auch? Oder sie zwang einen zur Bewegungslosigkeit. Eine echte Folter für herumschwebende, stets umherhuschende Geister!
„Bathilde natürlich! Sag mal, bist du etwa sofort eingeschlafen, kaum dass du in deiner Kiste verschwunden bist?"
Aristides sagte gar nichts, brummelte dafür umso lauter und verärgerter vor sich hin. Allmählich färbte er sich auch rot. Wenn Markus so weitermachte, glühte er ebenfalls feurig und vielleicht – wenn er wütend genug war – konnte er dann endlich schmerzhafte Schläge austeilen. Er würde sich rächen! Für jeden einzelnen Schlag, den ihm Markus in der letzten Zeit verpasst hatte.
„Ich grüble schon die ganze Zeit darüber nach, wer Bathilde verpfiffen haben könnte. So etwas Gemeines hätte ich eigentlich nur mir zugetraut."
Verblüfft starrte Aristides den jüngeren Geist an. Solch eine wahrheitsgetreue Selbsteinschätzung hätte er nicht erwartet. Das linderte seinen Unmut. Er räusperte sich und schwebte wieder ein Stückchen näher heran.
„Da Bathilde ganz offensichtlich entdeckt und abgeführt wurde und wir für sie nichts mehr tun können, sollten wir uns um uns selbst kümmern. Wir müssen einen Weg finden, wie wir diese Lagerhalle und überhaupt das Flughafengelände verlassen können."
„Na, einfach raus. Die Kontrolleure haben ja nun den Geist, den sie haben wollten. Da können wir uns frei bewegen."
Misstrauisch blickte Aristides seinen Mitreisenden an, der bereits wesentlich weniger rot glühte. Irgendetwas stimmte da nicht. Wenn es so einfach wäre, weshalb war er dann nicht längst auf und davon? Weshalb hatte er nach seinen Reisegefährten gesucht? Schließlich war er in London, um nach Jack the Ripper zu suchen oder nach Anhängern von diesem.
„Kannst du nicht einmal aufhören, immer meine Beweggründe zu hinterfragen?", knurrte Markus und glomm schon wieder stärker rot.
Aristides wich vorsichtshalber ein Stückchen weiter zurück und zuckte mit den Geisterschultern. „Nö, kann ich nicht. Wer einen Massenmörder in London sucht, dem ist nicht zu trauen. Ich hätte dann doch lieber die besserwisserische Bathilde hier, statt den mordenden Markus."
Der Geist grinste breit über sein gelungenes Wortspiel. Aber das Grinsen wich sehr schnell, als Markus mit glühenden Augen auf ihn zustürmte. Hastig drehte sich Aristides um und floh.
„Man wird doch noch einen Scherz machen dürfen!", schrie er und flüchtete quer durch die riesige Halle.
„Man wird gleich einen Schmerz spüren dürfen!", brüllte Markus wütend und verfolgte ihn unnachgiebig.
Ein orangefarbener und ein rotglühender Blitz zuckten hin und her. Durch Kisten hindurch, nach oben und unten, die Gänge entlang. Während der rotglühende immer greller leuchtete, wurde der orangefarbene nach und nach blasser und auch langsamer.
Irgendwann hielt Aristides keuchend an und Markus, noch voll im Verfolgungsmodus, sauste durch den kränklich schimmernden Geist hindurch. Dabei bekam der schon wieder einen schmerzhaften Schlag ab. Ächzend klatschte Aristides zu Boden und blieb dort liegen. Er war einfach zu alt für solche dummen Spielchen. Dass Markus nur zweihundert Jahre jünger war, verdrängte er gekonnt aus seiner Selbstmitleidsgehirnhälfte. Sollte der doch in zweihundert Jahren so ein Wettrennen machen! Sicher fiel er dann ebenfalls um und sicherlich viel, viel eher.
„Bist du dann fertig?", fragte Aristides japsend. „Können wir jetzt endlich zur Bibliothek schweben?"
Markus kam zurück und warf sich neben Aristides auf den Boden. Aber ihm sah man an, dass er noch fit war. Er grinste sogar zufrieden. Seine Energie schien endlos zu sein. Irgendwie unheimlich!
„Klar, du gehst aber vor. Immerhin bist du der Ältere."
Aristides hatte keine Lust, jetzt zu streiten. Ihm war klar, dass Markus das nicht aus Höflichkeit sagte. Wahrscheinlich lauerten da draußen einige Gefahren. Und ganz bestimmt hoffte Markus, dass Aristides in eine Falle tappte. Dann wären Bathilde und er weg und Markus könnte in aller Ruhe London unsicher machen.
Pah! So leicht machte er es dem miesen Markus nicht. Er würde ihm schon zeigen, dass er sich nicht einfangen ließ. Die Londoner Bibliothek war sein Ziel und er käme dort auch hin!
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