Kapitel 4
So im Nachhinein betrachtet, fand Aristides seine Idee nicht mehr so grandios. Aber wer konnte schon einem tausend Jahre alten Geist einen Vorwurf machen, wenn er unter Zeitdruck in einem unbehaglichen Frachtraum ganz schnell eine Lösung parat haben musste? Niemand natürlich, bis auf Markus und vielleicht auch Bathilde. Obwohl Bathilde wohl doch nicht. Sie war immerhin schuld an dem ganzen Dilemma.
Welche Idee Aristides gehabt hatte? Irgendwie war sie Bathildes Idee gar nicht so unähnlich und eigentlich sogar viel wirkungsvoller. Denn niemand suchte illegal reisende Geister in Frachtkisten von Lebenden. Also versteckten sie sich jeder in eine Frachtkiste. Am Ende des Fluges würden diese entladen und in eine Frachthalle gebracht. Bequemer konnte man doch wohl nicht aus dem Flugzeug gelangen, oder?
Nun, sicherlich hatten es alle Geister mit Einreisegenehmigung angenehmer. Doch die zählten jetzt ja nicht.
Leider hatte Aristides seine Idee überschätzt und die Geistereinwanderungsbehörde unterschätzt. Die machten doch tatsächlich eine Kontrolle im Frachtraum!
„Es gab da so ein Gerücht, dass ein Geist aus Anorchena sich an Bord von diesem Flugzeug versteckt", erscholl die Stimme von einem ausgesprochen dominanten Geist. Er sprach sehr laut und sehr deutlich. Sicherlich hoffte er, dass sich die blinden Passagiere freiwillig meldeten.
Aristides erstarrte. Gleich aus mehreren Gründen.
Erstens gab es ein Gerücht. Also musste irgendjemand aus Anorchena sie verpfiffen haben. Aber wer hätte dazu irgendeinen Grund? Die müssten doch froh sein, wenn sie Markus endlich los waren. Und vielleicht auch, wenn er, Aristides, mal für eine Weile fort war. Den Stromausfall vor ein paar Jahren hatten ihm einige Geister übelgenommen, weil der Markus angelockt hatte. Und Markus, nun, er war eben Markus. Mit ihm wollte niemand nähere Bekanntschaft machen. Das tat nur weh.
Zweitens hatte der Typ von der Geistereinwanderungsbehörde von einem Geist aus Anorchena gesprochen. Konnte es sein, dass die Behörde nur wegen eines Geistes aufgehetzt worden war? Da stellte sich natürlich erneut die Frage, weshalb man wegen ihm oder Markus so einen Aufruhr machen sollte.
Und genau in dem Moment, wo Aristides dieser Gedanke durchs Gehirn schoss, hatte er die Erklärung. Bathilde!
Nein, nicht Bathilde hatte sie verraten, um die Flucht spannender zu machen. Sie war verraten worden. Nicht in böser Absicht. Ganz bestimmt nicht. Jedoch aus einem sehr naheliegenden Grund: Sie war die Bibliothekarin! Niemand wollte solch eine wichtige Person verlieren. Da ging in der Bibliothek ja alles drunter und drüber.
Aristides brach ein wenig Geisterschweiß aus. Vielleicht war sogar er selbst der Grund für diese Annahme, dass Bathilde unersetzlich war. Immerhin hatte er seine Bücher im ersten Stock einfach herumliegen lassen. Nachdem er sich entschlossen hatte, nach London zu reisen, hatte er sich nicht mehr für irgendwelche Bücher in der Anorchenaer Bibliothek interessiert. Und weil Bathilde Feuer und Flamme für die perfekte Flucht gewesen war, hatte sie auch nicht mehr ein Aufräumen angeordnet.
So gerade eben konnte Aristides ein leidvolles Seufzen unterdrücken. Zum Glück! Denn nun klopfte jemand an seine Kiste.
Häh? Wieso steckte der Geist nicht seinen Kopf hinein? Warum klopfte der? Klang eine Metallfrachtbox, die mit einem Geist gefüllt war, etwa anders als eine Metallfrachtbox ohne einen Geist?
Es dauerte einen Moment, ehe es in Aristides Gehirn vordrang – immerhin war es bereits tausend Jahre alt und nicht mehr so wendig wie ein junges Geisterhirn –, dass man das Anklopfen von einem Geist gar nicht hören konnte. Es sei denn, es war ein Poltergeist. Der aber, und das weiß sogar jedes Kind, klopfte garantiert nicht an!
„Lasst uns mit dieser Kiste anfangen." Eine dumpfe Stimme erklang direkt neben seinem Versteck und gehörte eindeutig einem lebendigen Menschen und keinem Geist.
„Du hast eine allerletzte Chance, freiwillig rauszukommen." Das war die dominante Geisterstimme. „Sonst droht die Resublimierung!"
Aristides runzelte die Geisterstirn. Resublimieren? Die konnten einen wirklich von der Geistergestalt zurück in eine feste Form verwandeln? War das vielleicht die Lösung all seiner Probleme? Wenn er wieder feststofflich war, konnte man ihn doch ... Er verzog das Gesicht. Einen feststofflichen Geist konnte man sicherlich nicht töten, denn tot war er ja schon. Und ob ein Geist in einer festen Form einfach so verpuffen konnte, indem man ihn verbrannte oder zu Staub zermahlte und im Wind verwehen ließ, na, so wirklich sicher war er da nicht. Also resublimiert wollte er auf gar keinen Fall werden. Wenn er Pech hatte, konnte er dann nicht einmal mehr in der Londoner Bibliothek nach einem Zauber suchen, wie er endgültig aus dem Geisterdasein verschwinden konnte.
Er wollte sich schon melden, um dieser Bestrafung zu entgehen, als ihm einfiel, dass er unter Garantie gar nicht der Gesuchte war. Warum also freiwillig aus dem Versteck auftauchen? Die Behördengeister würden ja doch nur weitersuchen, bis sie Bathilde gefunden hatten. Somit half es ihm rein gar nichts, wenn er sich freiwillig meldete.
Noch während er so grübelte, spürte er einen Ruck. Er musste sich konzentrieren, um innerhalb der Kiste mit den Edelmetallen zu bleiben. Denn die waren bei ihm drin. Einige Gold- und Silberbarren und sogar eine kleine Truhe mit Diamanten. Eine überaus wertvolle Fracht, die überaus unbequem war. Da pikste und eckte es überall. Auch wenn es nicht schmerzte, so war es dennoch weit entfernt von dem behaglichen Gefühl einer weichen Decke oder einer Daunenfederfüllung eines Kissens. Aber beschweren konnte Aristides sich nicht. Schließlich war er ein illegaler Einwanderer. Wenn auch nur für kurze Zeit.
Jetzt auf jeden Fall wurde er durchgerüttelt und von den Geräuschen her aus dem Flugzeugbauch gebracht.
„Los, Männer, durchsucht alle Holzkisten. Irgendwo da drin muss unser gesuchter Geist sein!"
Die Stimme drang wie aus weiter Ferne zu Aristides herüber. Es dauerte noch einige Schüttelsekunden, bis er begriff, die Stimme kam tatsächlich aus weiter Ferne. Er verließ das Flugzeug, der Geist von der Einwanderungsbehörde aber nicht.
Holzkiste? Aristides durchsuchte alle Winkel in seinem Hirn, weshalb die Behörde alle Holzkisten durchsuchte. Und nebenbei grübelte er nach, in was für Kisten sich Markus und Bathilde versteckt hatten.
Während es ordentlich holperte und er sich an die Barren klammerte, um nur ja nicht aus der Box zu rutschen, durchforstete er wirklich jede noch so kleine Gehirnzelle, die mit nützlichem bis unnützem Wissen gefüllt waren. Doch ihm fiel absolut kein passender Grund ein. Und leider hatte er in der Hektik, als das Flugzeug zur Landung ansetzte und er die Idee mit den Frachtkisten rausbrüllte, auch gar nicht darauf geachtet, wohin seine Mitreisenden verschwunden waren. Er selbst war in die Kiste direkt neben sich getaucht. Warum lange suchen? Schließlich wollte er ja nicht die nächsten Jahre darin verbringen, also machte eine unbequeme Kurzreise auch nichts aus. Zumindest fast nichts.
Was für ein Geschüttel und Gerüttel! Von dem ganzen Lärm um ihn herum mal nicht zu reden. Menschen riefen Anweisungen, Autos fuhren, irgendwelche Motorengeräusche erklangen. Nur Geisterstimmen hörte er keine mehr. Die Gefahr mit der Geistereinwanderungsbehörde war für ihn also gebannt. Puh, so ein Glück!
Irgendwann gab es einen kräftigen Ruck, danach stand die Kiste still. Auch der Lärm verlagerte sich. Dennoch blieb Aristides vorsichtshalber in der Box. Es konnte ja sein, dass er zunächst auf ein Fahrzeug verladen worden war, auf das noch weitere Kisten gebracht wurden. Und erst wenn alle beisammen waren, brachte man sie in einen Lagerraum. Bis dahin konnte noch immer jemand von der Geistereinwanderungsbehörde an ihm vorbeischweben. Lieber nichts riskieren.
Wehleidig verzog Aristides wieder einmal sein Gesicht. Da würde er sicherlich erneut durchgeschüttelt werden, bis er mitsamt der Metallkiste endlich endgültig eingelagert war. Hoffentlich schaffte er es, sich aus all diesen Edelmetallen zu befreien, ohne wertvolle Geistersubstanz zu verlieren. So eng, wie er mit dem Silber und Gold verbunden war, würde es ihn gar nicht wundern, wenn er entweder Geistersubstanz verlor oder aber Metallsubstanz mitnahm.
Bei der Vorstellung musste er grinsen. Würden Bathilde und Markus ihn wiedererkennen, wenn er einen goldenen oder silbrigen Glanz hatte? Versuchsweise drückte er sich tiefer in die Goldbarren und rieb innen mit dem Körper hin und her. Er nahm sogar einen tiefen Geisteratemzug. Wenn er jetzt noch keine Goldsubstanz angenommen hatte, dann wäre es Pech.
In Gedanken machte er sich eine Notiz, dass er auch das in den Zauberbüchern der Londoner Bibliothek, der British Library, nachsuchen musste: Wie nahm man von Gold etwas Substanz für sein Geisteraussehen an?
Nein, Aristides war nicht eitel. Wirklich nicht. Doch so ein goldener Schimmer war nicht zu verachten. Und bis er im Nichts verpuffte, durfte er sich wohl ein klein wenig Luxus gönnen. Goldschimmergeisterluxus.
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