Kapitel 21
Tatsächlich ging es jetzt sehr schnell. Aristides war überrascht. Doch dieses Mal fühlte er wirklich einen starken Sog, der ihn fast schon magisch quer durch die Abteilung „Hochmittelalter" zog. George brauchte ihm nicht beim Suchen zu helfen. Fast wie von allein fand er den Anker. Den echten Anker!
Mit großen Augen betrachtete er das große Teil, das sich auf einem Podest inmitten des Raumes befand. Unten am Podest war eine silberne Plakette angebracht, auf der stand „Handelsflotte Chorinia". Auf dem Anker selbst war die Jahreszahl 1022 eingestanzt und der Name „Aurore".
Aristides wagte es nicht, den Anker zu berühren. Dabei wusste er genau, dies war sein Anker. Und er ahnte, warum. Von seinem Herrschersitz musste Metall verwendet worden sein, um diesen Anker zu gießen. Darum die Bindung an ihn und auch die Verbindung zu George. Wenn das nicht magisch war!
George trat neben ihn. „Ist das dein Anker?"
„Ja." Aristides nickte.
„Dann ist es jetzt so weit? Du gehst hinüber in deine Erlösung?"
Aristides sah dem Menschen in die Augen. Da war ein Hauch Unglaube, aber auch aufgeregtes Glitzern. Für George Brown war das sicher das spektakulärste Abenteuer seines bisherigen Lebens.
Und was war mit ihm selbst?
Vielleicht hatte er einen viel zu kurzen Abschied von Bathilde und Markus gehabt. Die wenigen Worte hatten nicht annähernd ausdrücken können, wie sehr er ihnen alles Gute wünschte. Doch wäre es wirklich so viel besser, wenn sie jetzt hier wären und er ihren Abschiedsschmerz sehen müsste? Zumindest hoffte er, dass es sie schmerzen würde, wenn er ging. Auch wenn er es ihnen natürlich nicht wünschte, zu leiden, aber jubeln sollten sie auch nicht unbedingt. Immerhin waren sie Freunde.
Markus hatte einen Neuanfang bei der Geisterbehörde und würde dort viele neue Freunde finden. Bathilde wurde von so vielen Geistern geliebt und verehrt, sie käme überall zurecht – ob mit oder ohne Matthew. Und George? Ihn würde er zurücklassen mit dem Wissen, dass er als Nachfahre einer dienenden Familie einem Adligen geholfen hatte, ins jenseitige Jenseits zu gelangen. George Brown konnte stolz auf sich sein.
Eine angenehme Wärme breitete sich in Aristides aus. Ja, jetzt fühlte sich alles gut an. Seine Freunde hatten neue Aufgaben. George Brown hatte den letzten Auftrag erfüllt, den die Adelsfamilie von Aristides noch haben konnte. Das war der perfekte Abschluss eines tausendjährigen Daseins.
Lächelnd sah er auf den Anker. Streckte die Hand aus. Er schloss die Augen, um entspannt und gelöst in die Nicht-Existenz hinüberzugleiten. Eine absolute Ruhe umfing ihn.
„Aristides!", erscholl schrill die Stimme einer nervenden Büchereule. „Du wirst doch wohl nicht verschwinden, ohne eine ordentliche Abschiedsparty zu geben?!"
Erschrocken zuckte der Geist zusammen und drehte sich ungläubig um. Da stand sie, Bathilde, die Arme in die Seiten gestemmt, und starrte ihn durch ihre viel zu große Eulenbrille zornig an.
„Außerdem ist Markus gar nicht hier. Du kannst ihn doch nicht zum ältesten Geist machen, ohne dass er dabei ist?!"
Wieder zuckte er zusammen, dieses Mal, weil ihn ein klitzekleines schlechtes Gewissen überkam.
„Was ist los?", fragte George überrascht. „Ist es doch der falsche Anker?"
„Sag es ihm!", forderte Bathilde und schwebte aufgebracht näher heran. „Erkläre ihm, dass du deine Freunde grußlos verlassen wolltest. Absolut unhöflich für einen Geist, der als Mensch adlig gewesen sein soll."
„Was heißt hier gewesen sein soll? Ich war adlig!"
„Äh, Aristides, sind deine Freunde hier? Redest du gerade mit ihnen?"
„Freunde, pah, da gibt es einen perfekt zutreffenden Spruch", ereiferte sich Bathilde, „wer solche Freunde hat, der braucht keine Feinde mehr. Uns einfach verlassen, ohne ordentlich Abschied zu nehmen." Sie klang eindeutig eingeschnappt.
„Aristides? Was ist denn nun?"
Aristides überkam eine unglaubliche Müdigkeit.
Ein Anker, den er nicht berühren durfte.
Eine beleidigte Büchereule, die aufgebracht herumzeterte.
Ein Mensch, der keine Geister sah und hörte als nur ihn.
Und das alles fühlte sich noch unglaublich viel besser an als vorhin.
Vielleicht sollte er erst einmal eine Runde schlafen. Danach konnte er entscheiden, ob er eine Party feiern wollte oder gemeinsam mit George die Welt erkunden oder mit Bathilde die Geisterbibliothek neu sortieren oder mit Markus Spährenenergietraining absolvieren. Denn der Anker, der stand groß und schwer und sicher in der British Library. Er musste ihn ja nicht gleich heute anfassen.
Gähnend schwebte er davon.
„Aristides! Wo gehst du hin? Du kannst nicht einfach flüchten!"
„Aristides, du sagst gar nichts mehr. Ist irgendwas schief gelaufen? Meinte Merlin vielleicht doch einen anderen Anker?"
Ohne seine beiden Freunde zu beachten, schwebte er weiter. Er hatte vorhin irgendwo ein Bett gesehen, worin die Herrscher früher geschlafen hatten. Genau das würde er jetzt benutzen. Er war tausend Jahre alt. Er hatte sich ein Nickerchen verdient.
Mit einem seligen Lächeln steuerte er auf das altehrwürdige Bett zu, legte sich hinein und grinste zufrieden. Das letzte, was er sah, ehe er in einen erholsamen Schlummer fiel, waren die überraschten Gesichter von Bathilde und George. Nie zuvor hatte er sich so glücklich gefühlt. Er hatte Freunde. Er kannte nun den Weg in sein jenseitiges Jenseits. Und er wagte endlich, offen zu zeigen, dass ein tausendjähriger Geist müde einschlafen konnte.
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Insgesamt: 27.168 Wörter
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