Kapitel 20

Kaum dass sie sich der Ausstellung über Zauberei näherten, konnte Aristides eine steigende Aufregung spüren. Irgendwie sagte ihm sein Geistergefühl, hier waren sie richtig. 

„Du flackerst", flüsterte George. „Spürst du deinen Anker?" 

„Ich weiß nicht", flüsterte Aristides zurück. Ihm wurde bewusst, dass er gar nicht flüstern brauchte. Immerhin konnten die Menschen ihn nicht sehen und hören. „Ich habe so ein Gefühl, als ob wir hier richtig sind", sagte er dieses Mal in normaler Lautstärke. „Dabei habe ich immer nach Geisterzauberbüchern gesucht. Vielleicht war das der falsche Ansatz." 

„Wahrscheinlich", stimmte George zu. „Der Anker ist ein Gegenstand aus deinem Menschenleben. Du musst ihn also bei menschlichen Gegenständen suchen und nicht bei geisterhaften Gegenständen." 

„Was ich nicht verstehe, weshalb sollte ein Zauberbuch mein Anker sein? Als Mensch habe ich mich nicht mit Zauberei beschäftigt. Das war undenkbar!" 

George zuckte mit den Achseln. „Darauf weiß ich auch keine Antwort. Lass uns reingehen und nachsehen. Vielleicht ist Merlins Buch gar nicht dein Anker. Es kann ja sein, dass dieses Gefühl in dir nur daher kommt, weil du spürst, Merlins Buch gibt dir Antworten oder den richtigen Zauberspruch für deine Erlösung." 

Aristides nickte und eilte voraus. Er wollte es endlich hinter sich bringen. Diese andauernde Ungewissheit brachte seinen gesamten Energiehaushalt durcheinander. Wenn sie nicht bald etwas fanden, musste er sich beschämenderweise zurückziehen für eine Pause. Er spürte neben dem andauernden Kribbeln nämlich eine anwachsende Schläfrigkeit. Auf gar keinen Fall wollte er hier vor allen Bibliotheksgeistern umkippen und einschlafen! So wollte er der Nachwelt nicht in Erinnerung bleiben. 

Grün gefliester Boden erwartete ihn, als er durch den dunkelgrünen Vorhang eintrat, dunkelbraune Holzregale und Vitrinen aus braunem Holz, die von Kristalllüstern ausgeleuchtet wurden. Zwischen den Bücherregalen hingen Bilder von magischen Tieren, es gab auch Köpfe von Einhörnern und Drachen. Eine dunkle, magische Atmosphäre lag über dem riesigen Raum und sogleich glitt ein Schauer durch Aristides' Körper. 

„Ehrfurchtgebietend, nicht wahr?", fragte George. 

Aristides nickte. Langsam schwebte er die Regale entlang. Irgendwo musste doch das Buch sein, das ihn hierher gelockt hatte. Konnte es sein, dass es für den Menschen einen Anker gab und einen zweiten für den Geist? So eine Art Hilfsanker, falls der erste ausfiel? 

Nach drei Bücherregalen hielt er seufzend an. So kam er nicht weiter. Es waren viel zu viele Bücher. Und alle sollten mit Zauberei zu tun haben? Er hatte gar nicht gewusst, dass Menschen, die nicht an Magie glaubten, dennoch so viele Schriften darüber besaßen. 

Er schwebte zu George hinüber. „Wo ist Merlins Buch?" 

„Du spürst also nichts?", fragte der Mensch mitfühlend. „Also ich meine, nichts Besonderes?" 

„Ja, der gesamte Raum erfüllt mich mit einem Prickeln. Ich kann es nicht auf eine einzelne Sache eingrenzen." 

Nun schritt George Reihe um Reihe ab. Anscheinend kannte er die Bücher dieser Ausstellung ebenfalls nicht. Wenn man bedachte, dass er im Kellergeschoss arbeitete, war das sicher nicht verwunderlich. Trotzdem entmutigte das Aristides ein klein wenig. Er hatte angenommen, dass George Brown ein Experte war. Aber was Zauberbücher betraf, hatte er wohl keine Ahnung. Schade. 

„Hier", rief George plötzlich und einige Menschen drehten sich erstaunt zu ihm um. „Entschuldigung", sagte er sofort, „ich habe mich nur so gefreut, dass ich mein gesuchtes Buch gefunden habe." 

Die Menschen lächelten und widmeten sich wieder den eigenen Interessensobjekten zu. George atmete erleichtert auf. 

Rasch schwebte Aristides zu ihm. Ja, hier war das Gefühl ein klein wenig stärker als im restlichen Raum. Wirklich überzeugend war es dennoch nicht. 

„Kannst du das Buch herausholen und aufschlagen?" 

George nickte und tat Aristides den Gefallen. 

„Blättere ein wenig herum. Gibt es ein Inhaltsverzeichnis?" 

Schweigend blätterte George zum Inhaltsverzeichnis. Wahrscheinlich wagte er nicht, zu sprechen, weil er nicht schon wieder die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Aber im Augenblick war Aristides das egal. Er stand nun unter höchster Anspannung. Die Erlösung, nein, die Nicht-Existenz war greifbar nahe. 

Aristides las die einzelnen Kapitelüberschriften. Dann stutzte er. „Heimkehr. Das klingt gut, schlag es bitte auf." 

George folgte der Bitte und beide schauten mit Spannung, was wohl unter dem Titel geschrieben stand. Überrascht sahen sie einander an. 

„Ein Gedicht?", sagte Aristides irritiert. „Noch dazu nicht gereimt?" 

*** 

Die See ist stürmisch und wild. 

Das Schiff von den Winden gebeutelt. 

Der Anker sorgt für den letzten Halt. 

Holt ihn ein, sonst sinkt das Schiff. 

Der Hafen ist nah. 

Seht, dort ist Chorinia! 

*** 

„Chorinia", hauchte Aristides. 

Er streckte seine Finger aus und strich über das Wort. Merlin hatte die Insel gekannt? Das leichte Kribbeln, das durch den Finger glitt, schenkte dem Geist eine beruhigende Leichtigkeit. 

„Was ist mit Chorinia?", fragte George. 

„Hier steht es." Aristides tippte auf das Wort. 

„Chorinia? Nein, da steht Camelot", widersprach George. 

„Camelot? Willst du sagen, dass ich nicht lesen kann?" Aristides blickte leicht verärgert. 

Statt zu antworten, las George das Gedicht halblaut vor, das in dem Buch vor seinen Augen stand. 

*** 

Die See peitscht gegen Berg und Tal. 

Dem Schiff droht tosender Untergang. 

Werft den Anker, lasst die Boote zu Wasser. 

Flieht an Land und rettet euch. 

Seht dort oben auf dem Felsen. 

Camelot! 

***  

Aristides blickte George misstrauisch an. „Das hast du dir doch gerade ausgedacht. Hier steht ein ganz anderer Text." 

„Kannst du einen Geist herbeirufen?", fragte George. „Bitte ihn, dir das Gedicht vorzulesen." 

„Damit er glaubt, dass ich nicht lesen kann?" 

„Und wenn schon, sobald du erlöst bist, kann es dir egal sein, ob ein Geist in der British Library glaubt, dass du Analphabet bist." 

Aristides schimpfte zwar ein wenig vor sich hin, schwebte aber dennoch zu einem der Bibliotheksgeister. Der war sehr hilfsbereit und kam direkt mit ihm zu dem Buch, das George noch immer aufgeschlagen trug. Der Geist las das Gedicht vor und sehr zu Aristides' Bestürzung war es derselbe Text wie von George. 

„Danke", murmelte er und versuchte ein Lächeln. Es fiel eher zaghaft aus. Der Bibliotheksgeist erwiderte das Lächeln und schwebte zurück zu seinem Platz. 

„Und jetzt?" Aristides hatte ein flaues Gefühl im Bauch. 

„Jetzt gehen wir zurück in die Frühmittelalterabteilung. Es sei denn ..." 

„Es sei denn?" 

„Es sei denn, du erinnerst dich daran, dass es dort keinen Anker gab." 

„Entschuldigung", mischte sich ein Geist ein, der wohl zufällig mitgehört hatte. Aristides zuckte zusammen. Ja, hatten denn alle gelauscht? Gab es gar keine Privatsphäre in der Bibliothek? „Es gibt in der Abteilung Hochmittelalter einen Anker von einer Schiffsflotte aus Chorinia. Falls ihr so etwas sucht." Der Geist lächelte freundlich. 

„Danke", sagte Aristides und erwiderte das Lächeln. Dieses Mal fiel sein Lächeln sogar etwas beherzter aus. 

Er wandte sich dem Menschen zu. „George, mein Ziel ist das Hochmittelalter." 


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