Kapitel 2
„Laaangweilig." Aristides machte keinen Hehl aus seiner Meinung. „Total laaangweilig!"
„Jetzt sei endlich still", zischte Bathilde ihm zu. Bathilde, die Büchereule, mit der riesengroßen Brille, die früher mal Bibliothekarin war. So vor fünfzig oder hundert Jahren. Ein junges Küken also, die ihm gar nichts zu sagen hatte.
„Boah, gleich schlafe ich ein." Er gähnte extra laut und hob demonstrativ die Hand vor den Mund.
„Wäre eine gute Idee", murmelte Markus, „dann hört man dich wenigstens nicht mehr."
Aristides funkelte Markus wütend an. Der wurde demnächst irgendwas um achthundert Jahre alt. Außerdem hatte der Tricks drauf, von denen Aristides nie gehört hatte. Einige dieser Tricks waren selbst für einen Geist schmerzhaft. Durch diesen boshaften Markus hatte er auch überhaupt erst gelernt, dass Geister Schmerzen empfinden konnten. Mit dem legte man sich besser nicht an. Es gab nun einmal Geister, mit denen selbst Geister nichts zu tun haben wollten.
Markus reagierte gar nicht auf Aristides' dezent rot glühende Augen. Also stellte dieser das Funkeln wieder ab und blickte erneut auf die Frau, die einer Schar von kleinen Menschen erklärte, was man alles aus alten Büchern herstellen konnte.
An einem Tisch bohrten sie Löcher in die Bücher, um dann einen Blumentopf hineinzustellen. Dabei drehte sich dem Geist der unsichtbare Magen um. Die Papierflieger waren vergleichsweise harmlos. Dennoch schüttelte Aristides den Kopf. Was fanden die anderen nur so besonders daran? Ausgerechnet Markus hier anzutreffen, war bereits unglaublich. Obwohl, vielleicht doch nicht. Hier wurden Kostbarkeiten zerstört. Das passte irgendwie zu dem boshaften Geist.
Bei der ausgehöhlten Buchkassette sah er noch irgendwie einen Nutzen. Doch warum mussten einzelne Seiten herausgerissen und zu Ketten verklebt werden? Wieso gefielen den Menschen die Bücher nicht mehr? Er ließ seinen Blick durch die Bibliothek schweifen und seufzte. Anorchena war gewiss keine besonders große Stadt. Da gab es Städte auf der Welt, in die passte seine Wahlgemeinde viermal oder sogar noch öfters hinein. Und wenn es hier schon so unglaublich viele Bücher gab, wie viele gab es dann woanders?
Woanders ... Ihm kam eine Idee. Und das bemerkte auch Bathilde, die ihre riesige Eulenbrille auf der Nase geraderückte. Denn Aristides fing an zu leuchten. Nur ein klein wenig. Das konnten auch nur Geister, die älter als hundert Jahre waren. Bathilde konnte es nicht. Also war sie doch noch keine hundert. Irgendwas zwischen fünfzig und hundert, aber im Moment interessierte das Aristides nicht. Er hatte nun einmal eine Idee. Da war alles andere unglaublich unwichtig. Sogar die Bücher im Stockwerk oben drüber, die noch darauf warteten, dass er sie zurück ins Regal räumte.
„Aristides, mein Guter, ich bin mir nicht sicher, ob deine Idee wirklich gut ist."
„Warum ermahnst du mich, bevor du weißt, um was es geht?"
„Du leuchtest. Das bedeutet bei dir nie etwas Gutes", erklärte Bathilde mit dünkelhaftem Tonfall. Wenn sie so sprach, erinnerte sie ihn an einen dozierenden Dominikanermönch.
„Ach was, du bist voller Vorurteile."
„Denk an den Rathausbrand vor zehn Jahren."
„Danach war keine Leitung mehr eingefroren."
„Und an die Überschwemmung in der Kanalisation, bei der das Abwasser in jedes Haus geströmt ist."
„Papperlapapp, dafür gab es nachher weniger Ratten."
„Und der Stromausfall, der die Stadt eine Woche lahmlegte?"
„Oh, jetzt sei nicht so kleinlich. Das war etwas ganz anderes!" Aristides zog einen Schmollmund. „Das war mein missglückter Versuch mit einer großen Energiemenge diese Existenz zu verlassen."
„Ja, ich erinnere mich", mischte sich Markus ein und nun leuchtete er auch. Das gefiel Aristides gar nicht. Hatte er etwa vor, so etwas zu wiederholen? „Durch diesen heftigen sphärischen Schock wurde ich angelockt. So etwas wahnsinnig Dämliches hat noch kein Geist zuvor ausprobiert. Und ich verstehe immer noch nicht, wieso das nicht geschmerzt hat."
„Tu das nicht!", sagten Aristides und Bathilde im Gleichklang.
Aristides blickte Bathilde aber gleich darauf ärgerlich an. Er mochte es gar nicht, wenn sie denselben Gedanken wie er hatte.
„Ich hab da eine Idee", murmelte Markus und schwebte einfach so davon. Als ob er nicht gerade in einer Unterhaltung gewesen wäre.
Bathilde rüttelte energisch und überaus nervös an ihrer Brille herum.
„Beruhige dich, er wird allerhöchstens einen kleinen Stromausfall verursachen."
„Das soll mich beruhigen?", rief die ehemalige Bibliothekarin mit schriller Stimme. „Die Menschen werden tagelang nicht hierher kommen. Niemand, der meine wundervollen Bücher liest!"
„Oder zerstört", fügte Aristides an und warf den zerrissenen, durchlöcherten, geknickten Büchern und Papieren einen schmerzvollen Blick zu. Etwas so Kostbares einfach so zerstören ... Seitdem die Menschen Computer erfunden hatten, wurden sie immer rücksichtsloser. Oder hatte es nicht bereits mit dem Buchdruck angefangen? Gutenberg hatte es gut gemeint. Aber herausgekommen war eine Verschwendung wertvoller Ressourcen.
„Was ist denn deine Idee?", fragte Bathilde vorsichtig nach. Vielleicht sprach sie so leise, weil sie Angst hatte, noch eine katastrophale Idee hören zu müssen.
„Ich reise nach London!"
„London?"
„Ja, dort gibt es die größte Bibliothek der Welt", erklärte Aristides mit einem breiten Grinsen. „Da finde ich bestimmt Zauberbücher, die mir bei meinem Problem weiterhelfen."
„London", seufzte Bathilde ergeben. „Na schön, dann eben nach London."
„Habe ich London gehört?" Wie ein roter Pfeil kam Markus herangeschossen. „Die Stadt von Jack the Ripper? Was für eine grandiose Idee! Besser als meine!"
Aristides blickte verwirrt. „Äh, also, was soll das denn heißen?"
Markus schlug ihm kräftig auf die Schulter. Verflixt, das tat weh. Wie schaffte er das nur? Hatte er irgendeine Spezialfähigkeit, die nur besonders böse Geister bekamen?
„Ich komme natürlich mit. Den Spaß lasse ich mir doch nicht entgehen." Er wollte noch einmal auf Aristides' Schulter schlagen, doch dieser wich zurück. „Außerdem bin ich dann hautnah dabei, falls es dir tatsächlich gelingt, zu verpuffen. Ab dann bin ich der älteste Geist."
Aristides rollte mit den Augen. War ja klar. Natürlich musste Markus ihn überwachen. Was sonst.
„He-rm", machte Bathilde. Für ein Räuspern klang das aber ganz schön lahm. „Wir."
„Was wir?" Markus taxierte die Büchereule fast schon respektlos ab. „Du bist garantiert nicht zusammen mit mir der älteste Geist."
„Das meinte ich auch nicht", erwiderte sie gekränkt, „sondern wir kommen mit." Sie wandte sich an Aristides. „Wie du schon richtig bemerkt hast, ist dort die größte Bibliothek der Welt. Da hätte ich schon längst hinreisen sollen."
Nun rollten Aristides und Markus mit den Augen. Diese Junggeister taten immer so, als ob sie endlos viel verpasst hatten, wenn sie mal ein oder zwei Jahrzehnte im gleichen Gebäude zugebracht hatten.
„Und wie kommen wir dahin?"
Ja, das war wirklich eine gute Frage. Menschen konnten einfach so von Ort zu Ort reisen. Aber bei Geistern war das schon etwas anders. Sie mussten beim Aufsichtsrat der Geister einen Antrag auf einen zeitlich begrenzten Umzug stellen. Der prüfte und genehmigte oder lehnte ab, je nachdem, wie viele Geister bereits am Wunschort waren. Zu viele Geister bedeuteten nämlich ein Überangebot an sphärischer Energie, was zu abstehenden Haaren führen konnte, aufgeladenen Wollpullovern, explodierenden elektrischen Geräten und im schlimmsten Fall zum Zusammenbrechen des gesamten Stromnetzes.
„Die lassen uns nie nach London", sagte Aristides mit unheilsschwerer Stimme. Sie klang so düster, dass Bathilde schauerte.
„Mich bestimmt nicht", gab Markus nachdenklich zu, „sie haben mich für alle größeren Städte gesperrt. Eigentlich soll ich meinen nächsten Urlaub in der Wüste oder im Dschungel machen. Irgendwo dort, wo es keine Stromleitungen gibt."
„Dann bleibt uns nur eins." Bathilde richtete sich hoch auf und rückte ihre Brille zurecht. „Wir fliehen heimlich! Und ich weiß auch schon wie."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top