Kapitel 17
Aristides setzte sich und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. Bislang war er gar nicht zufrieden. Wenn er Bathilde richtig verstanden hatte, gab es wirklich hilfreiche Bücher nur in der Londoner Geisterbehörde. Da ließen sie ihn sicherlich nicht so einfach herein wie in der British Library. Und wenn sie dann noch herausfanden, dass er mit Markus zwei Stapel Bücher ruiniert hatte, war er ganz sicher für sein komplettes Geisterdasein von allen hochwichtigen Büchern ausgesperrt.
George Brown stellte die Stühle rechts und links an den Tisch. Dann blickte er zu Aristides hin. „Ist Bathilde weg?"
„Ja."
„Okay", meinte er, „das macht es für dich wahrscheinlich einfacher. Jetzt musst du nicht Übersetzer spielen."
Der Mensch setzte sich und lehnte sich gemütlich zurück. Er wirkte total entspannt und gelassen. Dabei hatte er eben erst erfahren, dass er Geister – nun, zumindest einen Geist sehen konnte. Wieso war er nicht aufgeregter oder nervöser oder lief unruhig auf und ab?
„So, dann fangen wir mal an", sagte George Brown. „Es muss einen Grund geben, warum ich ausgerechnet dich sehen kann, aber keinen deiner Freunde. Gibt es eigentlich noch mehr Geister hier im Raum oder in der Bibliothek?"
„Hier im Raum nicht", antwortete Aristides, „zumindest in diesem Moment nicht. Da aber meine Bücher von gestern nicht mehr auf dem Tisch sind, haben irgendwelche Bibliotheksgeister sie zurückgestellt."
„Und wo stehen die Bücher?"
„In den Regalen natürlich."
Der Mensch sah sich interessiert um. „In diesen Regalen?"
„Ja, klar. Geisterbücher eben. Die kannst du so wenig sehen wie Geister."
„Ist schon irgendwie sonderbar, findest du nicht? Ich kann dich sehen. Ich kann deine Kleidung sehen. Aber ich kann kein Buch sehen, das du in der Hand hältst." Er beugte sich vor. „Hast du zufällig ein Taschentuch in der Tasche deines Jacketts?"
Aristides schüttelte den Kopf. „Wir Geister brauchen kein Taschentuch. Wir werden nicht krank."
„Friert ihr denn? Oder warum braucht ihr Kleidung?"
Aristides errötete. Sehr dezent nur. Doch der Gedanke, nackt über die Erde zu schweben, war ihm peinlich.
„Ah ich verstehe." George grinste. „Anerzogene Schamhaftigkeit. Wenn ich einen Geist im tiefsten Urwald sehen könnte, wäre der wahrscheinlich nackt oder nur mit Lendenschurz bekleidet."
„Vielleicht." Aristides war sich nicht sicher. Kulturreisen hatte er nie unternommen. Doch viel interessanter war Georges Entdeckung, dass manche Dinge an seinem Körper für den Menschen sichtbar waren, andere jedoch nicht. „Ich probiere mal was aus."
Aristides seufzte, als er an sich herunter blickte. Am besten fing er mit etwas Leichtem an, sein Jackett zum Beispiel. Er erhob sich, knöpfte es auf und zog es aus.
„Das kannst du alles sehen?"
„Ja, du hast dein Jackett ausgezogen."
Aristides nickte zufrieden. Er legte es auf den Tisch.
„Jetzt hast du es auf den Tisch gelegt." George streckte die Hand aus und griff danach. „Ja, ein ganz normales Jackett. Etwas veraltet und mit einigen Rissen, aber sonst nicht außergewöhnlich."
„Interessant", murmelte Aristides. Er schwebte zu den Regalen, nahm ein Buch und drückte es sich auf die Brust. „Siehst du zumindest einen Schimmer vom Buch?"
George schüttelte den Kopf.
„Hm, vielleicht müsste ich es länger am Körper tragen, damit es Substanz von mir aufnimmt und sichtbar wird."
„Gibt es hier denn ein Taschenbuch, das du in deine Hosentasche stecken könntest oder in die Tasche vom Jackett? In ein paar Tagen könnten wir es überprüfen."
„Gute Idee." Aristides legte das Buch auf den Tisch, schnappte sich sein Jackett und zog es wieder an.
„Das klärt aber immer noch nicht, weshalb ich ausgerechnet dich sehe. Hast du zufällig Verwandte in England? Bist du auf einem Friedhof in der Nähe beerdigt?"
„Ich bin seit tausend Jahren tot", erklärte Aristides.
„Stimmt, das hattest du erwähnt. Aber da wollte ich dir noch nicht glauben", murmelte George. Laut sagte er: „Das ist eine sehr lange Zeit. Hast du deine Nachfahren eigentlich beobachtet? Vielleicht bin ich ja dein Urururenkel."
„Ich hatte nur eine Tochter, die ist kurz nach der Geburt gestorben. Danach bekam meine Gemahlin kein Kind mehr. Also kannst du kein Nachfahre von mir sein."
„Geschwister, du hattest bestimmt Geschwister und die hatten Kinder."
„Einzelkind. Und wenn du jetzt nach Tanten und Großonkeln fragst, dann kannst du auch gleich auf die ganze Menschheit ausdehnen. Irgendwann gab es irgendwo das erste Menschenpaar und daraus haben sich alle entwickelt. Also sind wir alle miteinander entfernt verwandt."
„Ich verstehe", brummelte George enttäuscht und lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück. „Da müssten dich alle sehen, nicht nur ich. Also hat es mit Blutsverwandtschaft nichts zu tun."
Ein Piepen an Georges Armbanduhr schreckte beide aus ihrem nachdenklichen Sinnen.
„Was ist das?" Aristides blickte erschrocken.
„Ach, das ist mein Timer, dass ich meine Runde drehen muss." Er griff an seine Seite und runzelte die Stirn. „So ein Mist! Ich hab mein Funkgerät vergessen. Na hoffentlich gibt das keinen Ärger."
„Wieso Ärger?"
„Auf jedem Gerät steht eine Nummer, damit man weiß, wem es gehört. Meins haben deine Freunde doch beschädigt und ich hab es im Foyer fallenlassen. Das hat irgendein Mitarbeiter sicher längst aufgehoben. Und die haben mich nur deshalb nicht informiert, weil sie ..."
„... dich nicht anfunken können", vollendete Aristides den Satz. „Klar. Ich verstehe."
„Ich gehe dann mal los. Begleitest du mich?"
„Lieber nicht", sagte Aristides.
„Du hast recht", stimmte George sofort zu. „Wir können beide nicht still sein, wenn wir einen Gesprächspartner haben."
Sie grinsten einander verstehend an. Dann stand George seufzend auf und machte sich auf den Weg. Aristides blickte ihm hinterher. Er mochte den Londoner Bibliotheksangestellten. Er war mutig, klug und hatte auch keine Probleme damit, Schwächen einzugestehen.
Schließlich griff er zu dem Buch und stellte es ins Regal zurück. Er blickte die lange Reihe an Büchern entlang. So viele Aufzeichnungen über alle möglichen Themen. Doch niemand war hier, um zu lesen. Das ganze gesammelte Wissen verstaubte und keiner interessierte sich dafür. War das nicht furchtbar?
„Die Spezialsammlung ist in der Londoner Geisterbehörde, wo sie nicht jeder zwischen die Finger kriegen kann", murmelte er gedankenverloren. „Spezialsammlung. Und was ist das hier?"
Er griff zu einem Buch. „Von Kräutern und geistreichen Elixieren."
Er schnappte sich das nächste. „Katzen und ihre Hexen."
Danach kam: „Blocksberg – eine geisterhafte Verschwörung."
„Oje, es gibt wirklich Werke, die möchte ich meinem ärgsten Feind nicht antun."
Er schwebte weiter und stellte fest, dass es gar keine Ordnung gab. Liebesromane standen zwischen Ratgebern, Horrorfantasien zwischen Bilderbüchern.
„Bilderbücher?" Irritiert zog er eines heraus. Tatsächlich. Ein herzallerliebstes Bilderbuch für die ganz Kleinen. Er hatte nie darüber nachgedacht, aber selbstverständlich gab es auch Babys oder Kleinkinder, die starben. „Auf die passen Bathildes Erlösungstheorien nun wirklich nicht."
Hastig schob er das Buch zurück, als ihm ein neuer Gedanke kam. Vielleicht war jemand anderes Zielgruppe für diese Bücher: eine bei der Geburt verstorbene Mutter, die nicht vom Erdendasein loslassen wollte, weil sie ihr lebendes Kind so sehr liebte und vermisste. Und sie fand Trost in so einem Bilderbuch.
Allmählich sickerte es in sein geisterhaftes Bewusstsein, dass er in den vergangenen tausend Jahren Schabernack mit Tieren getrieben hatte, Unmögliches ausprobiert hatte wie das Zählen von Sandkörnern, mit den Störchen auf den Winden bis Afrika zu gleiten versucht hatte und auf den Wellen der Ozeane bis nach Amerika zu gelangen versuchte. Als er dann angefangen hatte, Bücher zu schreiben und damit das Geisterreich auf eine gewisse Art modernisierte, war ihm nicht in den Sinn gekommen, Kontakt zu den Lesenden oder seinen Mitschreibern aufzunehmen.
Aristides ließ die Schultern hängen und schlurfte zu seinem Stuhl zurück. Schwermütig ließ er sich darauf plumpsen.
„Ich hatte noch nie Freunde, hat Markus gesagt", murmelte er bedrückt. „Aber hatte ich denn welche? Eigentlich war Bathilde meine erste Freundin, weil sie sich so liebevoll um meine Bücher gekümmert hat. Da ist sie mir aufgefallen. Doch davor hab ich immer nur für mich allein gelebt. Ich war und bin ein durch und durch egoistischer Geist."
Mit einem Mal erinnerte er sich an sein missglücktes Stromexperiment. Bathilde hatte bei allen Befragungen sachlich erklärt, wie gefährlich so ein Stromexperiment sei und wie unsinnig. Ihre Worte waren in der ganzen Geisterwelt verbreitet worden. Daraufhin hatte sich Markus neugierig auf den Weg nach Anorchena gemacht, um den durchgeknallten Geist kennenzulernen, der so ein hirnrissiges Experiment durchgeführt hatte, und war geblieben. Er erinnerte sich an Leserunden in der ehrwürdigen Anorchenaer Bibliothek, wo Bathilde aufmerksam lauschenden Geistern vorgelesen hatte. Da waren nicht nur er und Markus gekommen, viele Geister, auch vom Festland, fanden den Weg nach Anorchena. Und hatte nicht ein Bibliotheksbesucher den Londonern Bescheid gegeben, dass Bathilde eintreffen würde mit einem Frachtflugzeug? Bathilde war wirklich beliebt. Eigentlich müsste der Mensch sie sehen.
Aristides versank gerade in eine richtig schöne Selbstmitleidsphase, wie es sich für einen durch und durch egoistischen Geist gehörte, da kam ein rotgolden glühender Markus herbeigeschossen.
„Du glaubst es nicht!", rief er und seine Augen leuchteten vor Freude. „Matthew nimmt mich mit zur Geisterbehörde. Ich komme da zu Spezialkursen und lerne, fiesen Kerlen wie Jack the Ripper klarzumachen, dass ich kein Hinterwäldler bin!"
Fast zur gleichen Zeit schwebte Bathilde von der Decke herunter, wo sie zuvor verschwunden war. „Ich habs herausgefunden!", jubelte sie und strahlte rosagoldenzuckrig. „George Browns Vorfahren stammen aus Chorinia!"
Zu allem Überfluss kam genannter George zur Tür herein und rief leutselig: „Runde beendet, Aristides, neues Funkgerät bekommen, wo waren wir stehengeblieben?"
Richtig, er konnte die anderen glückselig strahlenden Geister gar nicht sehen.
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