Kapitel 16
Natürlich waren sich der älteste Geist des Universums und die klügste Büchereule von Europa einig. Wenigstens dieses Mal. Kein Mensch durfte erfahren, was in der Geisterwelt so ablief.
„Vielleicht kann er es so schreiben, als ob es ein fantastisches Abenteuerbuch ist", schlug Bathilde vor, während sie zum Fahrstuhl unterwegs waren. Da George nicht durch den Boden gleiten konnte, mussten sie natürlich den Fahrstuhl nehmen, um in die Kelleretagen zu gelangen.
„Wenn du alles, was du mit mir erlebst, wie einen Geisterroman, also eine Fantasy schreibst, dann wäre das sicher in Ordnung", schlug Aristides diplomatisch vor. Er kassierte einen Seitenhieb von Bathilde und fügte rasch hinzu: „Die Idee hatte Bathilde."
„Eine gute Idee", stimmte George zu. „Bei einem Tatsachenbericht würden mich alle für verrückt halten. Da käme ich vielleicht sogar in die Psychiatrie."
Bathilde und Aristides nickten eifrig, auch wenn der Mensch Bathilde gar nicht sehen konnte. Schweigend schritten sie den langen, weißgefliesten Gang im untersten Kellergeschoss entlang, oder jedenfalls schritt George, die anderen beiden schwebten, bis sie zum Bücherraum kamen, wo Aristides am Tag zuvor glückselig gelesen hatte.
Ein schlechtes Gewissen befiel den Geist, als sie durch die Tür gingen – und natürlich schwebten. Schließlich war er schuld, dass es jetzt einige Bücher weniger gab. Der Stapel, den er Markus anvertraut hatte, war wahrscheinlich nicht mehr zu retten.
Mit Staunen stellte er fest, dass der Tisch am hinteren Ende des Raumes leer war.
„Aufgeräumt", sagte er verblüfft.
„Was meinst du?" Sowohl Bathilde als auch George sahen ihn fragend an.
„Als ich mit Markus gefloh... ähm, mich auf die Suche nach Jack machte, haben vier Stapel Bücher auf dem Tisch gestanden."
„Die haben die Bibliotheksgeister doch längst weggeräumt." Bathilde blickte ihn kopfschüttelnd an. „Hier herrscht Ordnung und Sauberkeit. In der gesamten Bibliothek. Nicht nur im Bereich der Menschen."
„Ich weiß ja nicht, wie ihr Geister es macht", sagte George und warf einen Blick zum Tisch, bei dem nur ein Stuhl stand. „Ich brauche auf jeden Fall einen Stuhl. Stundenlang herumstehen, ist nichts für mich. Da hätte ich Grenadier Guard werden können."
„Grenadier Guard?"
„Ja, das ist die Wache vor dem Buckingham Palace. Die kennst du nicht? Die gibt es schon seit dem siebzehnten Jahrhundert." George war überrascht.
„Genauer gesagt seit 1656", fügte Bathilde mit spitzem Tonfall hinzu. „Das ist Allgemeinbildung. Aber vor tausend Jahren war das natürlich noch nicht allgemein bekannt."
Kaum hatte sie es gesagt, kicherte sie albern. Was an diesem Satz mochte sie bloß an Matthew erinnert haben? Oder kicherte sie aus noch einem anderen Grund? Aristides wollte es lieber nicht wissen.
„Ich hole mir dann rasch einen Stuhl", sagte George. „Und einen für die Lady. Bathilde, richtig?"
„Lady hat er gesagt." Bathilde kicherte schon wieder und färbte sich erneut so zuckerrosarot. Allmählich nahm das bedrohliche Ausmaße an. Fand zumindest Aristides.
George Brown drehte sich um und verließ den Raum. Nun war Aristides mit Bathilde allein. Intensiv musterte er die Büchereule.
„So, du glaubst also, zu wissen, wie ich in die Nicht-Existenz gelange?"
„Ja." Bathilde strahlte. „Das ist sogar sehr einfach."
Aristides konnte die Zuversicht nicht wirklich teilen. So ähnlich hatte Bathilde auch gesprochen, als es um die Reise nach London ging. Und herausgekommen war ein unbequemes Frachtflugzeug.
„Du bist an ein lebensbindendes Versprechen gebunden", erklärte sie mit stolzgeschwellter Brust.
Aristides sagte gar nichts. Er blickte sie nur mit großen Augen an.
„Ich merke schon, das hat dir die Sprache verschlagen. Aber wir hätten da gleich draufkommen können. Warum sind alle anderen Geister bereits so früh in die Nicht-Existenz verschwunden? Weil sie ihr Versprechen einlösen konnten und damit hinübergehen durften. Du musst dich also selbst erlösen, indem du das Versprechen, das du zu Lebzeiten gegeben hast, einlöst."
Aristides sagte noch immer nichts. Dafür seufzte er umso nachdrücklicher. Was für ein blödsinniger Einfall! Als ob er nach über eintausend Jahren noch wusste, was er mal als Mensch für ein Versprechen gegeben hatte.
„Ja, ich war auch fassungslos, als ich davon las."
Ha! Da hatte sie es selbst gestanden, sie hatte es gelesen. Dieses Mal wohl in einem Geisterkrimi. Als ob ihm die Fantasiegeschichten eines menschlichen Autors helfen konnten!
„Die Spezialsammlung der Geisterbehörde von London ist aber auch unglaublich. Dass sie die nicht hier in der British Library unterbringen, wo jeder sie zwischen die Finger kriegen kann", sie warf Aristides einen mahnend-vorwurfsvollen Blick zu, „ist absolut vernünftig."
„Spezialsammlung?" Nun wurde Aristides doch hellhörig.
„Ja, seit vielen Jahrhunderten forschen Geister auf aller Welt nach dem Grund, weshalb einige Geister direkt nach dem Tod ins jenseitige Jenseits gelangen, andere aber erst nach Jahrhunderten."
„Und da trafen sie auf das lebensbindende Versprechen?"
„So ungefähr."
„Und was hält dich hier fest? Ich meine, so alt bist du noch nicht. Du müsstest noch wissen, was du zu Lebzeiten versprochen hast."
Bathilde fing an zu flackern. Ein ziemlich deutliches Zeichen, dass sie unsicher war. Damit zerbröselte die Hoffnung in Aristides, die sich gerade erst festigen wollte. So einfach war es wohl doch nicht.
„Also manchmal ist es auch eine alte Schuld, die gesühnt werden muss. Oder man hat sich so innig ans Leben geklammert, dass man sozusagen erst den letzten Faden zum Menschsein zerschneiden muss, ehe man wirklich im diesseitigen Jenseits landet und direkt hinüber ins jenseitige Jenseits kann."
„Aha."
Aristides wartete ab, ob ihr noch Dreimillionen weitere Möglichkeiten einfielen, die ihn in der endlosen Ewigkeit festhielten. Bislang klang keine einzige so, als ob sie ihm ernsthaft halfen.
Wenn er vor über tausend Jahren eine Schuld auf sich geladen hatte, fand er wohl kaum noch jemanden, bei dem er um Entschuldigung bitten konnte. Und so ein bindendes Versprechen hatte mit Sicherheit ein Ablaufdatum. Diesen Lebensfaden, na, den hatte er spätestens an seinem tausendsten Todestag zerschnitten, als er sich sehnlichst wünschte, diese Existenz verlassen zu dürfen. Denn warum sollte er ins jenseitige Jenseits wollen, wenn er sich in Wirklichkeit ins Menschenleben zurück wünschte?
„So, da bin ich wieder", meldete sich George Brown und kam tatsächlich mit zwei Stühlen den Gang hinunter zum Lesetisch. „War gar nicht so leicht, welche zu finden. Ist mir vorher nie aufgefallen. Aber hier im untersten Kellergeschoss sind Stühle wirklich eine Seltenheit. Ist aber auch kein Wunder. Hier gibt es nur leere Regale."
„Regale voller Geisterbücher", erklärte Bathilde mit leicht verschnupft klingender Stimme.
War sie jetzt etwa beleidigt, weil er ihre Ideen nicht gut fand? Dafür konnte Aristides doch nichts, wenn sie nur Sachen im Angebot für Junggeister hatte.
„Er kann dich nicht hören."
„Dann wiederhole es für ihn", erwiderte sie schnippisch.
„Ich denk ja gar nicht dran. Wenn du mit ihm reden willst, lass dir was einfallen."
Bathilde fing an zu flackern. Dann drehte sie sich um und schwebte einfach davon. Nach oben durch die Decke.
„Ja, flüchte ruhig!", rief Aristides ihr hinterher. „Dann kann ich deinen Stuhl ja für meine Füße nehmen!"
„Mach doch. Unzivilisierte, senile Geister müssen wahrscheinlich die Beine hochlegen." Mit diesen Worten war sie verschwunden und Aristides ärgerte sich, weil sie das letzte Wort gehabt hatte. Wo war bloß der Respekt vor dem Alter geblieben?
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