Kapitel 15

Aristides blickte Markus ungläubig an. „Wie bitte? Noch nie?" 

„Sie reden jetzt gerade wieder mit Ihren Geisterfreunden, habe ich recht?", fragte George Brown vorsichtig nach. 

„Nun ja, fast nie, es ist schon einige Jahrhunderte her", sagte Markus etwa zeitgleich. 

Bathilde schüttelte den Kopf. „So geht das nicht. Ihr könnt doch nicht durcheinander reden. Außerdem kommen gleich die ersten Besucher, da muss es hier leiser und gesitteter zugehen." Sie rückte an ihrer Eulenbrille herum. „Aristides, was ist das da vorn für ein trauriger Haufen Papier? Markus, bist du dafür verantwortlich?" 

„Ja, ich rede mit meinen Geisterfreunden", sagte Aristides zum Menschen gewandt. Dann blickte er Bathilde an. „Bei den Büchern ist Markus und mir wohl ein Missgeschick passiert, als wir Jack the Ripper gesucht haben." 

„Jack the Ripper?" Matthew starrte sie mit großen Augen an. „Ihr habt den durchgeknallten Einsiedler gefunden? Wir suchen ihn seit fast elf Jahren vergeblich. Er ist immer weg, wenn wir sein Versteck ausfindig gemacht haben." 

Markus sagte hastig: „Ich bringe mal die kaputten Bücher zur Reparatur." 

Schon schwebte er hin, schnappte sich den Papierhaufen, so gut es ging, und eilte davon. Aristides hob den Kopf und sah schräg nach oben in die Luft. Er wollte schon mit einer Hand an sein Kinn greifen für die perfekte Denkerpose, als ihm Markus' Worte dazu einfielen. Damit wirkte er wie ein psychisch kranker Geist und nicht wie ein intensiv beschäftigter Gelehrter. 

„Vielleicht solltest du vorsichtshalber Markus folgen", schlug Bathilde mit sanfter Stimme vor und strich noch sanfter über Matthews Arm. „Ich bin nach wie vor der Meinung, wenn ihr ihn bei euch in das Lernprogramm aufnehmt, können beide Seiten davon profitieren. Er hat zwar ein klein wenig sadistische Züge ..." Sie hob tadelnd eine Augenbraue und blickte den Officer streng an. „... aber mit der richtigen Führung können sie durchaus zum Nutzen der Einwandererbehörde sein." 

„Sicher hast du recht, meine Liebe. Den Sphärentrick hat er ja perfekt drauf und blitzschnell umsetzen können. Ich nehme ihn unter meine Fittiche." 

Was jetzt folgte, empfand zumindest Aristides als nicht jugendfrei. Aber er war ja auch tausend Jahre alt und nicht nur knapp hundert wie Bathilde. Zu seiner Zeit wäre so eine Zurschaustellung von Zuneigung nur hinter geschlossenen Türen erlaubt gewesen und natürlich nur mit dem vermählten Partner. Zum Glück dauerte das Ganze nicht lang. Mit einem innigen Seufzer von Bathilde trennten sich die beiden Geister, und Matthew schwebte in die Richtung davon, in die zuvor Markus verschwunden war. 

„So, was machen wir jetzt?" Mit einem halb verklärten Blick sah sie zu Aristides hinüber. 

„George Brown, wo können wir reden, ohne dass andere Menschen dich hören und sehen?" Aristides bemühte sich, die berauschte Bathilde nicht zu beachten. Solange sie so turtelig aussah, traute er nicht ihrer Zurechnungsfähigkeit. 

„Im Kellergeschoß in der Abteilung, wo ich Sie entdeckt habe." 

Aristides nickte. „Dann gehen wir am besten dorthin." Er schwebte voran. „Und es wäre wirklich sehr schön, wenn du dieses alberne Sie lassen könntest. Und Herr Keiner bin ich auch nicht. Ich heiße nicht Keiner, ich habe keinen Nachnamen." 

„Na schön", der Mensch nickte und eilte dem Geist hinterher, „aber ich heiße dann auch nicht George Brown, sondern George." 

„In Ordnung, George Br..., äh, George. Kann es sein, dass ich der erste Geist bin, den du sehen kannst?" 

„Nun, ich weiß nicht, vielleicht. Zumindest bist du der erste Geist, der mir sagt, dass er ein Geist ist." 

„Hm." 

Bathilde schwebte eilig neben den Menschen. „Aristides, frag ihn, ob er manchmal von Geistern träumt." 

„Warum? Ich bin doch kein Traum." 

„Stell dich nicht so an, frag ihn einfach!" 

„George, träumst du manchmal von Geistern?" Jetzt fiel Aristides noch etwas ein. „Du hast mich gesehen, aber nicht die Bücher, die ich getragen habe. Siehst du mich nackt oder mit Kleidern?" 

Der bestürzte Gesichtsausdruck des Menschen war irgendwie schon eine Antwort. „Du trägst etwas altertümlich wirkende Kleidung, einen Anzug, der schon mehrere Jahrzehnte alt zu sein scheint. Und vielleicht mal genäht werden müsste." 

„Genäht?" Bathilde schwebte um George herum zu Aristides und betrachtete ihn genauer. „Er hat recht. Deine Kleidung sieht arg ramponiert aus. Wo habt ihr zwei euch denn herumgetrieben? Habt ihr mit Jack the Ripper gekämpft?" Ihre Stimme nahm von Wort zu Wort einen schrilleren Tonfall an. 

„Das kommt wohl eher davon, dass wir uns tonnenweise durch Erdschichten und Asphalt bewegt haben." 

„Ach ja, wir sind Illegale", sagte Bathilde seufzend. 

„Daran habe ich auch schon gedacht." Aristides blickte besorgt. Er erinnerte sich an seine Ängste. „Die Bücher sind zerfleddert, meine Kleidung kaputt, löse ich mich auf? Ich meine, erhalten Geister ohne Einreisegenehmigung weniger sphärische Energie und lösen sie sich einfach auf? Haben sie dir davon etwas gesagt bei deiner Festnahme?" 

„Er spricht schon wieder mit den anderen Geistern", murmelte George und seufzte. 

„Natürlich nicht", sagte Bathilde mit belehrendem Tonfall. „Erstens war es keine wirkliche Festnahme, eher so eine Art Suchaktion. Ich bin eine wichtige Persönlichkeit in Anorchena. Und es hat wohl einer der Besuchergeister in der Bibliothek gehört, wie wir über London gesprochen haben. Und als ich dann nicht zum Dienst erschien, nun, da hat er mich gemeldet." 

Jetzt nahm Bathilde ein zartrosa Strahlen an. Das sah gar nicht gut aus, zumindest nicht in den Augen von Aristides. 

„Sie haben mir ein Austauschjahr vorgeschlagen", sie seufzte, „damit ich hier etwas lernen kann und unsere Bibliothek in Anorchena nicht unbeaufsichtigt ist. Und damit ich mich gleich zurechtfinde, haben sie mir Officer Matthew zur Seite gestellt." Sie seufzte lang, ehe sie mit veränderter Tonlage fortfuhr. „Natürlich habe ich gleich verhandelt." 

„Verhandelt?" 

„Ja, dass sie Markus unter ihre Fittiche nehmen. Der ist doch nur so aggressiv, weil er sich auch nach fast achthundert Jahren heimatlos fühlt. Und zu dir habe ich gesagt, dass du völlig ungefährlich bist, zumindest dieses Mal, weil du nur Bücher lesen willst. Darum dürft ihr bleiben und bekommt ebenso wie ich im Nachhinein eine Einreisegenehmigung." 

„Aber was ist nun mit dem Auflösen? Habe ich die Einreisegenehmigung schon? Bekomme ich genug sphärische Energie? Warum löst sich denn meine Kleidung trotzdem auf? Vielleicht sind als Nächstes meine Beine oder meine Hände dran!" Besorgt hob er diese an und betrachtete jeden Finger eingehend. 

George warf ihm einen sonderbaren Seitenblick zu, schwieg aber vor sich hin. Was sollte er auch sagen? Schließlich hörte er Bathildes Ausführungen nicht und wusste somit gar nicht, um was es ging. 

„So ein Unfug, eine Einreisegenehmigung hat doch nichts mit dem erbärmlichen Zustand deiner Kleidung zu tun", erklärte die belehrende Bathilde. „Wir sind hier in einer Großstadt. Da nutzt sich alles bei schlechter Behandlung wesentlich schneller ab. Überleg doch. Wie oft bist du in Anorchena durch das Erdreich geschlittert? Oder hast dich von Autoabgasen einhüllen lassen?" 

„Also löse ich mich nicht auf?", fragte Aristides mit hoffnungsvoller Stimme. Vorbei die Gefahr eines unspektakulären Hinübergehens? 

„Wenn es so einfach wäre, ins jenseitige Jenseits zu gelangen, hätte ich dir das bereits in Anorchena mitgeteilt." 

Aristides blieb stehen. „Weißt du denn jetzt, wie ich in die Nicht-Existenz gelangen kann?" 

„Hm, ich habe da so meine Vermutung." 

„Sag schon", forderte Aristides und ergriff die Bibliothekarin an den Schultern. „Los! Foltere mich nicht länger! Wie finde ich Erlösung?" 

„Aristides, hör auf, mich durchzuschütteln!" 

„Aristides, vielleicht sollten wir weitergehen", schlug der Mensch vor. „Auch wenn niemand dich sehen und hören kann, ist es für mich irgendwie sonderbar zu sehen, wie deine Arme irgendwas in der Luft zu schütteln scheinen. Dazu deine Selbstgespräche. Es wäre mir wirklich lieb, wenn wir aus dem Blickfeld aller Menschen verschwinden." 

Aristides blickte von Bathilde zu George und zurück zu Bathilde. Er seufzte. 

„Na gut, ihr habt beide gewonnen." Er nahm seine Arme herunter. „Wir gehen in den Kellerraum und reden. Obwohl ich sicher bin, dass ich das meiste reden werde. Immerhin muss ich für Bathilde Sprachrohr sein." 

„Und wo ist Markus?", fragte George nach. „Du hattest von einem Markus gesprochen." 

„Ach der, der ist längst abgehauen. Immer wenn ihm eine Schandtat nachgewiesen werden kann, haut er ab. Und Matthew ist ihm hinterher, um ihn zu beaufsichtigen." 

„Matthew ist von der Einwanderungsbehörde?" 

Bathilde seufzte innig, turtelig, ganz klar!, und Aristides rollte stöhnend mit den Augen. Dann wandte er sich George zu. 

„Ja, das hast du dir echt gut gemerkt, Matthew ist ein Officer von der Geistereinwanderungsbehörde." 

„Erstaunlich, was es so alles gibt." George blickte fasziniert. „Vielleicht sollte ich ein Buch darüber schreiben." 

Aristides und Bathilde sahen einander bestürzt an. „Bloß nicht!" 


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top