Kapitel 12
Aristides fand recht schnell zurück zur Bibliothek, denn so weit hatten Markus und er sich gar nicht wegbewegt. Hier in London war alles so unübersichtlich wegen der riesigen Gebäude, die einem die Sicht auf die wirklich wichtigen Dinge nahmen, zum Beispiel eine Bibliothek. Sie waren wohl schon zu lange nicht mehr in Großstädten gewesen und hatten ganz vergessen, wie gigantisch dort alles war.
Er stolperte ein wenig unbeholfen erneut zum Eingang der British Library herein. Dieses Mal war er wesentlich weniger ehrfürchtig, dafür wesentlich beschämter. Immer noch erstrahlte der Eingangsbereich in strahlendem Weiß. Und da kam er mit seiner zerschlissenen Kleidung und den beschädigten Büchern angeschwebt. Kein wirklich imposanter zweiter Besuch. Jedoch wusste er für dieses Mal, dass er besser nicht lange herumsuchte. Er musste einen Bibliotheksgeist befragen. Irgendjemand wusste bestimmt, wo er die kaputten Bücher abliefern konnte und wo er George Brown fand.
Im Foyer war kein einziger Geist. Wie am Vortag gab es auch nur sehr wenige Menschen, sogar wesentlich weniger. Ob das an der frühen Uhrzeit lag? Wahrscheinlich mussten alle Londoner arbeiten und hatten keine Zeit, um Bücher zu lesen. Da brauchte man natürlich nicht so viele Angestellten. Hatten sie hier überhaupt schon geöffnet?
Er flackerte unruhig und schwebte zur Anmeldestelle. Dort hielt er Ausschau nach dem Menschen, aber sein George Brown war nicht da. Die wenigen Menschen, die hier vorbeigingen, schienen ihn nicht zu sehen. Was die Frage aufwarf, warum konnte dieser eine Mensch ihn sehen?
Aristides erinnerte sich daran, wie Markus gestern herbeigestürmt war. Auf ihn hatte der Mensch nicht reagiert. Das war alles sehr merkwürdig. Allmählich wurde ihm London ein klein wenig unheimlich. Jetzt wäre er lieber zurück in Anorchena, auch wenn es dort keine Bücher gab, die ihm helfen konnten.
Langsam schwebte er mit seinen Büchern in Richtung King's Library. Irgendwo musste es einen Geist geben. Am Tag zuvor waren so viele herumgeschwirrt. Wo waren bloß immer alle Wesen, wenn man sie brauchte?
„Ah, Herr Keiner, warten Sie!", erscholl mit einem Mal eine laute Stimme hinter ihm.
Aristides fühlte sich natürlich nicht angesprochen. Er schwebte mit den ramponierten Büchern einfach weiter. Dabei hielt er Ausschau nach einem Bibliotheksangestellten. Wenn nicht bald einer auftauchte, dann flog er eben zurück in den Keller. Sollten sich die Geister hier doch die Bücher selbst holen. Vielleicht vermissten sie diese gar nicht. Er könnte sie ebenso gut einfach hier und jetzt fallenlassen!
„Herr Keiner!", rief die Stimme lauter und klang eine Spur aggressiver. „Herr Aristides Keiner!"
Jetzt horchte Aristides doch auf. Wer hieß genauso wie er? Bisher hatte er gedacht, sein Name wäre einzigartig.
Neugierig drehte er sich um und erblickte George Brown, der wild gestikulierend auf ihn zugeeilt kam. Ja, der Mensch eilte, er rannte nicht oder stürmte, er ging auch nicht, es war so eine Geschwindigkeit dazwischen. Sicher lag das an der Hausregel, dass man in Bibliotheken nicht rennen durfte. Auch kleine Kinder durften das nicht. Wenn die rennen wollten, mussten sie nach draußen gehen. Für motorisch überaktive Kinder waren Spielplätze da, nicht Büchereien. Die neumodische Erfindung von Indoorhallen fand Aristides noch angenehmer. Dort waren die tobsüchtigen Kleinen nicht nur weit weg, sondern auch in schallentfernten Räumlichkeiten. Da konnten sie toben und schreien, klettern und brüllen – und es blieb angenehm still in der Bibliothek. Diese moderne Erfindung gab es sogar in Anorchena. Auch kleine Städte hatten neumodisch-moderne Kinderspielplätze.
Bevor er wieder zu tief in irgendwelche Gedanken abdriftete, schüttelte sich Aristides und beobachtete den eilenden Menschen. Warum dieser, der einen gewissen Aristides Keiner suchte, so zielstrebig auf ihn zugesteuert kam, begriff Aristides nicht. Aber das war ihm egal. Jetzt konnte ihm George Brown auf jeden Fall helfen, die Bücher loszuwerden und an sphärischer Energie heranzukommen. Oder er wurde ausgewiesen und musste zurück nach Anorchena, wo er auch genug Energie hatte. Wichtig war nur, dass er sich nicht unspektakulär auflöste.
„Ich hätte nicht gedacht", zischte der Mensch, als er nahe genug herangekommen war, „dass Sie sich noch einmal herwagen würden. Aber da Sie nun einmal hier sind, holen wir nach, was uns gestern nicht mehr möglich gewesen war."
„Äh ... könnten wir die Resublimierung vielleicht verschieben?", fragte Aristides höflich. „Ich würde gern einen Angestellten finden, dem ich die Bücher geben kann."
„Bücher?" George Brown runzelte die Stirn. „Haben Sie auch noch Bücher mit nach Hause genommen? Die sind gesichert. Da wären Sie nie durch die Kontrollen gelangt."
Aristides zog eine Augenbraue hoch. „Ich meine diese Bücher hier." Er nickte mit dem Kinn nach unten. „Ich habe sie mir ... äh ... ausgeliehen. Und sie haben wohl den weiten Weg nicht so wirklich vertragen."
„Diese Bücher?" George Brown verengte die Augen. „Und gleich werden Sie mir wieder sagen, dass das hier alles nicht sein kann, weil kein Mensch Sie sehen kann."
Aristides seufzte. Allmählich begriff er. Dieser Mensch konnte die Bücher nicht sehen, so wie er Markus nicht gesehen hatte. Aus welchen Gründen auch immer waren geisterhafte Dinge für ihn unsichtbar – außer er selbst. Vielleicht musste er es auf die harte Tour erklären.
„George Brown, bitte bekomm jetzt keinen Schreck. Aber ich bin ein Geist und kein Mensch", erklärte Aristides mit Nachdruck. Dann schwebte er ein Stück nach oben, sodass er auf Bauchhöhe des Menschen schwebte.
Der Mensch riss vor Verblüffung die Augen auf. Statt erschreckt zu wirken, bückte er sich interessiert und fuchtelte unterhalb von Aristides Schuhen mit den Händen herum. Danach ging er um ihn herum und schüttelte dabei den Kopf.
„Unglaublich. Was für ein genialer Trick." Er stellte sich dicht vor Aristides. „Ich weiß zwar nicht, wie diese Illusionszauber funktionieren, aber der von Ihnen ist richtig gut."
„Ich bin kein Illusionist", erklärte Aristides genervt und schwebte wieder nach unten, „ich bin ein tausendjähriger Geist."
„Ja klar", erwiderte George Brown und grinste breit. „Das dürfen Sie gleich dem Sicherheitsdienst erklären. Da gehen wir nämlich jetzt gemeinsam hin. Bevor Sie mir davonschweben."
Aristides rollte mit den Augen. Wie konnte der Mensch nur so hartnäckig bestreiten, was er soeben gesehen hatte? Wo war das bitte eine Illusion gewesen? Er ärgerte sich. Wie hatte er denken können, dass ihm der Mensch bei seinem Auflösungsproblem helfen konnte?
„Was mache ich mit den Büchern?"
„Den Büchern?" George Brown runzelte die Stirn. Dann aber grinste er wieder und nickte. „Ah verstehe, die Bücher."
Warum bekam Aristides das Gefühl, als ob der Mensch ihm nicht glaubte und nun nur so tat, als würde er ihm glauben?
„Die Bücher dürfen Sie auf den kleinen Wagen dort drüben stellen. Dann werden sie später von Mitarbeitern der Bibliothek wegsortiert. Als kleiner Tipp. Normalerweise lässt man die Bücher auf dem Tisch liegen, wo man mit ihnen gearbeitet hat. Sonst ist das Mehrarbeit für uns Angestellte. Wobei ich zum Glück kein Problem mehr damit habe, da ich für die Kellergeschosse eingeteilt bin."
„Für die Kellergeschosse?" Jetzt war Aristides verwirrt. Immerhin waren sie hier noch sehr weit von den Kellerebenen entfernt.
„Ja, ich war auf dem Weg dorthin, als ich Sie gesehen habe." Er berührte Aristides am Rücken und schob ihn mit leichtem Druck zu dem Bücherwagen. „Na kommen Sie, legen Sie die Bücher ab, dann gehen wir weiter und Sie können Ihren Schwebetrick den Kollegen vom Sicherheitsdienst zeigen. Die sind davon sicher genauso begeistert wie ich."
„Wahrscheinlich nicht", murmelte Aristides und seufzte.
Er legte die Bücher auf dem Karren ab und schwebte neben dem Menschen her. Es dauerte noch ein wenig, bis in seinen Kopf vorgedrungen war, dass der Mensch ihn berührt und geschoben hatte. Fassungslos klappte ihm die Kinnlade nach unten. George Brown konnte ihn nicht nur sehen, er konnte ihn auch anfassen!
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